© CAT&Docs (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
Fantasy-Rollenspiele liegen mir
so fern, dass ich jetzt erst durch den auf den Nordischen Filmtagen Lübeck gezeigten THE MAGIC LIFE OF V (2019) von
Tonislav Hristov, einem Bulgaren in Finnland, das wirkliche Prinzip
dieses Freizeitvergnügens begriffen habe. Wobei es für die
Hauptfigur dieser finnischen Dokumentation, die 25-jährige Veera,
weit mehr als das ist. Es ist eine Notwendigkeit, eine Therapie, und
an einer Stelle im Film sagt sie, dass sie sich für die Zukunft
wünschen würde, dass sie Rollenspiele nicht mehr bräuchte, sondern
sie einfach nur zum Vergnügen machen könnte. Leichter will sie sich
fühlen. Das sagt etwas über die Last, den Druck, die sie alltäglich
spürt.
Diese psychische
Belastung rührt her aus ihrer Kindheit. Die Mutter trennte sich vom
trinkenden Vater, als sie das erste Mal mit eigenen Augen gesehen
hat, wie er gewalttätig gegen den Sohn wurde, der im Alter von einem
Jahr sehr krank mit hohem Fieber war und davon einen Hirnschaden
davontrug. Man erfährt eigentlich nichts über Veeras restliches Leben. Der
Film zeigt nur Situationen und Augenblicke, in denen es um Familie
und Rollenspiel geht. Alles andere wird ausgeblendet. Aber der Film
schafft anhand dieser sporadischen, aber zielgerichteten Beobachtungen über einen längeren Zeitraum eine Reihe von erklärenden, aufhellenden
Zusammenhängen. THE MAGIC LIFE OF V ist angenehm frei von
Betroffenheit und Selbstmitleid, auch von künstlichem Mitleid. Statt
dessen liegt trotz der gezeigten Traurigkeit eine ruhige Atmosphäre
der Zärtlichkeit über dem Ganzen.
Im Film werden
Familienfilm-Aufnahmen gezeigt. Da sieht man zwei Kleinkinder, Veera und ihren Bruder, am Tisch sitzen, und zwischen beiden taucht plötzlich wie aus
dem Nichts der Vater auf. Das ist horrorartig unheimlich. Wie ein
bedrohliches Monster wirkt er. Und da hat man den Eindruck, dass es
um mehr geht als Alkohol und Gewalt. Es geht um eine unbekannte
Gestalt, die wie ein düsterer Geist durch Veeras Kindheit schwebt,
die ihr aber völlig fremd ist. Sie möchte den Vater gerne
kennenlernen, ihn verstehen. Mehr als einen damals immer betrunkenen
Vater würde sie gerne in ihm sehen, ganz einfach einen Menschen.
Aber das ginge ja nur über einen längeren Zeitraum bei regelmäßigem
Treffen. Das verweigert er ihr. Um ein Treffen zu verhindern,
beleidigt er sie auch schon mal am Telefon. Einmal spricht sie sogar
von großem Hass, weil sie mitbekommen hat, dass der Vater den Bruder
angerufen hat und mit „Fick dich! Fick dich! ...“ beschimpft hat.
Im Grunde geht es hier um
den Kampf gegen das Böse. Zunächst einmal die böse phantomartige
Gestalt des Vaters. Und in den Rollenspielen bekämpft sie ja das
äußere Böse, aber ebenso das Böse in ihr selbst, denn solch ein erwähnter
innerer Hass kann auch bleibende Schäden bei ihr verursachen. Zwei Mal sieht man
sie beim Rollenspiel. Einmal in Bulgarien auf einem verlassenen
Militärgelände, wo es um Mutanten-Horror geht und einmal in Polen,
wo es Harry-Potter-artig zugeht, also etwas friedlicher. Daher stammt
übrigens die liebe und brave Figur V des Filmtitels, bei deren Verkörperung Veera
offensichtliche Probleme hat. Und es ist ein Kampf um den Bruder, um
den sie sich sehr kümmert und um den sie sich sorgt. Der Vater
verleitet den Sohn zum Trinken. Daher versucht Veera, ihren Bruder in
ihre Welt zu integrieren, nimmt ihn mit zum Bogenschießen,
Schwertkampf, alles mit Sicherheitswaffen. Sie hofft, dass er sich
für Rollenspiele begeistern wird.
Am Ende schafft sie es
doch, ihren Vater zu treffen, der da wie eine ungerührte Masse
sitzt, und sie fragt ihn, warum er denn so viel getrunken habe. Als
Antwort bekommt sie zu hören, dass das Leben so langweilig sei. Das
Familienleben mit zwei Kindern habe ihm nicht gereicht. Aber
eigentlich macht Veera ja etwas strukturell Vergleichbares mit ihren
Rollenspielen. Ein anderer sein, fremde Emotionen zu eigenen machen,
kurzzeitig in einem anderen Leben verschwinden. Aber es ist so
ungefährlich und vor allem schadet sie niemanden.
© CAT&Docs (Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)