Nachdem Ende 2019 der norwegische Film PSYCHOBITCH (2019) den Zuschauerpreis des ArteKino Online-Wettbewerbs gewann, war zum Jahresausgang 2020 mit dem litauischen Beitrag MOTHERLAND / GIMTINE (2019) von Tomas Vengris schon wieder ein nordischer Film der Liebling. Beide Filme haben übrigens gemeinsam, dass sie auf ihrer Festivalrundreise gerne in der Kinder- und Jugendfilmsparte landeten, was sie natürlich dann um eine Chance auf den Hauptpreis brachte. Aber über das Problem habe ich schon in meinem Beitrag über „Kinder- und Jugendfilme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020“ geschrieben.
Um Heimat geht es in MOTHERLAND, denn: „Es gibt nichts Wichtigeres als die Heimat.“ Das sagt die Mutter zum etwa 12-jährigen, in den USA geborenen und aufgewachsenen, Sohn Kovas, dessen innerer Monolog aus dem Off zu hören ist. Der Junge spricht in Englisch, natürlich seine Hauptsprache. Aber er soll, hier passt das Wort perfekt, seine Muttersprache sprechen. Doch das kann er vermutlich nicht so gut, wie die Mutter es sich einbildet. Also redet er nicht viel. Und es bleibt die Frage der Heimat. Wo ist die denn nun? Plötzlich soll Litauen die Heimat sein, nur weil die Mutter daher stammt. Das klingt erdverbunden und romantisch, ist aber doch nur aus der Not geboren, denn die Mutter hat die USA nach privater Enttäuschung fluchtartig verlassen und braucht einen Ort zum Leben. Und sie braucht Geld. Da gibt es ja noch ein Grundstück, das mal enteignet wurde. Nie hatte sie nach der Verhaftung und dem Verschwinden der Eltern und ihrer eigenen späteren Flucht mit einer Rückkehr gerechnet, aber 1992 ist ja nach dem Zerfall der UdSSR und der Unabhängigkeit Litauens alles anders.
Auch wenn alles aus der Sicht des Jungen erzählt wird, ist MOTHERLAND ein Perspektivenfilm, der es sich nicht einfach macht. Viele Sequenzen zeichnen sich durch eine bis in die letzten Details ungeheuer sorgfältig ausgeklügelte Inszenierung aus, wobei aber trotzdem Raum für Freiheit und Spontaneität bliebt. Denn nachvollzogen werden nicht einfach der Blick, sondern auch die Schussfolgerungen des Jungen, der ein genauer, neugieriger und ziemlich scharfsinniger Beobachter ist. Am Ende kriegt er mehr mit als die Mutter, die zu sehr gefangen ist in ihren Vorstellungen, wie es mal war und wie es jetzt sein sollte. Daher wird seine Perspektive genau definiert durch Mittel wie Einstellungsgröße oder Bildschärfe. Etwa in der Szene, wo die Mutter mit dem Vater in den USA telefoniert und den Jungen aus dem Zimmer herauswinkt, aber er nicht wirklich weggeht. Ein kleiner unscharfer Fleck im Hintergrund verrät, dass er an der Ecke der Tür lauert und lauscht.
Am Anfang bekommt man nur Bildausschnitte zu sehen. Das hat mehr als eine offensichtliche poetische Funktion. Es ist nach der Landung mit dem Flugzeug eine neue Welt aus mosaikartigen Einzelteilen, die Kovas erst einmal zusammensetzen lernen muss. Er schaut sich überall um und muss diese fremdartigen Zeichen deuten. Wahrscheinlich sucht er auch das traumhafte Land, von dem ihm seine Mutter schon erzählt hat, bevor er überhaupt verstand, was sie meint. Sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Und sie hat ja dafür gesorgt, dass er Litauisch lernt. Die Landschaft rauscht vorbei an ihm, der mit der Mutter in einem Auto sitzt, vorbei. Dass es nur Ausschnitte der Umwelt zu sehen gibt, hat aber vermutlich auch einen ganz praktischen Grund, denn mit Totalen hätte man die Illusion des Jahres 1992 heutzutage, fast 30 Jahre später, kaum aufrecht erhalten können. Die Verwandtschaft, der Besuch bei der Cousine der Mutter, das Kaffeetrinken, all das zieht an dem Jungen vorbei wie ein unübersichtlicher Traum.
Es ist verstörend für ihn, wie die Mutter, die er kannte, gleichsam verschwindet, sich verjüngt, oder jung spielt. Ihre Wandlung liest sich am besten an der Frisur ab. Am Anfang ist sie perfekt frisiert und wird nach und nach natürlicher. Sie verliert sich in Kindheit, Jugend, badet nackt, flirtet mit einem Kommilitonen, der ihr behilflich ist, als wäre da etwas nachzuholen. Im Hintergrund ist ein Sohn, der seine Mutter in der Ferne unscharf werden sieht. Oder anders herum: eine Mutter, die vergisst, dass sie Mutter ist. Und dann ist das auch gar nicht so schlecht für ihn, denn er wird auf sich selbst zurückgeworfen. Denn hier wird nebenbei auch eine Erwachsenwerden-Geschichte erzählt. Kovas trinkt, schießt, tolle Männersachen eben. Ein gleichaltriges Mädchen bringt ihm bei, minderjährig illegal Auto zu fahren. Nichts, was man in einer Stadt wie Boston ein braves Bürgerkind machen lässt. Nur eins kann ich nicht recht glauben: Niemand sagt ihm in diesem unsentimental-ländlichen Milieu, dass er sich die Haare schneiden lassen soll, weil er aussieht wie ein Mädchen.
Die Action-Handlung, der Kampf um Materielles, der der Handlung den Rahmen gibt, handelt dann vom wilden Osten, auch vom Gangstertum Ost, direkt nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung. Es geht um Land, einstmals illegal enteignetes Land, auf dem jetzt andere Menschen wohnen. Wie in einem Western ist es der der Kampf um eine Farm. Da steht sozialistisches Gewohnheitsrecht gegen bürgerliches Vertragsrecht. Und es geht um den nationalistischen Konflikt zwischen Litauern und Russen, für die das hier mal normale Heimat war und die plötzlich eine unerwünschte Minderheit sind. In der Nacht der Sonnenwende mit dem Feuer, da brennt es auch anderswo, kommt es zu Gewalt.
Alles endet in einer Flucht vor dem Traum, den die Mutter hatte, und der in der realen Welt zum Alptraum mutierte. Meeresrauschen hypnotisiert sie und zieht sie an. Dann stehen Mutter und Sohn an der Ostsee und schauen über die Weite bis zum Horizont. Als wäre Zuhause immer nur hinter dem Horizont. Und ich konnte nicht anders, als an die deutsche Version des Country-Songs „Five Feet High and Risin'“ denken, auch von Johnny Cash gesungen: „Wo ist zu Hause, Mama? Auf der großen Straße. Wo ist zu Hause, Mama? Vielleicht hier auf dieser Straße“.