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Montag, 15. Februar 2021

EQUINOX (Staffel 1) – Verloren im orangenen Nebel

 

Die Kamera schleicht sich in der Eingangssequenz der dänischen Netflix-Serie EQUINOX (2020) vom Flur her in das Kinderzimmer eines kleinen Mädchens, das auf etwas wartet, es erlauscht, dann aufspringt und erwartungsfroh hinaus auf eine Kopenhagener Straße mit gutbürgerlichen Wohnhäusern auf beiden Seiten läuft. Da kommt auch schon „studentervognen“, „der Schülerwagen“, ein offener LKW, mit dem Abiturklassen sich, schnell betrunken, herumfahren lassen. Und die Stimmung ist ausgelassen, zumindest bei den meisten, doch mittendrin sind einige Brüche und Risse zu erkennen. Und das Mädchen, Astrid heißt sie, sieht das genau, kann es aber nicht verstehen und ist bloß ratlos. Es handelt sich um kleine, der fröhlichen Situation nicht angemessene Einzelteile, die sich erst viel später in ein großes Puzzle einsetzen lassen.

Im Mittelpunkt stehen die seltsam abwesend-düstere Schwester Ida und drei ihrer Mitschüler. Man sieht die Figurenkonstellationen und bekommt erste Hinweise auf den Verlauf der Story, deren bestimmende Gegensätze deutlich werden. Einerseits beispielsweise der Vater, der in seinem rationalistischen Optimismus von der Zukunft redet, die der Tochter jetzt offen steht. Andererseits die esoterische Mutter, die nicht will, dass Ida überhaupt mitfährt. Und dann Idas Freundin Amelia und ihr Satz „Livet er en eneste nedtur“, „das Leben ist eine einzige Talfahrt“, den sie Astrid wenig zukunftsfreudig angedöselt ins Ohr flüstert, als wären das Gedanken, mit denen man Kinder füttern sollte. Nachts hat Astrid einen visionären Alptraum von einem Unfall und wacht auf. Morgens ist die gruselige Nachricht herum, dass in dieser Nacht 21 der 24 Schüler unauffindbar verschwunden sind. Darunter auch Ida.

Creator der Serie ist Tea Lindeburg. Inszeniert hat die ersten vier Folgen Søren Balle, dessen schönes Spielfilmdebüt KLUMPFISKEN / DER MONDFISCH (2014) auch in Deutschland zu sehen war. Beide sind serienerfahren. Grundlage von EQUINOX, der Serie, ist Lindeburgs Hörspiel „Equinox 1985“ auf Danmarks Radio, bestehend aus 10 Teilen mit jeweils einer knappen halben Stunde Länge. Die erste Sendung wurde am 24.4.2017 ausgestrahlt, der Rest folgte wöchentlich. Es ist ein geschickt und spannend montiertes Hörspiel mit atmosphärischer Musik und passenden Toneffekten. Im Radio gibt es Tea Lindeburg als fiktives Ich Tea Lindeburg, die in der Straße der verschwundenen Ida gewohnt und diese sehr bewundert hat. Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema ist ein anonymer Brief über den Selbstmord von Jacob Skipper, einem der nicht verschwundenen Schüler. Es folgen Berichte, Nachforschungen, Interviews mit allen Beteiligten.

Die Serie verzichtet auf solche literarischen Kunstgriffe, aber das Medium Radio spielt dennoch die zentrale, die Story in Gang setzende Rolle. Idas jüngere Schwester Astrid, mit nervösem starken Willen gespielt von Danica Curcic, lebt zwanzig Jahre später auf Bornholm, hat Ex-Mann und Tochter. Sie moderiert eine Sendung über Aberglauben, über dessen Rationalisierung mit einfachen Erklärungen. Dazu Gespräche mit Hörern, und so bekommt sie eines Tages einen kurzen Anruf von diesem erwähnten Jacob Skipper und rastet danach aus, weil sie ihn ohne Kontaktinfo nicht selbst erreichen kann. Sie fliegt nach Kopenhagen, steigt in die Recherche ein, beginnend bei den eigenen, seit Langem geschiedenen Eltern: beim widerstrebenden Vater, der Ida als mit Sicherheit tot ad acta gelegt hat und bei der Mutter, deren Haus einem Museum der Vergangenheit gleicht. Erzählt wird auf drei zeitlichen Ebenen: Erstens Astrids Nachforschungen in der Gegenwart. Zweitens ihre Erlebnisse in der Kindheit direkt nach dem Verschwinden der Schwester. Drittens die Erlebnisse von Ida und ihren Freunden bis zum Verschwinden, eine Art Vorzugswissen für den Zuschauer, sodass man nicht die ganze Zeit gemeinsam mit der Protagonistin Astrid im Dunkeln tappen muss.

Die Serie lebt zum einen von der mysteriösen, märchenhaft-poetischen, teilweise alptraumhaften Stimmung. Diese entsteht vor allem durch die Träume Astrids von einer toten Landschaft im orangenen Nebel. Die dunklen Bäume haben Wurzeln wie Riesenspinnenbeine. In ihren Stämmen sind Menschen gefangen, Körperteile sind zu erahnen. Als bedrohliches Wesen herrscht ein Hasenmonster, dessen Ohren eher wie satanische Hörner wirken, so wie die Hörner, die man auf Tiermenschgestalten in alten Höhlenmalereien sehen kann. Astrid sieht auch den ebenfalls verschwundenen Fahrer des Schülerwagens, dessen Darsteller man übrigens schon in der Anfangsszene kurz als Søren Pilmark identifizieren und so ein späteres, wichtigeres Wiederauftauchen erahnen kann. Astrid verliert sich als Kind fast in diesem Nebel, kommt nicht heraus, während sie verzweifelt ihre Schwester darin sucht. Sie schlafwandelt, landet im Krankenhaus, wo man entscheidet, sie sei krank und brauche Pillen.

Später stößt die erwachsene Astrid auf das entscheidende Zeichen, das einen uralten heidnischen, animistischen Opfer- und Fruchtbarkeitskult um die Göttin Ostara symbolisiert und der direkt mit ihr zu tun haben scheint, worauf zumindest die Wiederkehr der Träume hinzudeuten scheinen. Bei ihren Nachforschungen rennt sie aber immer wieder gegen eine undurchdringliche Mauer, vor allem bei den Menschen, die ihr nahestehen. Sie wird angelogen oder stößt auf Lebenslügen, damit man in bequemen Illusionen weiterleben kann. Besonders deutlich wird das bei ihrem schon krankhaft und panikartigen rationalen Vater und bei Idas alter Freundin Amelia, die 20 Jahre später in einem vermeintlichen Peace-Ashram in Rumänien lebt, wo sie tagsüber die lächelnde Erleuchtete spielt und abends fürchterliche Schreikrämpfe hat. Und sie lügt über die vergangenen Ereignisse. Auf die Art wird nach und nach über der Welt der Erwachsenen ein dämonisches Netz der Verschwörungen sichtbar, dessen Eckpfeiler ausgerechnet Schule und Elternhaus sind.

Aber dann geht es auch um die Ideen von Mythos, Märchen und Wirklichkeit, und dass es für den einen das eine, für den anderen etwas anderes sein kann. Denn Ostara ist auch die Hauptfigur von Astrids Lieblingsmärchen ihrer Kindheit, das sie erzählt bekommt vom Vater und der es für sie als in Orange getauchtes Schattenspiel aufführt. Ein Schattenspiel wie in Platons Höhlengleichnis, wo Menschen Schatten als Wirklichkeit wahrnehmen. Die Serie lebt, neben der Atmosphäre und der spannenden Story als Mystery-Krimi, von dieser inneren Dramaturgie der Unsicherheit zwischen Einbildung und Wirklichkeit, die am Ende leider einen gewissen dramaturgischen Selbstzweck gewinnt. Da ist EQUINOX dann mehr Psychologie als Mystery.

Den ganzen Schluss beherrscht diese Unsicherheit, mit langen Szenen von Astrid als Kind in der Psychiatrie, was die Rezeption auf Dauer etwas zu sehr in eine übervolle, vergrübelte Denksportaufgabe kippen lässt, die irgendwie überflüssig wirkt, da man als Zuschauer die Geschichte Idas erzählt bekommen hat. Es sei denn, man würde diese auch als Astrids Imagination entziffern, aber dann würde vieles andere keinen Sinn ergeben. Und irgendwie habe ich mir da gewünscht, dass die Serie diese intellektuellen Achterbahnloopings beenden und einfach mal stehen bleiben würde und sich dem Ostara-Geheimnis überlassen würde. Dass der Schluss dann unbefriedigend abrupt und kurz ist, liegt dann wohl auch daran, dass man auf eine zweite Staffel spekuliert.

Samstag, 13. Februar 2021

MAGNUS – TROLLJÄGER (Staffel 1) – Der moderne Idiot

 

Eigentlich heißt die norwegische Miniserie bloß MAGNUS (2019), ohne das ergänzende deutsche TROLLJÄGER dahinter. Und Trolljäger ist die Hauptfigur auch nicht so recht, eher ein suchender Troll-Ermittler. Vidar Magnussen hat das Ganze mit Rolf Magne-Andersen geschrieben, von Geir Henning Hopland unter seiner Mitwirkung inszenieren lassen und spielt selbst die Hauptrolle des Polizisten Magnus Undredal. Magnussen ist in Norwegen am bekanntesten als Komiker, komischer Schauspieler, er hat aber auch ein Standbein im sogenannten ernsthaften Theater. Die ersten drei der insgesamt sechs jeweils halbstündigen Folgen von MAGNUS waren übrigens 2019 auf den Nordischen Filmtagen Lübeck zu sehen.

Die Serie spielt in einem kleinen Ort in Norwegen und es ist verschneiter Winter. Magnus Undredal gilt als der schlechteste Ermittler in der örtlichen Polizeistation. Doch durch politisches Intrigantentum bekommt er als amtlicher Idiot einen wichtigen Fall zugeschanzt, um mit Sicherheit für ermittlerische Erfolglosigkeit zu sorgen. Doch die Bösen haben die Macht der Idiotie nicht bedacht. Zwei Partner gesellen sich zu Magnus: Ein Kollege, der sich nach dem absurden Unfalltod seiner Frau ständig umbringen will, was eigene Unfähigkeit oder Magnus regelmäßig verhindern. Und ein kleiner 11-jähriger Junge mit ständig besoffener Mutter. Mit einem geheimnisvollen Fall haben sie es zu tun: Der seltsame Tod einer Frau durch einen seitlichen Blitz, ein verschwundener mordverdächtiger Schauspieler, dessen größter weiblicher Teenie-Fan auf der Suche nach ihrem Idol, jede Menge böser Amis, die Bewohner einer seltsamen Trollfarm und eine rätselhafte Gestalt in Hundekostüm. Und Trolle, die durch ein geheimnisvolles Parallelwelt-Portal auf die Erde kommen.

Eines vor allem muss betont werden: MAGNUS ist außerordentlich komisch. Viele Szenen und Sequenzen sind sogar zum Schreien komisch. Es gibt einen Haufen wirklich brillanter Einzelnummern, Ideen, Absurditäten, Kostümierungen, innovativer Technik-Spielereien. Und es gibt Dinge, die man zu selten unabhängig von tiefer sozialrealistischer Betroffenheit zu sehen bekommt, etwa wenn die bedöselte Mama den Junge mit einem Einkaufswagen voller leerer Bierdosen zur Pfandannahme schickt und der bei den verschneiten und holperig vereisten Wegen kaum vorwärts kommt. Aber die Serie ist weit mehr als eine Ansammlung witziger Einfälle, geht über reine Comedy, über eine Sketch- und Nummernrevue hinaus. Und eben das macht MAGNUS zu einem wirklich guten Film. Viel Humor entsteht oder wird verstärkt durch intelligente, genau durchkalkulierte Inszenierung und Montage. Das gilt besonders für zwei längere Szenen in der Polizeistation mit ständigen Szenenwechseln. Zum einen die Sequenz der zwei Geirs, dann die um den etwas neben sich stehenden, Flecken hassenden Polizeichef. Auch eine Kinder-Geburtstagsparty, wo 11-Jährige einen Slasher-Film gucken, gehört in diese Kategorie. Die Konzentration auf einen beschränkten Schauplatz verbindet sich elegant und präzise mit Tempo, Abwechslung und absurd-lustigen Einfällen.

Magnussen bedient sich vieler bekannter Elemente, die sozusagen angereichert werden und so ist etwas echt Individuelles entstanden. Brillant inspiriert, könnte man sagen. „Inspektor Clouseau trifft auf STRANGER THINGS“, das kann man in Werbetexten und Rezensionen lesen. So hat Magnussen seine Serie in Interviews im Vorfeld auch selbst charakterisiert, um zumindest eine vage Vorstellung davon zu geben. Mystery mit Kindern, das ist STRANGER THINGS, nur dass MAGNUS eher eine Erwachsenenserie ist. Und an Clouseau würde sowieso jeder auch ohne den Hinweis denken. Mit einem entscheidenden Unterschied: Clouseau hielt sich für grandios und kam immer irgendwie mit einem Erfolg durch, während eigentlich nur sein Vorgesetzter wusste, dass er ein größenwahnsinniger Trottel ist, der Chaos und Zerstörung mit sich bringt. Hier ist die Idiotie kein Geheimnis. Magnus ist sogar eher ein demütiger Idiot, und er wird für durchgeknallter gehalten, als er ist. Er nennt sich selbst den schlechtesten Ermittler der Station und hechelt nach einer echten Chance, seine unter der Oberfläche versteckte Brillanz unter Beweis zu stellen. Ganz harmlos ist er aber auch nicht. Einmal wird Magnus auch gefährlich mit seinen übermütigen Spielereien. Doch von außen wird er angetrieben, weiterzumachen. Und am Ende erkennen alle seine Fähigkeiten an.

Denn Magnus ist eben ein echter Repräsentant der Moderne, ein echt moderner Idiot. Er hat etwas von einem voll beknackten Nerd-Genie, das seltsame Erfindungen mit häufigen Funktionsfehlern ersinnt. Darunter auch so wirkungsvolle Erfindungen wie ein Kinder-Laserschwert mit genügend Strom drauf, um einen Erwachsenen locker in die Knie zu zwingen. Und er ist gut in pseudo-logischen, pseudo-wissenschaftlichen Theorien aus allen möglichen Bereichen, die sich aber gut anhören. Die moderne geistige Pest der Menschheit – diese Mischung aus Medizin, Soziologie, Pädagogik und Psychologie – wird hier ad absurdum geführt. Wenn Magnus dem Selbstmordkandidaten, der auf dem Fensterbrett steht, heißen Kaffee ins Gesicht und über die Uniform gießt, kann er genau begründen, wieso das sinnvoll sein soll gegen suizidale Absichten. Nur solch ein Idiot kann die idiotische Welt aus moderner Technik, Mystery-Universen und geldgierigem Totalitarismus verstehen und subversiv-chaotisch unterlaufen. Man sollte Magnus nach Silicon Valley versetzen. Bis kein Chip mehr da sitzt, wo er hingehört.

Dienstag, 9. Februar 2021

Tomas Vengris' MOTHERLAND – Wo ist zu Hause, Mama?

Nachdem Ende 2019 der norwegische Film PSYCHOBITCH (2019) den Zuschauerpreis des ArteKino Online-Wettbewerbs gewann, war zum Jahresausgang 2020 mit dem litauischen Beitrag MOTHERLAND / GIMTINE (2019) von Tomas Vengris schon wieder ein nordischer Film der Liebling. Beide Filme haben übrigens gemeinsam, dass sie auf ihrer Festivalrundreise gerne in der Kinder- und Jugendfilmsparte landeten, was sie natürlich dann um eine Chance auf den Hauptpreis brachte. Aber über das Problem habe ich schon in meinem Beitrag über „Kinder- und Jugendfilme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020“ geschrieben.

Um Heimat geht es in MOTHERLAND, denn: „Es gibt nichts Wichtigeres als die Heimat.“ Das sagt die Mutter zum etwa 12-jährigen, in den USA geborenen und aufgewachsenen, Sohn Kovas, dessen innerer Monolog aus dem Off zu hören ist. Der Junge spricht in Englisch, natürlich seine Hauptsprache. Aber er soll, hier passt das Wort perfekt, seine Muttersprache sprechen. Doch das kann er vermutlich nicht so gut, wie die Mutter es sich einbildet. Also redet er nicht viel. Und es bleibt die Frage der Heimat. Wo ist die denn nun? Plötzlich soll Litauen die Heimat sein, nur weil die Mutter daher stammt. Das klingt erdverbunden und romantisch, ist aber doch nur aus der Not geboren, denn die Mutter hat die USA nach privater Enttäuschung fluchtartig verlassen und braucht einen Ort zum Leben. Und sie braucht Geld. Da gibt es ja noch ein Grundstück, das mal enteignet wurde. Nie hatte sie nach der Verhaftung und dem Verschwinden der Eltern und ihrer eigenen späteren Flucht mit einer Rückkehr gerechnet, aber 1992 ist ja nach dem Zerfall der UdSSR und der Unabhängigkeit Litauens alles anders.

Auch wenn alles aus der Sicht des Jungen erzählt wird, ist MOTHERLAND ein Perspektivenfilm, der es sich nicht einfach macht. Viele Sequenzen zeichnen sich durch eine bis in die letzten Details ungeheuer sorgfältig ausgeklügelte Inszenierung aus, wobei aber trotzdem Raum für Freiheit und Spontaneität bliebt. Denn nachvollzogen werden nicht einfach der Blick, sondern auch die Schussfolgerungen des Jungen, der ein genauer, neugieriger und ziemlich scharfsinniger Beobachter ist. Am Ende kriegt er mehr mit als die Mutter, die zu sehr gefangen ist in ihren Vorstellungen, wie es mal war und wie es jetzt sein sollte. Daher wird seine Perspektive genau definiert durch Mittel wie Einstellungsgröße oder Bildschärfe. Etwa in der Szene, wo die Mutter mit dem Vater in den USA telefoniert und den Jungen aus dem Zimmer herauswinkt, aber er nicht wirklich weggeht. Ein kleiner unscharfer Fleck im Hintergrund verrät, dass er an der Ecke der Tür lauert und lauscht.

Am Anfang bekommt man nur Bildausschnitte zu sehen. Das hat mehr als eine offensichtliche poetische Funktion. Es ist nach der Landung mit dem Flugzeug eine neue Welt aus mosaikartigen Einzelteilen, die Kovas erst einmal zusammensetzen lernen muss. Er schaut sich überall um und muss diese fremdartigen Zeichen deuten. Wahrscheinlich sucht er auch das traumhafte Land, von dem ihm seine Mutter schon erzählt hat, bevor er überhaupt verstand, was sie meint. Sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Und sie hat ja dafür gesorgt, dass er Litauisch lernt. Die Landschaft rauscht vorbei an ihm, der mit der Mutter in einem Auto sitzt, vorbei. Dass es nur Ausschnitte der Umwelt zu sehen gibt, hat aber vermutlich auch einen ganz praktischen Grund, denn mit Totalen hätte man die Illusion des Jahres 1992 heutzutage, fast 30 Jahre später, kaum aufrecht erhalten können. Die Verwandtschaft, der Besuch bei der Cousine der Mutter, das Kaffeetrinken, all das zieht an dem Jungen vorbei wie ein unübersichtlicher Traum.

Es ist verstörend für ihn, wie die Mutter, die er kannte, gleichsam verschwindet, sich verjüngt, oder jung spielt. Ihre Wandlung liest sich am besten an der Frisur ab. Am Anfang ist sie perfekt frisiert und wird nach und nach natürlicher. Sie verliert sich in Kindheit, Jugend, badet nackt, flirtet mit einem Kommilitonen, der ihr behilflich ist, als wäre da etwas nachzuholen. Im Hintergrund ist ein Sohn, der seine Mutter in der Ferne unscharf werden sieht. Oder anders herum: eine Mutter, die vergisst, dass sie Mutter ist. Und dann ist das auch gar nicht so schlecht für ihn, denn er wird auf sich selbst zurückgeworfen. Denn hier wird nebenbei auch eine Erwachsenwerden-Geschichte erzählt. Kovas trinkt, schießt, tolle Männersachen eben. Ein gleichaltriges Mädchen bringt ihm bei, minderjährig illegal Auto zu fahren. Nichts, was man in einer Stadt wie Boston ein braves Bürgerkind machen lässt. Nur eins kann ich nicht recht glauben: Niemand sagt ihm in diesem unsentimental-ländlichen Milieu, dass er sich die Haare schneiden lassen soll, weil er aussieht wie ein Mädchen.

Die Action-Handlung, der Kampf um Materielles, der der Handlung den Rahmen gibt, handelt dann vom wilden Osten, auch vom Gangstertum Ost, direkt nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung. Es geht um Land, einstmals illegal enteignetes Land, auf dem jetzt andere Menschen wohnen. Wie in einem Western ist es der der Kampf um eine Farm. Da steht sozialistisches  Gewohnheitsrecht gegen bürgerliches Vertragsrecht. Und es geht um den nationalistischen Konflikt zwischen Litauern und Russen, für die das hier mal normale Heimat war und die plötzlich eine unerwünschte Minderheit sind. In der Nacht der Sonnenwende mit dem Feuer, da brennt es auch anderswo, kommt es zu Gewalt.

Alles endet in einer Flucht vor dem Traum, den die Mutter hatte, und der in der realen Welt zum Alptraum mutierte. Meeresrauschen hypnotisiert sie und zieht sie an. Dann stehen Mutter und Sohn an der Ostsee und schauen über die Weite bis zum Horizont. Als wäre Zuhause immer nur hinter dem Horizont. Und ich konnte nicht anders, als an die deutsche Version des Country-Songs „Five Feet High and Risin'“ denken, auch von Johnny Cash gesungen: „Wo ist zu Hause, Mama? Auf der großen Straße. Wo ist zu Hause, Mama? Vielleicht hier auf dieser Straße“.

Freitag, 5. Februar 2021

SLØBORN (Staffel 1) – Die inspirierende Virus-Apokalypse

In Lars von Triers MELANCHOLIA (2011) steht der Weltuntergang bevor, und während sonst so selbstsichere und großmäulige Menschen bewegungslos in Angst versinken, wird eine Frau immer klarer und gelassener. Bis zum Schluss weiß sie, was zu tun ist. Darauf hat sie sich gedanklich schon lange vorbereitet. Endlich passt die Welt sich ihrem düsteren Geisteszustand an. Auch in der deutsch-dänischen Co-Produktion, der achtteiligen ZDF-Serie SLØBORN (2020), in der ein weltweit sich ausbreitender Todesvirus ein Massensterben auch auf einer fiktiven Nordseeinsel an der deutsch-dänischen Grenze auslöst, gibt es eine ähnliche Figur. Ein ehemaliger Erfolgsautor, der mit seinem neuen Roman nicht vorankommt. Verkokst, verkorkst, ausgebrannt, mit einer Verachtung für das normale, vermeintlich spießige Leben, was aber eher seiner Unsicherheit und Verlorenheit entspringt, begreift er die Apokalypse um ihn herum irgendwann als Chance. „Inspirierend“ findet er den Weltuntergang und ist von dieser wunderbaren Insel nicht mehr herunterzubekommen. Er integriert sich in die von ihm bisher gemiedene Welt, auch wenn sie jetzt im Ausnahmezustand existiert. Weder die Polizei noch die weitaus rabiatere Bundeswehr mit Schießbefehl kriegen ihn aufs Festland. Er ist ein absolut angstfreier Autor, der geistig schon oft genug gestorben ist, und so rennt er denn auch konsequent ohne Maske herum, als ginge ihn das Virus nichts an.

Das zeigt schon die etwas anderen Wege, die diese von Christian Alvart geschaffene und teilweise auch inszenierte Serie geht. Vermieden wird vor allem das Klischee von der heilen Welt, über die die böse Krankheit hereinbricht. Denn das Böse, das Verstörende, der Riss im heilen Alltag ist vorher schon da. Auf die eine oder andere Weise überall, bei sämtlichen Figuren, Figurengruppen, die repräsentativ im Mittelpunkt stehen: Eine alteingesessene, fünfköpfige Familie, mit Eltern als Geschäftsfrau und Tierarzt. Dieser will von der Insel runter. Und wenn von einem Tag auf den anderen ein Familienvater weit wegzieht, dann ist das für die Betroffenen schon Weltuntergang genug. Der alleinstehende, zur frustrierten Gewalt neigende Polizist und sein verschüchterter Sohn, sowie die Mitschüler, die sich diesen als Mobbingopfer ausgesucht haben. Eine Buchhändlerin und Pfarrersfrau, die den bedrogten und sinnlos aggressiven Autor zu einer Lesung eingeladen hat und einiges durchmachen muss aufgrund dessen irrlichternden Benehmens. Eine Gruppe von Jugendkriminellen, die durch Gemeinschaft und Arbeit reformiert werden sollen, was aber von der destruktiven, nicht zulett selbstdestruktiven, Energie einiger Teilnehmer bedroht wird.

Schon über dem Alltag dieser Menschen und ihrem irrationalen Verhalten liegt also etwas Merkwürdiges. Das wird erreicht einerseits durch das kühle Gesamtporträt einer Insel und andererseits durch die intime Nähe zu den Figuren. Tatsächlich sind die ersten Folgen, in denen die Krankheit sich nur langsam und bedrohlich heranschleicht, förmlich hereinkriecht in das Leben der Menschen, die besten der Serie. Die letzten Folgen bilden dann eher eine große Flucht und Auflösung, sind actionreicher.

Christian Alvart hat keine Angst vor dem Trashigen, dem Wilden, den B-Film-Elementen und kriegt damit eine bessere Beschreibung der Welt hin, als ihn uns der gewöhnliche, verzagte und verklemmt ideologisierte Kunstfilm- und TV-Realismus einreden will. Es gibt in Deutschland sonst keine Regisseure, die gleichzeitig Tatort-Action, so etwas amüsiert Hirnamputiertes wie HALBE BRÜDER (2015), etwas intim Emotionales wie BANKLADY (2013) oder grotesk Historisches wie FREIES LAND (2019) drehen. Alvart wandelt diesen schmalen, schwierigen Grat zwischen normal und extrem, Multiplex und Arthouse.

Zu Abziehbildern oder Karikaturen werden seine Figuren auch in SLØBORN trotz allem nicht. Auch nicht der anfangs manisch-irre Autor auf dem Amoktrip, der diese ihm fremde Welt verflucht und sie plötzlich mit anderen Augen sieht und etwas Groteskes in die Ruhe bringt, zwischen Drogen-Dämon und Clown. Oder der dänische Ex-Verbrecher, der mit aller Gewalt junge Leute retten will, und dessen Bruder Partydealer ist. Oder deren Feind, der Redneck, dessen faschistoide Tendenzen nichts daran ändern, dass sein paranoides Misstrauen gegen den Staat alles andere als paranoid ist. Oder ein Sohn, der seinen Vater mit dem tödlichen Virus infiziert. Das alles hält SLØBORN nicht davon ab, emotional echt und stellenweise sogar sehr bewegend zu sein, so wie die eine oder andere Beerdigungsszene. Von sentimentalen, ausgedehnten, tränenreichen Sterbeszenen wird man aber verschont. Was man an Krankheitsekel zu sehen bekommt, ist absolut hinreichend.

Was auch klischeefrei ernst genommen wird, ist das Religiöse. Da ist ein Pastor, Ehemann der Buchhändlerin, das netteste und heilste Ehepaar des ganzen Films. Selbst die Apokalypse-Freunde von der Freikirche werden nicht denunziert. Und das nette Mädchen, das zu diesen gehört, ist keineswegs gestört. Dass der Schriftsteller keine Angst hat, am Schluss sogar aktiv rettend in die Story einzugreifen, nachdem er lange nur passiv-distanzierter Beobachter war, liegt auch daran, dass auf der Insel seine Seele gerettet wurde. Und die ist schließlich am wichtigsten. Und wenn man übrigens eins gelernt hat aus den letzten 13 Monaten mit dem Chinavirus dann, dass, wenn wirklich mal ein echt schlimmer Virus kommt, angesichts einer unfähigen Regierung sowieso nur noch beten hilft.

Der Weltuntergang im Rest der Welt wird – in Form von Todeslagern in Kiel! – in SLØBORN nur kurz gestreift. Übrigens gehört auch Paderborn zu den sehr frühen Viruszentren der Republik. Also, wo immer die Welt auch untergeht. Ich bin mitten drin. Das müssen die Schwingungen sein. Aber solange es inspirierend ist, ist es schon okay. SLØBORN hat übrigens ein offenes Ende. Wie könnte es anders sein, solange nicht alle Figuren tot sind oder ein superperfekter Impfstoff auf den Markt kommt? Eine eigentlich nicht geplante zweite Staffel wurde Ende letzten Jahres angekündigt.