Anori (Nukâka)
© Karitas Production (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
Eine
harmonische Liebesgeschichte. Ein Liebesthriller. Eine alte
Eskimolegende über den dämonischen,
eifersüchtigen, nur scheinbar besten Freund.
Eine große Tragödie über Liebende, die
sich im Totenreich verfehlen und von denen einer einsam in die
Ewigkeit des Schnees hinauswandert. All das
ist der grönländische Film ANORI
(2018), der auf den Nordischen Filmtagen
Lübeck zu sehen war, gleichzeitig. Ein Film,
der sich dabei nicht in Folklorismus oder
in der grönländischen Landschaft verliert, auch
wenn diese in all ihrer Schönheit Teil der Handlung ist, sondern
vor allem eingebettet
ist im traditionellen
Denken, wo der Mythos nicht einfach die
Wirklichkeit erklärt oder verarbeitet, sondern wo es keine Trennung
gibt, wo Mythen und Legenden die Wirklichkeit sind, die wir täglich
erleben. All dies verwebt Regisseurin
Pipaluk Kretmann Jørgensen in einem mal
angenehm, mal düster poetischen Film, der psychologische Denk-und
Erklärungsmuster auf ziemlich deutliche Weise dekonstruiert und
direkt denunziert. Dabei wurde ein Großteil der Handlung nach New
York gelegt, dadurch wird die Legende noch mehr über die Begrenzung
der grönländischen Provinz hinausgehoben und bekommt so ihre
universale Bedeutung.
Alles
beginnt mit einem Unfall auf
hoher See bei der grönländischen Küstenwache. Bei einer
Rettungsaktion wurde jemand schwer unterkühlt. Das Opfer ist nicht
bei Bewusstsein und kommt nach New York. Die Ehefrau wird angerufen. Die fliegt nach New York, wo der beste Freund schon wartet, der bei
dem Unfall anwesend war, aber einfach nicht weiß, wie es dazu kommen
konnte. Sie ist so dankbar, dass er das Leben ihres Mannes gerettet
hat. Die
weibliche Hauptfigur ist Künstlerin, in einer ätherischen Mischung
aus Stärke und Zerbrechlichkeit verkörpert von Nukâka Coster-Waldau. Sie singt, tanzt,
tritt auf. Immer wieder tanzt sie, weiß gekleidet, den eigenen
Namen, Anori, den „Wind“. Kunst liegt in der Familie. Die Mutter
beherrscht den alten Maskentanz. Es folgen zwei Rückblenden, aus
zwei verschiedenen Perspektiven, aber nicht als formale Übung,
sondern um zwei unterschiedliche Blicke auf die Welt zu zeigen, um
den Schleier der Harmonie langsam, aber unerbittlich wegzuziehen. Zunächst wird die
Geschichte des Liebespaares erzählt, sehr harmonisch. Aber dann
folgt die Sicht des Freundes, wo sich zwischen dem, was er erzählt
hat und dem, wie er wirklich ist, ein immer größerer Abgrund
auftut. Man könnte auch sagen, es geht um Schein und Sein, naive und
dämonische Weltsicht.
Es
liegen zwei zeitlose Rahmen um die Geschichte, ein phantastischer und
ein realistischer. Zum einen gibt es Bilder von der alten
Eskimolegende über den eifersüchtigen Freund, der zum Mörder wird.
Und dann sieht man das Pärchen in einer Art Traumeislandschaft
liegen, wie ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod, wo sie ein
letztes Mal zusammen sein können, und sie erzählt eine alte
Geschichte über das Mädchen, das lernen muss, dass es das Böse
gibt. Denn auch Anori ist unbefangen und unschuldig, etwas weniger
poetisch formuliert ist sie einfach naiv, und sie sieht nicht, wie
gerade ein unsicherer und schwacher Mann ihre Nettigkeit
missverstehen kann, wie er sich geistig an sie klammert und am Ende
tödlich zerdrückt.
Der
Film gibt dem Bösen Gestalt und Wirklichkeit. Das ersetzt eine
westlich geprägte, psychologische Weltsicht, die im Film vom Bösen
sogar zum eigenen Vorteil benutzt wird. Denn der Freund ist ein Mann, der
weiß, wie man in unserer psychologisch-pädagogischen geprägten Gesellschaft Mitleid und Verständnis
erzeugen kann. Er erzählt von den Eltern, die er verloren hat, von
den bösen Adoptiveltern, von der Freundin, die er verloren hat. Nach
und nach bekommt man sein wahres Gesicht zu sehen. Er hat wohl
Verlassensangst, aber das entschuldigt nichts, denn es ist seine
Entscheidung, den Dämon hineinzulassen, mit dem er dann eins wird.
Er betrachtet sich im Spiegel, verzieht das Gesicht. Die bösen
Masken der alten Tradition werden Wirklichkeit. Aber wer bei dieser
Szene auch an David Lynchs TV-Serie TWIN PEAKS denkt, an das
Dämonengesicht des Vaters, des Mörders, aber auch an die
Schlussszene der dritten Staffel, die mit Coopers bösem Ich endet,
der liegt sicher auch nicht falsch.
Regisseurin Pipaluk Kreutzmann Jørgensen
© Karitas Production (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)