Die dänische Regisseurin
Lone Scherfig hat mit THE KINDNESS OF STRANGERS (2019) wieder einmal
einen sympathischen Film gedreht. Diesmal nicht in England, wo sie ja
hauptsächlich tätig ist, sondern als europäische Co-Produktion
mehrere Länder, darunter Dänemark und Deutschland. Es spielt in den USA, in
New York, auch wenn es sich mit dem Engländer Bill Nighy und dem
Franzosen mit algerischen Wurzeln Tahar Ramin sehr, sehr europäisch
anfühlt, vor allem, da ein altes russisches Restaurant im Mittelpunkt steht.
Es ist die Geschichte
einiger Menschen, die sich gegenseitig helfen. Es beginnt mit einer
jungen Mutter aus dem Bundesstaat Buffalo, die mit ihren beiden
kleinen Jungen vor dem psychopathisch-prügelwütigen Ehemann flieht.
Da er ein Polizist mit vielen Freunden ist, hat sie Angst, sich an
die Behörden zu wenden. Einen Urlaub und ein lustiges Spiel vortäuschend, versucht sie,
sich mit den Kindern über die Runden zu bringen. Da ist
die Krankenschwester, der ihr Job zu viel wird und die eine
Selbsthilfegruppe mit dem Namen „Vergebung“ leitet und auch noch
in einer Suppenküche aktiv ist. Da ist der verwirrte Schussel, der
nicht nur jeden Job durch seine Dusseligkeit verliert, sondern
schließlich auch seine Wohnung, wobei man sich fragt, wie er die
denn überhaupt gekriegt hat. Ein aus dem Gefängnis frisch
entlassene Mann bekommt wie durch ein Wunder einen Job als Leiter
des erwähnten russischen Restaurants. Um Ersatzfamilien, Freundschaft,
Liebe, Solidarität geht es hier, aus der echten Familie kommt in
diesem Film nichts Gutes, nur ein Psycho-Gatte und ein
unverbesserlicher Junkie-Bruder. Der Staat existiert, bemüht sich zu
helfen, aber es bleibt begrenzt: Als der Staat der Frau und den
beiden Kindern eine Unterkunft besorgt, sind es drei enge Betten in
einer Massenunterkunft.
Das Ganze wird gedämpft
erzählt, hat mal eine schöne Atmosphäre, ist dann aber auch mal
träge und schwer genießbar, aber auch zwischendurch still humorvoll. Im Grunde
ist es ein Wintermärchen, wo die gute Fee durch Menschen
ersetzt wird, und der böse Wolf ist der Ehemann, wobei man sich zunächst doch
fragt, ob es nicht ein echtes Klischee ist, dass dieser ausgerechnet Polizist sein
muss, aber rein dramaturgisch muss die Ehefrau ja Angst haben, zu den
Behörden zu gehen. Sonst würde der Film nicht funktionieren. Ja, es
ist schon vieles konstruiert, aber es funktioniert dann doch, weil es
sich hier nicht um grauen Sozialrealismus handelt. Dann müsste man
angesichts der thematischen Überfülle wohl die Flucht ergreifen.
Aber Scherfigs Realismus ist so eine Art Luftblasenrealismus. Es ist
zwar alles voller Menschen mit echten, praktischen Problemen. Zwei
Mal erfriert fast jemand wegen Obdachlosigkeit, einmal sogar ein
kleines Kind, das zu gerne auf Spaziertour geht, aber verträumt
nicht daran denkt, dass man ja irgendwie auch zurückfinden muss.
Aber bei Scherfig hat man immer das Gefühl, als könnte ihren
Figuren nicht wirklich etwas passieren. Denn Lone Scherfig ist ja da.
Sie würde ihren Menschen nie etwas Böses antun. Ein sympathischer
Film eben.
Und dann ist es indirekt
vielleicht irgendwie auch ein sehr dänischer Film. THE KINDNESS OF
STRANGERS (2019) ist ganz anders als das, was man etwa aus England gewohnt
ist. Er ist von der Stimmung her LAST CHRISTMAS (2019) näher als
WILD ROSE (2019), um mal zwei aktuell in den Kinos laufende Filme zu nehmen. In Lars von
Triers THE BOSS OF IT ALL (2006) gibt es übrigens einen wütenden
Isländer, der über die Sentimentalität der Dänen schimpft. Und
die wird einem hier auch geboten, wenn auch etwas versteckt und nicht so offen. Dass THE KINDNESS OF STRANGERS
allerdings als Eröffnungsfilm der Filmfestspiele Berlin 2019 lief, ist schwer verständlich und zeigt überdeutlich, warum die Veranstaltung eine neue
Leitung nötig hatte.