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Mittwoch, 4. Dezember 2019

THE MAGIC LIFE OF V – Rollenspiel-Therapie

© CAT&Docs (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
Fantasy-Rollenspiele liegen mir so fern, dass ich jetzt erst durch den auf den Nordischen Filmtagen Lübeck gezeigten THE MAGIC LIFE OF V (2019) von Tonislav Hristov, einem Bulgaren in Finnland, das wirkliche Prinzip dieses Freizeitvergnügens begriffen habe. Wobei es für die Hauptfigur dieser finnischen Dokumentation, die 25-jährige Veera, weit mehr als das ist. Es ist eine Notwendigkeit, eine Therapie, und an einer Stelle im Film sagt sie, dass sie sich für die Zukunft wünschen würde, dass sie Rollenspiele nicht mehr bräuchte, sondern sie einfach nur zum Vergnügen machen könnte. Leichter will sie sich fühlen. Das sagt etwas über die Last, den Druck, die sie alltäglich spürt.

Diese psychische Belastung rührt her aus ihrer Kindheit. Die Mutter trennte sich vom trinkenden Vater, als sie das erste Mal mit eigenen Augen gesehen hat, wie er gewalttätig gegen den Sohn wurde, der im Alter von einem Jahr sehr krank mit hohem Fieber war und davon einen Hirnschaden davontrug. Man erfährt eigentlich nichts über Veeras restliches Leben. Der Film zeigt nur Situationen und Augenblicke, in denen es um Familie und Rollenspiel geht. Alles andere wird ausgeblendet. Aber der Film schafft anhand dieser sporadischen, aber zielgerichteten Beobachtungen über einen längeren Zeitraum eine Reihe von erklärenden, aufhellenden Zusammenhängen. THE MAGIC LIFE OF V ist angenehm frei von Betroffenheit und Selbstmitleid, auch von künstlichem Mitleid. Statt dessen liegt trotz der gezeigten Traurigkeit eine ruhige Atmosphäre der Zärtlichkeit über dem Ganzen.

Im Film werden Familienfilm-Aufnahmen gezeigt. Da sieht man zwei Kleinkinder, Veera und ihren Bruder, am Tisch sitzen, und zwischen beiden taucht plötzlich wie aus dem Nichts der Vater auf. Das ist horrorartig unheimlich. Wie ein bedrohliches Monster wirkt er. Und da hat man den Eindruck, dass es um mehr geht als Alkohol und Gewalt. Es geht um eine unbekannte Gestalt, die wie ein düsterer Geist durch Veeras Kindheit schwebt, die ihr aber völlig fremd ist. Sie möchte den Vater gerne kennenlernen, ihn verstehen. Mehr als einen damals immer betrunkenen Vater würde sie gerne in ihm sehen, ganz einfach einen Menschen. Aber das ginge ja nur über einen längeren Zeitraum bei regelmäßigem Treffen. Das verweigert er ihr. Um ein Treffen zu verhindern, beleidigt er sie auch schon mal am Telefon. Einmal spricht sie sogar von großem Hass, weil sie mitbekommen hat, dass der Vater den Bruder angerufen hat und mit „Fick dich! Fick dich! ...“ beschimpft hat.

Im Grunde geht es hier um den Kampf gegen das Böse. Zunächst einmal die böse phantomartige Gestalt des Vaters. Und in den Rollenspielen bekämpft sie ja das äußere Böse, aber ebenso das Böse in ihr selbst, denn solch ein erwähnter innerer Hass kann auch bleibende Schäden bei ihr verursachen. Zwei Mal sieht man sie beim Rollenspiel. Einmal in Bulgarien auf einem verlassenen Militärgelände, wo es um Mutanten-Horror geht und einmal in Polen, wo es Harry-Potter-artig zugeht, also etwas friedlicher. Daher stammt übrigens die liebe und brave Figur V des Filmtitels, bei deren Verkörperung Veera offensichtliche Probleme hat. Und es ist ein Kampf um den Bruder, um den sie sich sehr kümmert und um den sie sich sorgt. Der Vater verleitet den Sohn zum Trinken. Daher versucht Veera, ihren Bruder in ihre Welt zu integrieren, nimmt ihn mit zum Bogenschießen, Schwertkampf, alles mit Sicherheitswaffen. Sie hofft, dass er sich für Rollenspiele begeistern wird.

Am Ende schafft sie es doch, ihren Vater zu treffen, der da wie eine ungerührte Masse sitzt, und sie fragt ihn, warum er denn so viel getrunken habe. Als Antwort bekommt sie zu hören, dass das Leben so langweilig sei. Das Familienleben mit zwei Kindern habe ihm nicht gereicht. Aber eigentlich macht Veera ja etwas strukturell Vergleichbares mit ihren Rollenspielen. Ein anderer sein, fremde Emotionen zu eigenen machen, kurzzeitig in einem anderen Leben verschwinden. Aber es ist so ungefährlich und vor allem schadet sie niemanden.


© CAT&Docs (Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)