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Donnerstag, 5. Dezember 2019

ANORI – Die Legende als Wirklichkeit

Anori (Nukâka)
 © Karitas Production (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
Eine harmonische Liebesgeschichte. Ein Liebesthriller. Eine alte Eskimolegende über den dämonischen, eifersüchtigen, nur scheinbar besten Freund. Eine große Tragödie über Liebende, die sich im Totenreich verfehlen und von denen einer einsam in die Ewigkeit des Schnees hinauswandert. All das ist der grönländische Film ANORI (2018), der auf den Nordischen Filmtagen Lübeck zu sehen war, gleichzeitig. Ein Film, der sich dabei nicht in Folklorismus oder in der grönländischen Landschaft verliert, auch wenn diese in all ihrer Schönheit Teil der Handlung ist, sondern vor allem eingebettet ist im traditionellen Denken, wo der Mythos nicht einfach die Wirklichkeit erklärt oder verarbeitet, sondern wo es keine Trennung gibt, wo Mythen und Legenden die Wirklichkeit sind, die wir täglich erleben. All dies verwebt Regisseurin Pipaluk Kretmann Jørgensen in einem mal angenehm, mal düster poetischen Film, der psychologische Denk-und Erklärungsmuster auf ziemlich deutliche Weise dekonstruiert und direkt denunziert. Dabei wurde ein Großteil der Handlung nach New York gelegt, dadurch wird die Legende noch mehr über die Begrenzung der grönländischen Provinz hinausgehoben und bekommt so ihre universale Bedeutung.

Alles beginnt mit einem Unfall auf hoher See bei der grönländischen Küstenwache. Bei einer Rettungsaktion wurde jemand schwer unterkühlt. Das Opfer ist nicht bei Bewusstsein und kommt nach New York. Die Ehefrau wird angerufen. Die fliegt nach New York, wo der beste Freund schon wartet, der bei dem Unfall anwesend war, aber einfach nicht weiß, wie es dazu kommen konnte. Sie ist so dankbar, dass er das Leben ihres Mannes gerettet hat. Die weibliche Hauptfigur ist Künstlerin, in einer ätherischen Mischung aus Stärke und Zerbrechlichkeit verkörpert von Nukâka Coster-Waldau. Sie singt, tanzt, tritt auf. Immer wieder tanzt sie, weiß gekleidet, den eigenen Namen, Anori, den „Wind“. Kunst liegt in der Familie. Die Mutter beherrscht den alten Maskentanz. Es folgen zwei Rückblenden, aus zwei verschiedenen Perspektiven, aber nicht als formale Übung, sondern um zwei unterschiedliche Blicke auf die Welt zu zeigen, um den Schleier der Harmonie langsam, aber unerbittlich wegzuziehen. Zunächst wird die Geschichte des Liebespaares erzählt, sehr harmonisch. Aber dann folgt die Sicht des Freundes, wo sich zwischen dem, was er erzählt hat und dem, wie er wirklich ist, ein immer größerer Abgrund auftut. Man könnte auch sagen, es geht um Schein und Sein, naive und dämonische Weltsicht.

Es liegen zwei zeitlose Rahmen um die Geschichte, ein phantastischer und ein realistischer. Zum einen gibt es Bilder von der alten Eskimolegende über den eifersüchtigen Freund, der zum Mörder wird. Und dann sieht man das Pärchen in einer Art Traumeislandschaft liegen, wie ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod, wo sie ein letztes Mal zusammen sein können, und sie erzählt eine alte Geschichte über das Mädchen, das lernen muss, dass es das Böse gibt. Denn auch Anori ist unbefangen und unschuldig, etwas weniger poetisch formuliert ist sie einfach naiv, und sie sieht nicht, wie gerade ein unsicherer und schwacher Mann ihre Nettigkeit missverstehen kann, wie er sich geistig an sie klammert und am Ende tödlich zerdrückt.

Der Film gibt dem Bösen Gestalt und Wirklichkeit. Das ersetzt eine westlich geprägte, psychologische Weltsicht, die im Film vom Bösen sogar zum eigenen Vorteil benutzt wird. Denn der Freund ist ein Mann, der weiß, wie man in unserer psychologisch-pädagogischen geprägten Gesellschaft Mitleid und Verständnis erzeugen kann. Er erzählt von den Eltern, die er verloren hat, von den bösen Adoptiveltern, von der Freundin, die er verloren hat. Nach und nach bekommt man sein wahres Gesicht zu sehen. Er hat wohl Verlassensangst, aber das entschuldigt nichts, denn es ist seine Entscheidung, den Dämon hineinzulassen, mit dem er dann eins wird. Er betrachtet sich im Spiegel, verzieht das Gesicht. Die bösen Masken der alten Tradition werden Wirklichkeit. Aber wer bei dieser Szene auch an David Lynchs TV-Serie TWIN PEAKS denkt, an das Dämonengesicht des Vaters, des Mörders, aber auch an die Schlussszene der dritten Staffel, die mit Coopers bösem Ich endet, der liegt sicher auch nicht falsch.

Regisseurin Pipaluk Kreutzmann Jørgensen
© Karitas Production (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)