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Sonntag, 30. August 2020

Christina Rosendahls VORES MAND I AMERIKA – Diplomatie

Der dänische Film VORES MAND I AMERIKA / THE GOOD TRAITOR (2020) von Christina Rosendahl handelt von Henrik Kauffmann (1888-1963). Der war 1939-1958 dänischer US-Botschafter in Washington und verweigerte ab 9. April 1940 der dänischen Regierung wegen der, bis zum 9. August 1943 durchgeführten, Zusammenarbeitspolitik mit den deutschen Besatzern den Gehorsam. Es ist ein echter Filmstoff, aber eben auch einer, der an dänischen Lebenslügen kratzt, wie dies ja schon Anfang des Jahres Anders Refn mit seinem Film DE FORBANDEDE ÅR / INTO THE DARKNESS (2020) getan hat.

Das Wichtigste an der Rezeption des neuen dänischen Films ist, keine falschen Erwartungen zu haben. Denn Rosendahls letzter Spielfilm DER IDEALIST – GEHEIMAKTE GRÖNLAND (2015) war ein waschechter Politthriller im Stil von Mike Nichols' SILKWOOD (1983) mit radioaktiv verstrahlten kranken Opfern und einem einsam ermittelnden Journalisten, den sowohl die dänischen als auch die US-amerikanischen Behörden von seiner Arbeit abhalten wollen. Ihr neuer Film jedoch ist reine Politik. „Diplomatie“ könnte dieser Film viel besser heißen als Volker Schlöndorffs mittelmäßige Theaterverfilmung, die bei genauerer Betrachtung ein geschicktes französisches trojanisches Nationalismuspferd ist. VORES MAND I AMERIKA ist ein Film über die Möglichkeiten von Diplomatie in Kriegs- und Krisenzeiten. Und es ist ein Film über die Rolle des Privaten und Persönlichen in diesen nur scheinbar so sachlichen und unpersönlichen Staatsangelegenheiten.

Hauptdarsteller Ulrich Thomsen verkörpert den Diplomaten Henrik Kauffmann, der Weitsicht, Brillanz, aber auch die diplomatisch notwendige Undurchsichtigkeit und stille Dreistigkeit eines Pokerspielers besitzt. Er ist ein sachlicher Mensch, der sicher nicht ohne Kalkül die für ihn beruflich nützliche Frau geheiratet hat, aber in die hübschere Schwester verliebt ist. Der Film zeigt eine stille versteckte Liebesgeschichte, fast im Stile einer Pennälerstory: Küsschen im Wald, Händchenhalten hinter dem Haus, Erinnerung an Vergangenes in China. Die Ehefrau liebt ihn nicht zuletzt für seine Brillanz, seine Gewinnerausstrahlung, aber das raubt ihr fast den Verstand. Kauffmann hat eingeheiratet in eine beziehungsreiche US-Familie, die privaten Zugang zu Präsident Roosevelt garantiert. Hier werden, untrennbar miteinander verflochten, Welt- und Ehegeschichte gleichzeitig erzählt. Und die Protagonisten genießen ja auch das schöne, angenehme, reiche Leben in Washington. Wie in DER IDEALIST verzichtet Rosendahl auf eine Heldengeschichte. Die Hauptfiguren sind hier wie dort ganz mit ihrem Beruf verheiratete Männer, die einfach tun, was ihrer Meinung nach getan werden muss.

Der Film beginnt gleich mit Kauffmanns Ende, auch wenn die Szene durch die Haupthandlung unterbrochen und erst am Ende fortgesetzt wird. Die Sterbehilfe für den Krebskranken durch die Ehefrau wird also zunächst angedeutet. Es ist trotz allem bis zum Schluss eine enge Ehe. Rosendahls Film konzentriert sich ansonsten vor allem auf die 18 Monate, in denen Kauffmann ganz alleine ist und nur einen engen juristischen Mitarbeiter und seine ihn unterstützende Frau auf seiner Seite hat. Die USA sind offiziell neutral. Es ist schwer, von dort Unterstützung zu bekommen. Aber Kauffmann nutzt die wichtigste Waffe des Diplomaten: Denken, Planen, Pokern. Er ist seinen Gegnern immer einen Schritt voraus. Alles wird berechnet, das Kleine und das Große. Es ist eine Politik der kleinen Schritte kombiniert mit weitsichtigem Denken und „gamble“, wie ihn die Ehefrau anstachelt. So bekommt er tatsächlich Zugang zu in den USA gelagertem dänischem Gold, mit dem er andere störrische dänische Botschaften unterstützt, damit sie durchhalten können. Rosendahl bleibt dankenswerterweise konsequent in einem von Worten dominierten Halbdunkel der Diplomatie und wählt keine einfache Zugänglichkeit und Popularisierung.

Aber am 7. Dezember 1941 hat Kauffmann durch den Überfall auf Pearl Harbor und den anschließenden Kriegseintritt der USA endgültig den Rücken frei. Bis dahin ist es eine intensive Zeit, sehr spannend, vorausgesetzt, dass man die Abstraktionen, die hinter konkreter Politik stecken, spannend findet. Im Gegensatz zu DER IDEALIST gibt es hier keine Einblendung visuellen Archivmaterials. Rosendahl beschränkt sich ganz auf passendes historisches Audio-Material, Radio-Material, das aktuellste Nachrichtenmedium jener Zeit. Das ist eine sehr passende Entscheidung der Regisseurin, denn es verdeutlicht nicht nur die Ferne zum Geschehen, es lenkt auch nicht ab von den Worten. Denn wortreich ist der Film.

Nach Kriesgende wird Kauffmann von den Menschen in Dänemark bejubelt und die Regierung hat er in der Hand. Deren Versuch, ihn auf einen Posten in ein anderes Land abzuschieben, scheitert kläglich. Dieser dänische Jubel ist aber auch das erste Mosaik im Widerstandsmythos der Nachkriegszeit, der die Zusammenarbeit irgendwie verdecken helfen soll. Der Nicht-Widerstand der Dänen war eine logische Fortsetzung der Neutralitätspolitik, die man schon im Ersten Weltkrieg eingenommen hatte und für die jemand wie Churchill nur Verachtung hatte. Und Kauffmann hat ja Dänemark mit seiner Politik Respekt für die Nachkriegszeit verschafft, die das Land sonst vielleicht nicht gehabt hätte. Aber einen hohen Preis zahlte er im Namen Dänemarks. Er unterschrieb während des Krieges einen Vertrag, der den USA ein nicht kündbares Nutzungsrecht auf Grönland, auch über den Krieg hinaus, garantierte. Auch heute noch gibt es bekanntlich den Thule-Luftwaffenstützpunkt, der übrigens in dem neuen Kometen-Apokalypsefilm GREENLAND (2020) mit Gerald Butler auch im Mittelpunkt steht. Auf die Art sind denn auch DER IDEALIST und VORES MAND I DANMARK inhaltlich eng verbunden, denn schließlich ist das, was in VORES MAND I AMERIKA passiert, die Voraussetzung für das, was 1968 aufgrund eines US-Flugzeugabsturzes geschehen wird.

Dienstag, 11. August 2020

Mika Kaurismäkis MASTER CHENG IN POHJANJOKI – Gesundkochen

MASTER CHENG IN POHJANJOKI (2019) ist der neue Film des Finnen Mika Kaurismäki, der ein bisschen wie Wim Wenders in all den Jahrzehnten seiner Karriere von einem nationalen Indie-Regisseur zum Weltregisseur wurde und den es auch schon in die USA verschlug. Beide haben übrigens Filme über brasilianische Musik gemacht. Wenders seinen bekannten BUENA VISTA SOCIAL CLUB (1999) und Kaurismäki BRASILEIRINHO (2005). Mit MASTER CHENG holt Kaurismäki jetzt in Gestalt eines chinesischen Kochs aus Shanghai die Welt nach Finnland.

MASTER CHENG ist einer dieser Filme, gegen die man nichts haben kann, aber man kann auch nicht so viel wirklich Überzeugendes für sie sagen, was einer der Grundvoraussetzungen für allgemeines Gefallen zu sein scheint. So sahen es jedenfalls viele Zuschauer der Nordischen Filmtage 2019 und wählten Kaurismäkis aktuelles Werk zum Publikumsliebling, was den werbeträchtigen Publikumspreis bedeutet. Dazu gehörte ich nicht, denn auf den Filmtagen habe ich den Film nicht gesehen. Da ja begrenzt ist, was man gucken kann und ich mich vollständig durch die schöne Retrospektive geguckt habe, ließ ich MASTER CHENG mit der Überlegung aus, dass Filme mit Kochen und ein bisschen nicht zu scharf gewürzter Multikulti-Soße darüber sowieso immer den Weg in unsere Kinos finden. Und da habe ich mich doch einmal nicht geirrt.

Der Film handelt von einem Chinesen, der auf der Suche nach einem bestimmten Mann in ein kleines nordfinnisches Dorf kommt, dort in der Dorfschenke strandet, brav deren Wurst mit pampigem Kartoffelbrei isst, dann selbst den Kochlöffel schwingt und der jungen, hübschen Besitzerin nicht nur zum ersten Mal vernünftigen Gewinn beschert, sondern das ganze Dorf gesund macht. Am chinesischen Wesen kann also die Welt körperlich genesen. Genau die richtige Botschaft in einer Zeit, wo der chinesische Wirtschaftsimperialismus sich mit unbegrenzter staatlicher Unterstützung durch die ganze Welt und vor allem westliches Technik-Know-How frisst. Aber man sollte bei so einem harmlos-hübschen Film jetzt nicht politparanoid werden. Gegen gesundes chinesisches Essen und Schattenboxen ist ja nichts einzuwenden, aber andererseits ist deren Anpreisung auch nicht sonderlich originell, da bei einem städtischen Kinopublikum die im Film verbreiteten Weisheiten ja eigentlich sowieso zur Allgemeinbildung gehören.

Auf der anderen Seite der Story taut der etwas verkniffene, vom Großstadt-Stress geplagte und im Dauerclinch mit seinem genervten kleinen Sohn liegende Koch am finnischen Wesen auf und entspannt ganz menschlich durch Sauna, Wodka, Liebe und die finnische Weite. Da wird Kaurismäki dann mal ganz authentisch volkstümlich, so wie beispielsweise bei dem dicken Furz, dessen prötendes Echo bei einem bestimmten Gast immer vom Klo her durch das ganze Lokal weht. Wichtig jedenfalls ist, dass am Ende alle glücklich sind. Feelgood-Kino eben. Mit dem Begriff wird ja sogar Werbung gemacht, was heißt, dass er auf die Menschen etwas Anziehendes hat. Da das bei mir nicht der Fall ist, stehe ich also vor einem kultursoziologischen Problem, das ich zu lösen versuchen sollte. Und gerade am Tag zuvor hatte ich THE SECRET – TRAUE DICH ZU TRÄUMEN (2020) gesehen, einen „Positive Thinking“-Film, im Grunde ebenfalls Feelgood-Kino, auch wenn dieser eher als Bestseller-Verfilmung vermarktet wird, aber ich nehme an, dass die Vorlage als echtes Feelgood-Buch verfasst wurde.

In Feelgood-Filmen, wie auch in MASTER CHENG, passiert ja nicht übermäßig viel. Es gibt viel vorhersehbaren Leerlauf. Also hatte ich während MASTER CHENG genug Gelegenheit, mit „Bruchstücke einer Theorie des Feelgood-Kinos“ zu beginnen, um festzustellen, dass solche Filme nicht weniger kühl durchkonstruiert sind als ein Blockbuster-Franchise-Schinken. Es wird konsequent nie zu dramatisch, tragisch oder Ähnliches. Die Handlung löst sich gerne im Wohlgefallen auf, so wie bei dem Waldspaziergang des Sohnes in MASTER CHENG, der ganz kurz mystisch-bedrohlich aufgeladen wird, um dann abzubrechen, ein paar Einstellungen lang künstliche „Das Kind ist weg“-Spannung aufbaut, um den Kleinen sofort wieder auftauchen zu lassen. Zu viel geistige Anstrengung oder Aufregung bei der Rezeption würde das Fühlgut-Gefühl stören. Der Pegel darf niemals zu weit nach oben oder unten ausschlagen. Gemüt, Herz und Sinne dürfen nicht überanstrengt werden.

MASTER CHENG und THE SECRET haben übrigens erstaunlich viel gemeinsam. Es kommt ein Mann von außen und macht eine Gemeinschaft, ganz besonders einen bestimmten weiblichen Menschen, glücklich. Hier ist es eine Familie, dort eine ganze Dorfgemeinschaft. Im Grunde ist er der berühmte Prinz, der Aschenputtel an ihren rechtmäßigen Platz versetzt. Man sieht, dass hier auf direkt revolutionäre Art und Weise Elemente der rückschrittlichen Gender-Theorie unterlaufen und sabotiert werden. In solchen Filmen kann man durchatmen und sich erholen von den menschenfeindlichen bürokratisch-technokratischen Ideologien, die die westliche Welt durchwabern. Hier ist die Welt noch so, wie sie sein sollte. Und dazu gehört Betulichkeit. Wie am liebsten im wahren Leben. Denn wer will im wahren Leben schon Kinoaufregung erleiden?

Fortsetzung folgt... (Der nächste Feelgood-Film kommt bestimmt.)

Freitag, 7. August 2020

Ulaa Salims SONS OF DENMARK – Verquerer Humanismus


Auf dem Papier ist Ulaa Salims dänischer Film SONS OF DENMARK (2019, Danmarks Sønner) eine Art Dystopie-Thriller der ganz nahen Zukunft. Ein paar Jahre nach einem islamischen Terror-Bombenattentat hat in Dänemark eine extreme rechte Partei die Chance, den Ministerpräsidenten zu stellen. Der hat Ausweisungen, Rückführungen, Entzug der Staatsbürgerschaft und andere Maßnahmen in Aussicht gestellt. Eine Gruppe junger Moslems will diesen töten, aber es geht schief wegen eines Undercover-Ermittlers der Polizei, dem aber nach und nach die wahre Natur dieses Politikers klar wird. „Söhne Dänemarks“, die Gruppe vom Filmtitel, der auf Deutsch noch den Zusatz BRUDERSCHAFT DES TERRORS bekommen hat, sind eine Vereinigung gewalttätiger, mörderischer Rechtsextremer, die im Laufe des Films von der Polizei abgehört werden und im Geheimen mit dem von Rasmus Bjerg gespielten Politiker verbunden sind. Im Film erfüllen sie nur eine Funktion als böse Dämonen und bleiben abstrakt gesichtslos.

Zunächst einmal ist der Film ziemlich langweilig, und es ist sehr schnell die Luft raus aus der Story. Nach einer halben Stunde spätestens quält sich die restliche Zeit der insgesamt zwei Stunden Überlänge nur so dahin. Der gesamte Genreteil ist aus lieblosen Versatzstücken zusammengezimmert. Der ganze Polizeiteil knarrt zusätzlich bedenklich wegen der hölzernen und vorhersehbaren Klischees. SONS OF DENMARK ist nur interessant für Radikale und das mit ihnen sympathisierende Kulturbürokratiepublikum, das sofort bei jeder Bestätigung seines Weltbildes jubelt. Aber die Debatte um den Film ist ganz interessant.

Der Film war gleich bei seiner Premiere in Dänemark umstritten. Man muss dazu noch ergänzen, dass es in Dänemark die Erscheinung des durchgeknallten und höchst unsympathischen Rechtsaußen-Außenseiters Rasmus Paludan und seiner Partei „Strammer Kurs“ gibt. Paludan holt sehr erfolgreich mit provokanten Aktionen das Böse in leicht aufzustachelnden Einwanderergruppen heraus. Ich habe keine Lust, ins Detail zu gehen, aber es handelt sich dabei um geschmacklose, überflüssige Aktionen, die Paludan  auch schon vor den Kadi und ins Strafregister gebracht haben.

Jedenfalls rezensierte Alex Ahrendtsen, ein Parlaments-Abgeordneter der national-konservativen Dänischen Volkspartei, SONS OF DENMARK für die Tageszeitung Berlingske und bezeichnete den Film sinngemäß als Aufruf zum Mord und als gefährlich und propagandistisch. Vor allem sei er gefährlicher als Rasmus Paludan, womit der Politiker von einem staatspolitischen Standpunkt aus gesehen durchaus Recht hat, denn Paludan ist ein erfolgloser Politiker. Filmregisseur Salim wollte sich in keine detaillierte Diskussion einlassen und redete bloß etwas vom Humanismus des Films und dass Ahrendtsen mit seinen Aussagen nur ein Beleg für die Radikalisierung der Gesellschaft sei.

Problematisch und propagandistisch ist der Film aber tatsächlich. Die Ausführung ist voller Widersprüche, Verdrehtheiten und einem in ihrer ganzen Grundlage vereinfachenden Weltbild. Islamischer Terrorismus ist hier die Sache von bloß „ein paar Idioten“ und an sich überhaupt kein Problem. Salim hat in der Beziehung ein ganz und gar nicht humanistisches Einfühlungsproblem. Eine Art Empathieverweigerung macht sich da bemerkbar: Der Freund des am Anfang bei dem Anschlag getöteten Mädchens taucht am Ende noch einmal ganz kurz auf als rechtsextremer Mordbube. Für ihn interessiert sich Salim also nur noch in Form von dieser einen einzigen Alibi-Großaufnahme. Mehr ging ja auch nicht, denn würde man mehr über den Weg dieses jungen Mannes wissen, dann wäre die uneingeschränkte und kategorische Entmenschlichung und Dämonisierung des Gegenübers nicht mehr möglich.

Und überhaupt ist das Ganze im Grunde keine Zukunftsvision. Denn eigentlich ist in SONS OF DENMARK die Gegenwart gemeint. Der rechtsextreme Politiker ist ja ein Wolf im Schafspelz, einer, der mit einem Lächeln und schönen Worten seine wahre Natur der Gewalt und des Mordes verbirgt. Aber genau das wirft man ja an sich allen Vertretern national-konservativer Parteien vor. So wird die scheinbare Dystopie eigentlich zur Utopie, die endlich die Anwendung von Gewalt erlaubt. Endlich hat man eine Rechtfertigung, eine ideologische und logische Untermauerung für Gewalt. Denn die Wölfe in Schafspelzen muss man töten, damit nichts Schlimmeres passiert. Wohlgemerkt! Das hier ist reine Theorie aufgrund Inhalt und Struktur des Films. In der Praxis ist er einfach zu langweilig, um tatsächliche Wirkung zu haben.

Dabei ist Salim eigentlich ein wirklich spannender und interessanter Regisseur, der mit seinen Kurzfilmen über Familie, Freundschaft, Liebe ein echtes Talent für das Intime gezeigt hat. Auch SONS OF DENMARK enthält in großen Teilen eine Familiengeschichte, der aber die Authentizität seiner Kurzfilme fehlt. Bei EKKO Shortlist kann man vier von Salims Kurzfilmen sehen, jeder auf seine Art sehr schön: UNG FOR EVIGT (2012, Jung für immer), DET RENE HJERTE (2014, Das reine Herz), VORES FÆDRES SØNNER (2016, Die Söhne unserer Väter) und den Abgangsfilm von der Filmhochschule FÆDRELAND (2017, Vaterland). Besonders FÆDRELAND und UNG FOR EVIGT zeigen eine bemerkenswerte dramaturgische Kunst der Verdichtung, vermischt mit poetischen Qualitäten. FÆDRELAND erzählt in 30 Minuten den Besuch eines sehr dänisch gewordenen Sohnes bei seinem Vater in Jordanien, der als Einwanderer Dänemark enttäuscht wieder verließ. UNG FOR EVIGT zeigt in 15 Minuten sehr innerlich und bewegend eine junge Beziehung vom Ende bis zum Anfang.

Mittwoch, 5. August 2020

SUICIDE TOURIST – ES GIBT KEIN ENTKOMMEN – Flucht in den Tod


© dcm

Der dänische Film SUICIDE TOURIST – ES GIBT KEIN ENTKOMMEN (2019, Selvmordsturisten) ist Jonas Alexander Arnbys zweiter Spielfilm nach dem erfolgreichen poetischen Horrorfilm WHEN ANIMALS DREAM (2014, Når dyrene drømmer), in dem ein junges, empfindsames Mädchen zum wilden Tier wird. Von der Mutter vererbte Wildheit, die sich als Reaktion auf Unterdrückung sowohl in Form reiner Berserkerwut als auch in Form einfachen, verzweifelten Überlebenskampfes äußert. Das war ein physischer, sehr direkter Film mit Themen wie Metamorphose und dem Tierischen im Menschen. SUICIDE TOURIST, der zunächst verkopfter, abstrakter, distanzierter wirkt, ist in mancher Hinsicht das genaue Gegenteil, und doch gibt es eine tief gehende Gemeinsamkeit.

Ganz im Mittelpunkt des Films steht der von Nikolai Coster-Waldau gespielte Max, ein sehr korrekter Versicherungskaufmann, glücklich verheiratet, aber mit einem unheilbaren bösen Hirntumor, der sich bald physisch und psychisch bemerkbar machen wird. Das Wachsen des Tumors, so gibt ihm der Arzt zu verstehen, heißt Veränderung des Verhaltens, des Denkens, der Sprachfähigkeit. Es geht im Kern also auch hier, wie in WHEN ANIMALS DREAM, um Metamorphose, um Veränderung, allerdings in die entgegengesetzte Richtung, in Richtung Auflösung, Zerfall, Tod.

Unabhängig von der beunruhigenden Aussicht des nahen Todes, ist es vor allem das, was Max Angst macht. Angst vor dem Verlust des Ichs oder dessen, was man dafür hält. So viel Angst, dass er versucht, sich umzubringen, aber er ist ein totaler Selbstmord-Versager, was eine Art unterkühlten Slapstick-Humor in den Film bringt. Jedenfalls stellt Max fest, dass es in Wirklichkeit gar nicht so einfach ist, sich umzubringen. In seiner Panik bucht er ein geheimnisvolles Hotel in den Gebirgen, das auf äußerst luxuriös-harmonische Sterbehilfe spezialisiert ist. Sterben wie verträumtes Einschlafen. Das zumindest ist die Theorie, auch wenn sich nach und nach das Erlebte in einen verwirrten Alptraum verwandelt. SUICIDE TOURIST ist also alles andere als ein propagandistischer Film für solche eine Art von reisender Sterbehilfe, fernab von allem Vertrauten und allen Nahestehenden.

Arnby liefert keine chronologische Erzählung. Ständig wechseln die verschiedene Ebenen der Zeit und des Raumes. Zunächst erscheint das Seltsame einfach wie eine freie Poetisierung und Surrealisierung der Wirklichkeit, doch dann löst sich die innere Logik der Geschichte immer mehr auf. Phantasie, Traum, Wirklichkeit lassen sich nicht mehr unterscheiden. Aber Arnby lässt diese Atmosphäre nicht siegen, denn am Ende geht es hier darum, aus ihr herauszukommen. Ironischerweise bekommt die Erzählung gerade durch die totale Desintegration wieder Boden unter den Füßen. Der Kreis kann sich schließen, und es tauchen wieder Logik und Bedeutung auf.

SUICIDE TOURIST bedeutet vor allem auch einen Triumph des Dekors, der Art Direction. Immerhin war Arnby Art Director etwa bei Lars von Triers DANCER IN THE DARK (2000). Alles strahlt am Anfang Ruhe und Perfektion, aber auch eine gewisse Fremdheit, aus. Spielte WHEN ANIMALS DREAM viel an der frischen Luft und an Originalschauplätzen, ist der neue Film durch und durch künstlich, artifiziell, selbst die Berglandschaft, in der das Sterbehilfe-Hotel liegt, wirkt teilweise überperfekt. Dieses Hotel hat eine scheinbar angemessene Dahinscheiden-Atmosphäre, geeignet für ein Hinübergleiten, ohne dass man es merkt, also gewissermaßen ohne ans Sterben zu denken. So angemessen und perfekt, dass es schon wieder unheimlich erscheint.

Arnby bewegt sich hier auf den Spuren von Lynch oder Winding Refn, aber vor allem von denen von Gore Verbinskys viel zu wenig gewürdigtem Meisterwerk A CURE FOR WELLNESS (2016). Zumindest sollte es mich wundern, wenn dem nicht so ist. Leider hat SUICIDE TOURIST bei allen Qualitäten ein bisschen die Korrektheit und Steifheit der Hauptfigur in sich aufgesogen. Es ist ein Film zum Zugucken, zum Analysieren, zum Rätseln, der den Zuschauer aber etwas unbeteiligt lässt, und ich habe bei mir selbst irgendwann eine gewisse Ungeduld registriert, aus dieser Statik herauszukommen. So gesehen ist der Film in seiner Methode natürlich sehr erfolgreich, denn meine Empfindung spiegelt im Prinzip das Denken und die Emotionen der Hauptfigur gegen Ende des Films wieder.


© dcm