Ziemlich zügig nach der dänischen DVD-Auswertug kam HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT / RETFÆRDIGHEDENS RYTTERE (2020, wörtlich: Die Reiter der Gerechtigkeit) des dänischen Drehbuchautors Anders Thomas Jensen ab 23.9. in die deutschen Kinos. Jensen ist eine der besten Drehbuchautoren Dänemarks. Vielleicht sogar der, über einen langen Zeitraum betrachtet, beste. Das hängt auch mit seiner ganz funktionalen Anpassungsfähigkeit an das Universum von Regisseuren zusammen. Man schaue sich einmal an, mit wem er Drehbücher verfasst hat, wie er in vielleicht brillante, aber etwas unzusammenhängende Ideen ausreichend Form und Struktur gebracht hat. Lars von Trier machte ihm ja vor vielen Jahren das zweischneidige Kompliment der zu großen Perfektion. Nur um 2007 mit ihm für ANTICHRIST (2009) zusammenzuarbeiten, weil er nicht weiter wusste und die Geldgeber ein Drehbuch sehen wollten.
Anders Thomas Jensen hat auch einige Regiearbeiten auf seinem Konto. Aber mit denen konnte ich in all den Jahren oft nicht viel anfangen. Da war ein Mangel an authentischen Emotionen, eine Vorliebe für das Krude um des Kruden willens, aber meistens intellektuell aufgemöbelt, und vor allem ist da eine gewisse Künstlichkeit, die Distanz schafft selbst bei einem so realistischen Film wie ADAMS ÄPFEL (2005). Höhepunkt dieser Perfektion der Künstlichkeit, gebaut um eine Idee, ist MEN & CHICKEN (2015). Dabei handelt es sich durchaus um einwandfrei konstruierte Drehbücher und ausgezeichnete Darsteller. Immer wieder Mads Mikkelsen beispielsweise, der jetzt im aktuellen Film neben Nikolaj Lie Kaas, Lars Brygman und Nicolas Bro auch dabei ist.
Die vier
brillant harmonierenden Darsteller spielen ausgebrannte mittelalte
Männer, die langsam ergrauen. Einmal drei leicht autistische
Computerexperten, die sich so sehr für Mathe, Logik,
Wahrscheinlichkeit interessieren, dass sie mit der Zukunft als
Grenze, aber nicht mit praktischer Hinsicht auf die Firma, bei der
sie angestellt sind, arbeiten. Sie werden gefeuert. Otto ist der
unausgesprochene Wortführer. Er nimmt nach der Entlassung, wie
immer, eine S-Bahn nach Hause, allerdings zu einem anderen Zeitpunkt
als sonst. Gerade, als er einer Frau und Mutter seinen Platz am
Fenster rechts angeboten hat, reißt eine Feuerwalze mit Explosion
die rechte Hälfte mitsamt der dort sitzenden Passagiere mit.
Der von Mikkelsen gespielte Vater ist Teil einer Spezialeinheit beim dänischen Militär und gerade in einem Auslandseinsatz. Er hatte schön länger durch seine Abwesenheit und seine brütende Stille den Kontakt zur Familie verloren. In diesem ersten Teil des Films geht es um Familie, Tod, Trauer und die Frage des Zufalls, vielleicht auch des Willen Gottes. Otto wird besonders von Schuldgefühlen geplagt und hat das dringende Bedürfnis, eine konkrete Ursache zu finden. Ein Anschlag beispielsweise wäre da nach menschlicher Betrachtungsweise einem Unfall vorzuziehen. Und so wird er zum Sherlock-Holmes-Nerd und trägt mit seinen Nerd-Freunden Indizie für Indizie zusammen, bis er einen Schuldigen gefunden hat: Eine hoch-kriminelle Rockerbande. Dass übrigens das mathematische Problem der Wahrscheinlichkeit im theoretischen Mittelpunkt steht, darauf verweist ja auch schon der eher abschreckende deutsche Titel mit tiefschürfender Weisheit.
Supersoldat Markus kommt jetzt ins Spiel. Der ist schließlich Krieger, hadert mit dem gottlosen Zufall und hat genug Aggressionen in sich, um die Gewalt, die ja sein Geschäft ist, endlich für einen gerechten Zweck zum Ausbruch kommen zu lassen. Und jetzt sind ja alle Handlungsstränge zusammengekommen, um als Mischung aus absurd-schwarzer Komödie, Actionrachethriller, Psychologiesatire, Familiendrama weitergeführt zu werden. Passend dazu liegt die Stimmung der dänischen Spätherbstlandschaft über allem. Vater und Tochter wohnen in einem abseits gelegenen Haus mittendrin: Farblos dunkles, ausdrucksloses Grün, Braun. Ödnis über den Feldern mit ihren Stoppeln. Und natürlich gibt es Action, Morde – vielleicht besser gesagt regelrechte Hinrichtungen – und davon eine ganze Menge. Vom Inhalt wirkt das scheinbar alles rettungslos überfrachtet, aber in der praktischen Umsetzung bekommt es eine selbstverständliche Natürlichkeit, die dafür sorgt, dass alles harmonisch im Gleichgewicht ist und einem die Einzelteile nicht um die Ohren fliegen.
Am Schluss ist alles ganz ruhig und idyllisch. Die kalte Landschaft wird von Schnee bedeckt. Wir wohnen dem Heiligabendfrieden der gesamten neuen Wahlfamilie bei, was ironisch-schön wirkt, aber eher mit Betonung auf schön. Männer in innovativen Weinachtpullis. Weiße Weihnachten, verschneite Straße, Flocken fallen herab. Und Weihnachten wird Fahrrad gefahren. Und da fällt einem diese Rahmenhandlung um einen Fahrraddiebstahl an, der nicht nur Ost- und Westeuropa globalistisch vereint, sondern der überhaupt die Routine bei Mutter und Tochter erst durcheinander gebracht hat. Weshalb sie auch in der S-Bahn waren zu diesem bestimmten Zeitpunkt. Aber wie soll der Mensch solche Zugsamenhänge erkennen? Und überhaupt: wozu auch? Deshalb sollte man es lieber gleich sein lassen, denn immer wieder läuft es auf den einen bekannten Satz hinaus: Der Mensch denkt, Gott lenkt.