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Freitag, 22. Januar 2021

Ragnar Bragasons GOLDREGEN  – Wie eine Verstopfung

 

Zugegeben, Ragnar Bragasons GOLDREGEN / GULLREGN (Island 2020), der bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 zu sehen war, hat tatsächlich eine amüsante Grundidee: Eine ältere Frau in einem Hochhaus im Sozialviertel spielt krank, bezieht Sozialhilfe und für den schon lange erwachsenen Sohn gibt es auch noch staatliches Geld, denn ihn verkauft sie den Behörden schon ewig als geistig behindert. Wütend ist sie auch, weil die Behörden ihren Goldregen-Baum auf der Gartenterrasse entfernt haben, da nicht heimische Pflanzen ab sofort verboten sind. Dass der Sohn jetzt aber plötzlich beim Rettungsdienst aktiv ist und nach einer heldenhaften Tat ziemlich gesund und klar in den landesweiten Medien landet, während er ständig mit seiner polnischen Freundin zusammen ist, das ist zu viel für die Alte. Die Dinge geraten aus dem Ruder. Leider hört sich das jetzt witziger an, als es ist. Denn GOLDREGEN ist in Wirklichkeit eine Antikomödie, die so witzig ist wie eine Verstopfung. Eine schmerzhafte Verstopfung von 112 Minuten.

Da rettet auch Sigrún Edda Björnsdóttirs bemerkenswerte schauspielerische Tour de force als grimmige Übermutter Indíana nichts. Ihre Wohnung hat die Atmosphäre eines goldenen Treibhauses, fern von der Welt. Das ist mächtig symbolisch, aber, und das ist das Problem, auf Dauer auch einfach grässlich hässlich anzugucken. Und als Zuschauer ist man mit eingesperrt in diesem ganzen visuellen Elend. Und das Allerschlimmste ist: Es reicht nicht, diese Frau vorzuführen in ihren irren Amokläufen, am Ende gibt es auch noch Erklärungen für ihr Verhalten – Biografisches, Kindheit. Als wenn das von irgendeinem Interesse wäre. Für mich jedenfalls nicht. Ich habe da auch schon längst nicht mehr richtig hingehört. Jedenfalls ist es ein gutes, aber dadurch nicht weniger grässliches Beispiel für die Soziologisierung und Psychologisierung des modernen Kinos.

Und es reicht auch nicht, eine zerstörerische Übermutter zu haben. Sie hasst auch noch alle. Alle. Ohne Ausnahme. Im Grunde ja auch sich selbst. Ist es also ein Film über Fremdenhass, wenn sie dabei auch Fremde hasst? Der Ausländerhass ist hier, logisch betrachtet, wohl eher eine Form der demokratischen Gleichbehandlung. Oder stellt Bragason sich den typischen Fremdenhasser der Unterschicht so vor? Soll das typisierend sein? Unterschichtenverachtung ist ja in bürgerlich-elitären Kreisen inzwischen sehr beliebt.

Kein Mensch bei Bragason darf echt sein. Alle sind bloß seine skurril-grotesken untoten Marionetten, deren Entwicklung das hölzern-zynische Drehbuch vorschreibt. Und Ausländer müssen was Besonderes sein. Auch hier keine normalen Menschen. Die Krankenschwester ist in Wirklichkeit ausgebildete Ärztin. Dann ist da das junge chinesische Klaviergenie und bei den Südamerikanern ist immer stimmungsvoller Tanztee. Irgendwie ist das auch ein Spiel mit albern-propagandistischen Bereicherungs-Klischees, aber es funktioniert nicht. Übrig bleiben nur diese Stereotypen im luftleer bedeutungslosen Raum, der bei Bragason ziemlich modrig müffelt. Der Sohn endet übrigens als irre stierender Psychopath, der gerade eine Ausländerin umgebracht hat. Ist aber nicht so verstörend wie beabsichtigt. Ich war viel zu froh, dass das Elend, also der Film, endlich ein Ende hatte. Von mir aus hätte er noch sonst wen umbringen können. Wäre mir egal gewesen. Und langsam löste sich die Verstopfung.

Donnerstag, 21. Januar 2021

Maria Sødahls HOFFNUNG – Eine bange Weihnacht


Regisseurin Maria Sødahl hat mit HOFFNUNG / HÅP (2019), der auf den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 zu sehen war, einen norwegischen Weihnachtsfilm gedreht, der wohl kein typisch feiertäglicher Weihnachtsfilmklassiker werden wird. Es ist die Chronik einer Weihnacht mit einer bösen Nachricht und viel ungewissem, angsterfülltem Hin und Her. Eine erfolgreiche Theaterregisseurin, die mit ihrem Lebensgefährten im Rahmen einer echten Großfamilie lebt, erfährt, dass sie einen vermutlich unheilbaren Hirntumor hat, wahrscheinlich als Folge der Streuung nach einem im Jahr zuvor überwunden geglaubten Lungenkrebs. Es kommt um so mehr wie ein Schock über sie, da es sie in einer wirklich glücklichen Zeit überfällt. Da ist nicht nur die Freude auf Weihnachten mit Familie und Freunden, sondern auch die Freude über beruflichen Erfolg: eine umjubelte Theaterpremiere, ein Auslandsangebot. Das Leben scheint ihr offen zu stehen, und plötzlich knallt ein schweres, dunkles Tor vor ihr nieder und nur der Durchgang zu einem unübersichtlichen Labyrinth steht noch offen.

Gezeigt wird in HOFNUNG ein geistig-praktischer Kampf an vielen Fronten. Einmal die medizinisch-psychologische Hauptgeschichte: das Verstehen der Krankheit, Befürchtungen und Hoffnungen, ein ständiges Wechselbad der Gefühle und des physischen Leidens. Parallel dazu das Durchdenken des persönlichen Lebens, die plötzlichen Zweifel an der Beziehung, worauf eine Wiederannäherung auf neuer Basis folgt. Und dann die große Frage: Wie und wann sag ich's den Kindern? Und den Freunden? Der Mensch in seinem alltäglichen Hamsterrad erkennt oft erst zu spät, was wirklich wichtig ist. Und das ist das Private. Kurz erwähnt werden sollte, dass die Geschichte auf Autobiografischem beruht.

Filme über Krankheit sind allzu oft eine leichte und billige Möglichkeit, Gefühle zu erzeugen. Der fürchterliche LOVE STORY (1970) ist das Symbol für diese Art des morbid-kitschigen Gefühlspornos, das genaue Gegenteil von spirituell angehauchten Filmen wie Edmund Gouldings DARK VICTORY (1939). HOFFNUNG gehört in keine der beiden Kategorien, denn thematisiert wird hier ja nicht das Sterben, sondern vor allem die Angst vor der Krankheit, die Konzentration auf das kleine Fünkchen Hoffnung, das für Ärzte oft nur eine zu vernachlässigende statistische Größe ist. Und dazu kommt das Jagen nach der zweiten medizinischen Meinung – und das ausgerechnet über Weihnachten. Der Film vermeidet jede Sentimentalität, ist aber auf der anderen Seite auch nicht gefühlsarm oder gewollt spröde. Die ständigen, unvorhersehbaren, temporeichen Wechsel der Ebenen und Gefühle, die zeitlich-dramaturgische Konzentration auf die Weihnachtstage verhindern sowieso das Überstrapazieren sich wiederholender Gefühlsakkorde.

Der Film hat seine besten Szenen im Zusammenspiel der beiden Hauptfiguren, wo zwei Spielweisen aufeinander treffen. Andrea Bræin Hovig trägt den Film mit einer starken, mal angespannten, mal ausbrechenden Energie, quer durch alle Stimmungslagen und Verhaltensweisen. HOFFNUNG gibt überwiegend ihre Perspektive wieder, teilweise fast immersiv, etwas, das schnell ermüdend wirken kann. Aber dann ist ja Stellan Skarsgård als Lebensgefährte da, um das Gleichgewicht zu halten. Skarsgård gehört zu den Schauspielern, die wissen, wie man das Bild, wie man eine ganze Leinwand füllen kann, aber hier beschränkt er sich die meiste Zeit aufs Reagieren, auf Einfühlung und Beobachtung. Dazu ist die Figur des Lebensgefährten schließlich verurteilt. Kein falsches Wort, kein falscher Blick, keine falsche Geste sind erlaubt. Und das ist schwierig, wenn man nicht voraussehen kann, was falsch und was richtig ist. Und so mischt sich in Skarsgårds mitunter erstarrte Zurückhaltung ein ständiges Lauern, ein Abwarten und eine Unsicherheit. Würde der Film nicht mit beiden Blickrichtungen – beiden Vektoren sozusagen – arbeiten, bestünde die Gefahr penetranter Subjektivität. Sein Blick auf sie ist wie ein Spiegel, erzeugt das Gleichgewicht, eine analytische Distanz.

HOFFNUNG ist eine Aneinanderreihung vieler intelligenter, gut geschriebener, einfühlsam inszenierter und innerlich gespielter Szenen. Das, was man wohl einen gelungenen Film nennen kann. Doch auf Dauer wird der Zuschauer zu sehr dem Prinzip des Mitfieberns, der Teilhabe an Entscheidungen unterworfen. Es fehlt nur noch die berühmte Frage: „Wie würden Sie entscheiden?“ Die vielen Details ermüden auf Dauer und unterwerfen den Film einem bodenständigen Realismus, der sich mitunter bleiern schwer anfühlt und angesichts einer Länge von 130 Minuten zumindest mich überdurchschnittlich oft auf die Uhr oder in diesem Online-Festival-Fall auf den Zähler gucken ließ. Es weist einfach nichts über die reine, detaillierte Darstellung der Ereignisse hinaus. Der Film tritt geistig auf der Stelle. Selbst die Hochzeit in einer Kirche ist vor allem ein theatralisch-symbolischer Akt unter Freunden. Aber darin ist der Film natürlich durch und durch ein treues Abbild unserer Zeit und seines bürgerlich-kulturellen Milieus.

Dienstag, 19. Januar 2021

Charlotte Bloms DIANAS HOCHZEIT – Ihre peinlichen Eltern

 

© Maipo Film  (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
 
Im Katalog der Nordischen Filmtage Lübeck 2020, bei denen Charlotte Bloms norwegischer Film DIANAS HOCHZEIT / DIANAS BRYLLUP (2020) zu sehen war, steht ein Zitat der Regiseurin: „Eine erfolgreiche Komödie muss immer auch Tragisches beinhalten, Schmerz und Verlust.“ Das ist zweifellos eine individuell akzeptable und persönlich brauchbare dramaturgische Regel, aber als allgemeine „muss“-Regel diktatorisch einengend. Wenn schon unbedingt eine Komödien-Regel her soll, dann sollte es eher „etwa Emotionales“ statt „etwa Tragisches“ heißen. Und dieses Emotionale kann auch genauso gut bei pausenlosem, witzigem Irrsinn bloß ganz unterschwellig anwesend sein. Aber noch aus einem anderen Grund hat mich das Zitat irritiert, denn eigentlich pflegt Blom in DIANAS HOCHZEIT neben dem Komischen nicht so sehr das Tragische, sondern vor allem das übersteigert Groteske, wo Lachen in staunendes Entsetzen umschlägt.

Ein Großteil des Films spielt sich in und zwischen zwei Häusern ab: eine neue Vorstadtsiedlung, eine Einheits-Bungalowsiedlung. Hier sind alle zumindest nach außen gleich, Arbeiter und Angestellte. Zwei Häuser stehen stellvertretend für die norwegische Provinzwelt der 80er, die hier mit der Hochzeit der beiden Hauptfiguren beginnt, parallel zur vermeintlichen Traumverbindung aus Prinzessin Diana und Prinz Charles im Jahre 1981. Dekor und Filmbild tragen viele Spuren und die gedämpften Braun-Farben der 70er, wie direkt aus dem Fotoalbum.

Hier in dieser Traumsiedlung wohnt ein Arbeiterehepaar neben einem Angestelltenehepaar. Einander sehr ähnlich sind sie und doch verschieden. Beide jeweils mit einem Baby, das verbindet: Diana und Irene. Der Film feiert fröhlich die Klischees. Arbeiter sind laut, aber lebendig; Angestellte sind gepflegt, aber scheintot. Und so viel Irrsinn, Leben und Erotik bei den einen ist, so viel tote Hose im Bett ist logischerweise bei den anderen. So ist die antagonistische Klassenunterschiede-Konstruktion des Films, die sich immer wieder in nachbarschaftlichen Wettbewerben äußert. Neues gegen Altes, neues gegen altes Auto, Camping versus Flugreise. Jede Zeit hat ihre sich wandelnden Statussymbole.

Liv und Terje heißt das, mal mehr, mal weniger glückliche, Arbeiterpärchen, das es mit Konventionen nicht so genau nimmt. Das Kind ist schon vor der Ehe da und deshalb auch Teil der kleinen Hochzeitsfeier mit den Omas. Ein reizendes, stilles, amüsantes Familienporträt. Die eine Oma geht hustend, ohne Hand vor dem Mund, durch die Wohnung und sucht was. Die andere macht ihren grünen Likör an den Babyschnuller. Das schmeckt und beruhigt. Nur das Beste für die kleine Diana. Neben dem anfänglich heiteren Familienleben lebt der Film immer mehr von den Ehestreitigkeiten von Liv und Terje, die Marie Blokhus und Pål Valheim Hagen mit unschlagbarer, charmanter Liebenswertigkeit darstellen. Man muss sie einfach mögen, egal, wie sie sich benehmen.

Durch Streit findet das Paar immer zurück an die Ursprünge der Beziehung, ohne Rücksicht auf die Umwelt, allerdings auch ohne unverzeihlicherweise an die inzwischen zwei Kinder zu denken. Und da arbeitet der Film mitunter ganz geschickt mit einer doppelten Perspektive: die der amüsiert sympathisierenden Zuschauer und die der genervten Kinder. Denn das Eheglück steigert sich zur Groteske, wenn Terje wie ein Schwein auf dem Boden vom Teller isst oder wenn er sich durch eine Tür sägt, weil die wütende Gattin ihn ausgesperrt hat. Und dann gibt es mit den Nachbarn noch eine exzessiv ausartende Party. Das schwankt zwischen witzig und gruselig absurd. Gruselig finden es vor allem die beiden Teenage-Töchter, die endgültig genug haben von diesen unerträglichen Erzeugern und nach Oslo abdampfen.

Es folgt eine lange Ellipse und alles endet mit der Hochzeit der erwachsenen Diana. Jetzt ist es also an der echten Diana des Filmtitels, vor den Traualtar zu treten. Die Tochter feiert ihre bürgerlich-weiße Traumhochzeit und fürchtet die Anwesenheit der rabaukigen Eltern, die ihrem Ruf bei ihrer Ankunft sofort gerecht werden. Bloß, die ganze Szenerie ist steril, scheintot. Die Statisten sind tatsächlich nicht mehr als Statisten. Die Hochzeitsgesellschaft erscheint piefig und öde. Die Atmospäre des Films ist plötzlich so pädagogisch betroffen, ironie- und humorfrei, peinlich bourgeois, sodass man als Zuschauer eigentlich nur jeden bejubeln kann, der dem Ganzen zumindest etwas Leben einhaucht. Aber Blom meint es wohl ernst. Nur dass die ganze vorherige komödiantische Kritik, Satire, Groteske auf einmal eine muffige, spießige, biedermeierliche Patina ansetzt. Und ohne jetzt weiter ins Detail zu gehen, was bloß müßig ist, so lässt sich einfach zusammenfassen, dass dieser Epilog die große Schwachstelle des Films ist. Und für die Erinnerung an einen Film ist es eher ungut, wenn die Schwachstelle am Schluss liegt. Das ist nun mal das, was besonders hängen bleibt.

© Maipo Film  (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)

Sonntag, 17. Januar 2021

Dace Pūces DIE GRUBE – Überhäuft von Problemen

 

© Marana Productions, Markuss (Damir Onackis) (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
 
Dace Pūces lettischer Film DIE GRUBE / BEDRE (2020), nach Geschichten von Jana Egle, hat den Jury-Preis im Spielfilmwettbewerb bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 gewonnen. Dass es nicht wirklich der beste Film ist, ist gar nicht so wichtig. BARN (2019) von Dag Johan Haugerud hat ja schon bekommen, was man bekommen kann. Und eigentlich kamen 2020 die besten Spielfilme aus Dänemark. Aber ich sehe natürlich die strategische Zielrichtung des Preises: ein erster Spielfilm, eine Regisseurin, das zu unterstützende kleine baltische Kino. Kann man nichts geben haben. Zumindest hoffe ich, dass diese Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben, denn ansonsten muss man sich Sorgen machen. Dabei will ich an sich überhaupt nicht in Zweifel ziehen, dass Dace Pūce eine gute Regisseurin ist. Das zeigt sie vor allem in der Kernhandlung des Films um einen einsamen, mächtig missverstandenen Jungen.

In DIE GRUBE geht es um einen Jungen. Einen Jungen, der etwas wirklich Schlimmes angestellt hat. Man weiß allerdings zunächst nicht, was denn genau. Am Anfang gibt es eine lange Kamerabewegung hinter ihm her, der aus einem Wald stiefelt. Man kriegt ein Gefühl für den Ort, den Raum und auch für die grimmige Entschlossenheit des Jungen, der auf schnell schwächer werdenden Rufe hinter ihm nicht reagiert, nicht reagieren will in seiner verbissenen Wut. Nach und nach begreift man: Er hat ein kleines blondes Mädchen in einem tiefen Loch im Wald zurückgelassen, wo sie im Regen einige Stunden ausharren muss, bevor die Mutter und andere sie finden.

Danach ist Markuss, so der Name des Jungen, ein Ausgestoßener, eine Art Ausgeburt des Bösen, die wie ein neuer Damien aus DAS OMEN (1976) beäugt wird. Er ist auf der ständigen Flucht vor Jungs, darunter auch der Bruder des Mädchens, die ihn verprügeln. Er zieht sich daher gerne in sein Zimmer zurück und malt. Immer wenn der Junge allein mit sich ist, zeigt Pūces einen Sinn für das still Beobachtende, das Innerliche. Und wenn der Zuschauer zu wissen bekommt, dass das Mädchen durch eigenes böses Verhalten den Stein der Rache erst ins Rollen gebracht hat, dann wird DIE GRUBE ein fast transzendenter Film über das nicht eindeutige, fluktuierende Wesen des Bösen in dieser materiellen Welt, das oft nur eine Frage der Perspektive ist. Und zu DAS OMEN gesellt sich DIE BÖSE SAAT (1956).

Außerhalb der Gesellschaft verschafft Markuss sich sogar die Gelegenheit, seine künstlerischen Fähigkeiten zu entwickeln. Durch Botengänge hat er Kontakt mit einem einsamen, alten Mann im Wald geknüpft, der sich dann als Frau entpuppt, als Lesbe in Männerkleidern, die nach demütigenden Erlebnissen während der Sowjetbesatzung nicht wieder in die Gesellschaft zurückgefunden hat. Zwei Außenseiter, zwei Unerwünschte. Eine halb verfallene Hütte auf einer Lichtung im Wald, ein unaufgeräumter Schuppen. Kunst, das Schöne, ein Glasmosaik, ein Glasfenster, das macht am Ende den grauen Schuppen zu einer Kirche. Und hier würde ich den Text am liebsten beenden, wenn in dem Film nicht noch einiges mehr wäre.

Es gibt darüber hinaus leider eine konstruierte Anhäufung von Problemfällen, die die innerliche Einfachheit der Haupthandlung bedrängen und eigentlich nur, penetrant tautologisch, zeigen sollen, dass  das wirklich Böse in der Erwachsenenwelt sein Zuhause hat und dabei leider ohne jede Ambivalenz in einem sozial-psychologischen Zusammenhang steht. Die überdrehte Mutter des Mädchens will, dass Markuss weggesperrt wird und hat das Jugendamt in ihrer Tasche. Schließlich war der Vater des Jungen nicht nur Künstler, sondern auch noch Junkie. Und es reicht nicht, die Lesbenthematik und die Sowjetvergangenheit als abstrakten Hintergrund zu haben. Sie muss in Form von biografischen Verbindungen zur Großmutter auch noch didaktisch und überdeutlich ausgewalzt werden. Dann ist da der Onkel, der seine Frau schlägt und kein Kind will, aber damit nicht genug, es kommt auch noch zu Fehlgeburt und Tod.

Das sind düstere Zeiten für die Ästhetik, die auf Kosten eines überfrachteten Inhalts erdrückt wird, vor allem, wenn man sehr deutlich sieht, dass da eine Regisseurin ist, die einen Sinn für das Lyrische, das Einfache, für das Innenleben ihrer Figuren hat. Leider ist DIE GRUBE dann teilweise doch nur eine überwürzte Sozialrealismussuppe, die man nur durch ein göttliches Wunder so gerade wieder hinkriegt. Markuss wird heroisch und rettet das Leben der Mutter des Mädchens nach einem Autounfall. Nur dass hier der Realismus einfach im Weg steht. Die heroische Tat wirkt hier nur aufgepappt, um den Zuschauer nicht ganz im depressiven und ausweglosen erwachsenen Gesellschaftshorrorsumpf versinken zu lassen. Das wirkliche, schöne, stille Wunder ist das Glasmosaik im Sonnenlicht.

Samstag, 16. Januar 2021

Ville Jankeris DER WALDRIESE – Tormälä zuerst

 

Ville Jankeris DER WALDRIESE / METSÄJÄTTI (Finnland 2020) beruht auf einem Roman von Miika Nousiainen von 2011. Die Story selbst ist einfach und prinzipiell vorhersehbar. Im Mittelpunkt steht Pisa, ein Helsinki-Karrierist in einem großen internationalen Konzern. Alles ist perfekt um ihn herum. Hübsche Frau, erstes Kind unterwegs, neue edle Wohnung, im Beruf auf dem Weg nach ganz oben. Doch da bekommt er den Auftrag, im Sägewerk seines Provinz-Heimatortes Tormälä Arbeiter zu entlassen, was ihm sehr unangenehm ist. Er findet einen Ausweg, wird aber selbst von seiner Firma hereingelegt, spielt noch mit, bis er sich dann doch gegen das System auflehnt, sich gegen das Globalkapital wendet.

DER WALDRIESE ist ein schöner und bewegender Film, der dazu auch noch sehr komisch ist und dabei auf die nordische Sünde der Skurrilität verzichtet. Daher bin selbst ich, als chronisch Unzufriedener, völlig einverstanden mit dem Publikumspreis der Nordischen Filmtage Lübeck 2020. Das Rezept, diese an sich nicht originelle Story echt, menschlich, authentisch zu machen besteht in der Zurückhaltung. Der Film tut gar nicht so, als würde er das filmische Rad neu erfinden und verlässt sich ganz auf die ruhige, gedämpfte, effektfreie Inszenierung und die Darsteller. Die verschiedenen Handlungsfäden sind sehr geschickt verflochten, sodass trotz des politisch-sozialen Inhalts kein moralisierender Thesenfilm, kein didaktisches Gleichnis entstanden ist. DER WALDRIESE bleibt bei einer individuellen Geschichte, in der nicht jede Szene auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge verweist, so wie man es oft beim Sozialrealismus nach dem Vorbild von Ken Loach erleben kann.

Statt Betroffenheit und sich schnell verflüchtigender Gesellschaftskritik gibt es Humor, Ironie, einen Sinn für das still Absurde der ganzen Situation, ohne den Ernst aus dem Blick zu verlieren. Die eigentliche Hauptstory ist rein menschlich, ist eine Integration, eine Reintegration ganz genau gesagt. Die von Jussi Vatanen dargestellte Hauptfgur steht von Anfang an neben sich: stumm, starr, eine funktionierende, perfekt-intelligente Maschine in allen Rollen, sowohl als Partner als auch als Geschäftsmann. Nach einer teilweise traumatischen Jugend mit einem erst trinkenden, dann unkontrolliert saufenden, allein erziehenden Vater hat er sich von seiner Arbeiter-Herkunft distanziert und sich so selbst entwurzelt. Eine kleine lakonische Szene zeigt den stillen, intimen Realismus des Films. Pasi trifft seinen besten alten Freund. Sie sitzen in dessen Wohnzimmer, wissen nicht recht, was sie sagen sollen. „Metallica oder Maiden“ , sagt der Freund plötzlich, und der Bann ist gebrochen. Es endet mit Saufen und Kneipe. Damit ist Pasis Schale immer noch nicht ganz zerstört, aber sie bekommt ab jetzt immer mehr Risse.

Während diese Reintegration sehr warmherzig gezeigt wird, wird es bei der Welt der Politik und des Großkonzerns satirisch. Pasi hat ja eine Idee, wie er die Entlassungen verhindern könnte, braucht aber Unterstützung der Kommune. Aber da ist die linke Partei, die gegen alles ist, wenn es von Kapitalisten kommt. Natürlich hirnverbrannt, aber nichts Neues. Also braucht er seinen eigenen Politiker. Sein Freund muss herhalten und es folgt ein wirklich witziger Wahlkampf. Hausbesuche. Eine Rede in der Kneipe: „Können wir jetzt trinken? Du hast unsere Stimme.“ Nach der Schließung des Sägewerks hat Pasi seinen Wahrheits-Ausbruch vor laufender Kamera. Aber anstatt gefeuert zu werden, bekommt er den Job als „Director of ethics“ angeboten. Der Kapitalismus springt auf den Zug auf und nutzt Moral als Imagekampagne, was ja tatsächlich immer beliebter wird. Und wenn Pasi am Ende mit alten Freunden ein kleines Holz-Unternehmen gründet und man den ersten Erfolg feiert mit dem Motto „Tormälä first“, wie es in den Untertiteln lautet, dann ist die Parallele, ob nun beabsichtigt oder nicht, zu „America first“ von Trump ziemlich augenfällig. Wie gesagt, ein schöner Film, aber hoffentlich nicht nur ein utopischer letzter Abgesang, denn das große Symbol des Widerstands gegen das Globalkapital wurde ja planmäßig aus dem Weg geräumt.

 



© Solar Films Inc. (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)

Freitag, 15. Januar 2021

SKAGERRAK + LOBSTER SOUP– Die Fischerei in Gegenwart und Erinnerung

 

© Werner Lebert (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)

Zwei grundverschiedene Dokumentarfilme, die auf den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 in unterschiedlichen Sektionen zu sehen waren, ergänzten sich in meiner Erinnerung zu einem sich in der Ferne verlierenden Horizontblick auf die Fischerei. Die zeitliche Perspektive bei beiden Werken ist die Gegenwart, einmal die sichtbare Gegenwart und dann der Übergang der Vergangenheit von gelebter Erinnerung zu musealer Statik, bei der die Vergangenheit zum unpersönlichen Ausstellungsstück wird. Um zwei Orte geht es, jeweils zu Wasser und zu Land: ein Trawler auf der hohen Nordsee und ein Café in Island. SKAGERRAK (2019) von Werner Lebert zeigt die momentane Wirklichkeit der unsentimentalen Industriefischerei, die allerdings immer noch ihre besonderen Augenblicke hat, denn man befindet sich schließlich nach wie vor draußen auf einem mal wunderschönen, mal ziemlich wilden, unsicheren Meer. LOBSTER SOUP (2020) von den Spaniern Pepe Andreu und Rafael Molés zeigt einen Ort, der mal Teil einer lebendigen, individuellen Fischereiwelt war und dann im Laufe der Jahrzehnte zu einem zentralen Ort der lokalen Erinnerung wurde.

 

SKAGERRAK

SKAGERRAK zeigt Fangfahrten mit dem Trawler „J. von Kölln“, dessen Heimathafen Cuxhaven ist. Über Jütland heraus auf die Nordsee. Es ist ein Trawler der Firma Küstenfischer. Die Konzentration des Films gilt ganz der Atmosphäre und der harten Arbeit. Auch im technisierten, digitalisierten Zeitalter fängt sich der Fisch nicht von selbst. Netze raus, einholen, Fang sortieren. Und die größeren Fische müssen weiterhin von Hand auf dem Schiff selbst auseinandergenommen werden. Nur zwischendurch fallen mal ein paar Worte des Kapitäns, die die Unterschiede zu früher klarlegen, wo es auch hart, aber sicher etwas entspannter war: „Früher war da schon Romantik.“ Oder: „Masse statt Klasse“. Die Hintergründe für solche Aussagen, also lange Darlegungen um Quoten oder EU, werden hier ausgespart.

SKAGERRAK zeichnet ein ganz direkter, beobachtender Realismus aus, der sich einfach für das interessiert, was da ist, was gerade passiert. Auf der einen Seite die praktische Arbeit, auf der anderen Seite immer wieder kleine Ausflüge ins Poetische, Pittoreske, manchmal nur ganz kurz, in Form von kleinen Inserts, wenn Lebert Gegenstände auf der Kapitänsbrücke groß ins Bild nimmt. Oder da sitzen die Möwen in Reih und Glied auf der Reling, diszipliniert wartend auf die nächste Attacke. Es gibt beeindruckende Bilder vom Meer in verschiedensten Wetterlagen, im Regen, bei Sonne, in Windstille, bei Sturm bis Stärke 10, 11. Wie kurze melodiöse Refrains zu eher prosaischen Strophen, die das unaufhörliche, kontinuierliche, physisch anstrengende Arbeiten zeigen. Aber solange man Unmengen toter Fische nicht gespenstisch findet, hat selbst die Fischverarbeitung schrecklich schöne Bilder zu bieten, so wie etwa die toten Fische, die mechanisch zappelnd im Laufband hängen, als würden sie sich verzweifelt festkrallen mit unsichtbaren Flossenklauen.

Zwei Personen hat sich Lebert herausgepickt zum näheren Kennenlernen. José, der Portugiese, der Fischer ist, seit er neun ist und jetzt doch langsam ans Aufhören denkt. Und dann natürlich der erfahrene Kapitän Fritz Flindt, der auf seiner Brücke sitzt. Er hat eine ganze Sammlung von Notizbüchern mit seinen Fangerfahrungen, die ihm sehr helfen und die er mit ins Grab nehmen will. Er erzählt von der Allround-Arbeit des Kapitäns, von der Küche bis zum Verarzten kleinerer Blessuren. Man könne ja nicht wegen jeden Kratzers das Festland anlaufen, denn schließlich: „Wir sind doch keine Weicheier.“ Aber die lustigste Pointe des Films ist das Hobby des Kapitäns, wenn er denn die Zeit hat. Da geht er Angeln. Offensichtlich kann er Fische gar nicht leid werden.

Einmal im Film entsteht übrigens eine echte Krise, eine Notlage erster Güte. Die Kartoffeln sind alle und müssen in einer Hochseeaktion von einem anderen Schiff herübergeladen werden. Und Kartoffeln müssen es sein, denn Reis, Nudeln, Pommes sind auf Dauer einfach kein vollwertiger Ersatz. Dass gerade diese Nahrungsmittel in unserer Gesellschaft die gute, klassische, gekochte Kartoffel bedrohen, zeigt dann wohl, dass wir eine Gesellschaft von Weicheiern geworden sind.

© Werner Lebert
 

 

LOBSTER SOUP

 
Währenddessen an Land ... könnte man als Überleitung von SKAGERRAK zu LOBSTER SOUP sagen. Da sitzen alte Männer, die zum größten Teil mit der Fischerei zu tun hatten, an ihrem täglichen Treffpunkt. Das Bryggjan-Café am Hafen von Grindavik steht im Mittelpunkt dieser entspannten Doku. Beliebtes Hauptgericht ist die Hummersuppe, wie der Filmtitel schon andeutet. Der Rhythmus des Films ist ganz langsam, entsprechend dem Gang dieser alten Männer, deren Gesprächen der Film gerne und lange lauscht. Es gibt sogar den einen oder anderen Prominenten, einen Boxer und einen bekannten, am Ort ansässigen Schriftsteller. Gezeigt werden die verschiedenen Facetten des Cafés, vom Touristen-Stützpunkt bis zum Veranstaltungsort. Denn abends ist hier oft ein wichtiger kultureller Treffpunkt mit Musikkonzerten, Lesungen, Lokalanekdoten. Hier wird versucht, die Erinnerung besonders an Menschen, die dort lebten und die man kannte, am Leben zu halten.

Bryggjan ist eben auch eine Kneipe der Erinnerung, der Nostalgie an eine praktisch verschwundene Art der Fischerei. Und ein Symbol für die Ursache des Anfangs vom Ende hängt im Café. Es gab früher eine inoffizielle Meisterschaft im Massenfischen. Auf einem Brett sind die Jahresgewinner verzeichnet. Dann war das Meer leer und es kamen die Quoten und dieser Wettbewerb wurde sinnlos. Doch mit all dieser gelebten Nostalgie ist es bald vorbei. Im Kern ist LOBSTER SOUP ein Abgesang. Gezeigt wird die letzte Zeit dieses wahrhaft kultigen Cafés, das es zwar immer noch geben wird, aber eben anders, mit anderen Besitzern. Denn es wird verkauft. Man sieht am Schluss, wie die so persönlichen Erinnerungsstücke an den Wänden abgenommen werden. Es gibt die Pläne des neuen Besitzers für ein Restaurant im ersten Stock, wo die Werkstatt der Netzmacher war, die dann einen musealen Charakter erhält, zum Dekor erstarrt, das zwar etwas abstrakt Historisches vermittelt, aber nicht mehr mit Leben gefüllt ist. An Bryggjan als Ort der Erinnerung wird man sich dann nur noch erinnern. Vor allem mit Hilfe dieser Dokumentation.

Der Verkauf ist aber wirklich nötig, da die Besitzer einfach zu alt geworden sind für so einen anstrengenden Betrieb. Eigentlich sind die beiden Brüder Netzmacher und die große Werkstatt liegt direkt über dem Café. Angefangen mit Bryggjan haben sie im kleinen Rahmen 1976 und der Zuspruch wurde immer größer. Die gesamte Entwicklung lief über „learning by doing“ und dadurch wurde dieses Café ein ganz spezielles mit individueller Note. Einer der Brüder beispielsweise fuhr täglich hinaus zur blauen Lagune, der regionalen Touristenattraktion, um anhand der Touristenmengen die zu erwartende Gästezahl im Café abschätzen zu können. Es gibt nebenbei auch private Einblicke in die Wohnungen sowie in die ganze Gemeinde, wenn sich die Menschen bei einer Informationsveranstaltung angesichts einer Vulkanausbruch-Bedrohung versammeln.

Ganz am Ende gibt es einen ironisch-bitteren Epilog mit einem der Brüder und seiner Frau, die jetzt endlich frei sind zu tun, was sie wollen. Und dazu gehörte offensichtlich ein Urlaub in Spanien, im warmen Süden. Nun stehen sie mit einer Touristengruppe am Strand und bekommen etwas darüber erzählt, wie diese hässliche Hotelhochhaushölle einmal ein kleines Fischerdorf war. Aber ein armes Fischerdorf, und das wollte man ändern, als man die Möglichkeit sah. Und der andere Bruder macht einen Besuch im Altersheim bei einem der alten Stammgäste, dessen sonst so blendende Erinnerung langsam nachlässt. Und den Altherren-Stammtisch, den gibt es nicht mehr. Das hat sich in alle vergänglichen isländischen Winde zerstreut.

© SUICAfilms/Pepe Andreu et Rafael Molés (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)

Donnerstag, 14. Januar 2021

EINE SPRACHE RETTEN – Der letzte Sprecher

 

© F-Seitse (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)

Wo im Sinne einer denkfeindlichen Statik die Rede ist von DIE Wissenschaft. Wo Geisteswissenschaftler mit den ideologisierten Studies erfolgreich genau das herausfinden, was sie vorher schon wussten. Und wo man ganz besonders in Deutschland dabei ist, die Sprache zu verhunzen, als sei sie bloß ein zu stammelndes bürokratisches Umerziehungs- und Folterinstrument. Da, ja gerade in solch düsteren Zeiten, da freut man sich über diese estnische Dokumentation EINE SPRACHE RETTEN / KEELEPÄÄSTJA (2020) von Liivo Niglas, die auf den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 zu sehen war. Sie zeigt, dass es sie doch noch gibt: intelligente Abhandlungen, kreative Ideen, sinnvolle Arbeit innerhalb der westlichen akademischen Welt. Und es gibt sogar noch den Wissenschaftler als Einzelkämpfer. Hier ist es ein sprachbesessener Akademiker, den man ruhig Held der Sprache nennen kann.

Denn nicht überall auf der Welt wird Sprache zerstört. Wie der Filmtitel sagt, hier will einer EINE SPRACHE RETTEN und sogar wiederbeleben, also aus einer fast toten Sprache eine lebendige machen. Indrek Park heißt dieser Linguist aus Estland, der zumindest zum Zeitpunkt der Entstehung des Films in den USA an der Uni von Indiana, beim American Indian Studies Research Institute, tätig ist. Als Doktorarbeit erstellte er eine „Grammatik des Hidatsa“, einer Sioux-Sprache. Danach galt sein Hauptinteresse dem Mandan, das derselben Sprachfamilie angehört. Hauptbeschäftigung in den vergangenen Jahren war es, den letzten, schon sehr alten und kränklichen Mandan-Sprecher eines Stammes in Nord-Dakota sprachlich auszuquetschen, um so viel wie nur irgend möglich aufzuzeichnen.

Der Regisseur des Films, Liivo Niglas, ist Ethnologe, doch handelt EINE SPRACHE RETTEN dabei gar nicht so sehr von der Sprache selbst oder dem Indianerstamm. Er interessiert sich auch nicht für das Leben des letzten Sprechers Edwin Benson, der vor kurzem gestorben ist. Es geht vor allem um den Akt der Sprachbelebung, in dessen Zentrum der Akademiker als besessener, aktiver Perfektionist steht. Und Park weiß selbst, dass es sich tatsächlich erst einmal seltsam anhört und sicher auch für ihn oft genug seltsam angefühlt hat: Ein weißer Este gibt in den USA einem Indianer-Stamm in Nord-Dakota Unterricht in ihrer eigenen Sprache Mandan. Und dann sei es vielleicht doch nicht so weit voneinander entfernt, denn die baltischen Staaten sind ein bisschen wie autonome Reservate am Rande eines bedrohlichen, riesigen Russlands, dass auch ohne militärische Mittel eine große, einflussreiche kulturelle und sprachliche Übermacht hat.

Und Park hat sich auch geistig auf die Welt des Stammes und seiner Sprache eingelassen, so weit, wie man eben kann, ohne direkt dazuzugehören. Er hat Sinn für Schönheit und Komplexität einer Sprache, und Sprache ist mehr als Grammatik und Vokabeln. Jede Sprache verkörpert eine andere Art des Denkens und Fühlens. Es geht darum, die dahinter stehende Kultur zu verstehen. Er macht einen Spaziergang an einen heiligen Ort mit einer unheimlich tiefen Höhle, in der eine Eule hausen soll. Ein Berg für Visionen. Und am Schluss ist er sogar das einzige Bindeglied zwischen dem sterbenden letzten Sprecher Benson und dessen Umfeld, denn auf dem Totenbett redete dieser nur noch Mandan und Park musste der Familie und den Schwestern im Krankenhaus alles übersetzen. Der Film zeigt Park bei einem Zigaretten-Ritual am Grab Bensons im Schnee.

Park ständig zu filmen funktioniert auch, weil von ihm Energie ausgeht und weil er durchaus die Art Entertainer-Qualitäten hat, die ein Akademiker brauchen kann. Er hat im Stammes-Reservat ein Büro und man sieht ihn bei all den praktischen Arbeiten. Die wissenschaftliche Notierung all seiner Aufzeichnungen, das Erstellen von Lernmaterialien, die Verwaltung der Homepage. Man sieht ihn beim Unterricht. Das Hauptziel sind die kleinen Kinder, denn Voraussetzung für das Leben der Sprache sind Grundkenntnisse und Interesse bei den jungen Leuten. Aber er unterrichtet auch Erwachsene. Und es gibt ständige Zweifel, ob man genug Material hat, ob das alles denn auch einigermaßen der echten Sprache entspricht, die Benson beherrschte. Dazu kommt der Zeitdruck, der Gelddruck, denn die Ölpreise sinken und der Stamm nimmt nicht mehr so viel ein.

Dann kommt Park auch noch das Privatleben in die Quere, denn in Estland ist eine Frau und dann ist da ein Kind. Niglas ist ein anhänglicher Regisseur, der seinen Filmhelden am liebsten auch noch auf das wichtigste Date dessen Lebens begleitet hätte. In den USA vermisst Park Estland, guckt Liederfestivals auf YouTube und kriegt Tränen in die Augen. Am Ende wirkt er ein wenig wie ein Gefangener seines Erfolges. Denn Erfolg scheint er wirklich zu haben. Das Interesse bei den jungen Stammesmitgliedern ist da. Er erzählt, dass er jetzt sprachliche „Schatten“ habe, die ihn ständig ausfragen, so wie er an Benson hing. Denn zu allem kommt eine große Verantwortung. Schließlich ist er  ja jetzt, zumindest vorerst, der letzte Mandan-Sprecher. Als hätte er Bensons Platz eingenommen. Das ist die Ironie der Geschichte.

Mittwoch, 13. Januar 2021

ZEIT EINER FRAU – Erinnerungen einer Toten

 

© Joonas Pulkkanen (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)

 

ZEIT EINER FRAU / NEITI AIKA (Finnland 2019) von Elina Talvensaari ist ein schöner, kleiner, unspektakulärer finnischer Dokumentarfilm, den ich auf den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 gesehen habe. Er erzählt in der ersten Person Singular eine andere, ursprünglich fremde Lebensgeschichte und beinhaltet gleichzeitig die Auswirkungen, die das Entdecken dieser Biografie auf das Ich, die Regisseurin und Erzählerin, hat. Auf diese Art entsteht ein einfühlsamer, zärtlicher Film, dessen Vorgehensweise auf den ersten Blick durchaus ein wenig pietätlos wirken mag – und ich gebe gerne zu, dass ich in den ersten Minuten ein skeptisch ungutes Gefühl hatte angesichts des doch unautorisierten Eindringens und Offenlegens von Privatheit. Doch es wird die Schönheit dieses Lebens freigelegt, die Bedeutung wird mit ausgegraben. ZEIT EINER FRAU ist eine Biografie, ein Familienfilm und sogar ein bisschen ein Geisterfilm.

Alles beginnt damit, dass ein Ehepaar eine kleine 2,3-Zimmer-Wohnung kauft. Mit im Kaufpreis enthalten sind die gesamte Einrichtung und die Dinge der vorherigen Besitzerin und Bewohnerin. Die hieß Sirkka-Liisa Miettinen (1915-2012), kaufte mit ihrem Mann diese Wohnung in der Anlage, die Teil des olympischen Dorfes der Spiele in Helsinki von 1952 ist. Bis zu ihrem Tod hat sie dort etwa 60 Jahre lang gelebt. Talvensaari fühlt sich am Anfang unwohl mit all den fremden Sachen. Es hat zunächst etwas Unangenehmes, aber die Präsenz der Dinge führt dann zu natürlicher Neugier, Nachforschung und im Endeffekt diesem Film.

Und Talvensaari mag in ihrem Kommentar noch so sehr allgemein darüber theoretisieren, dass die Dinge mit dem Tod der Besitzerin in die Leere der Bedeutungslosigkeit gefallen, ihren neutralen Wert wiederbekommen hätten. Denn sie haben mit Talvensaaris eigenem Blick ja sofort eine neue Bedeutung erhalten. Eine Anziehungskraft ging von ihnen aus, sonst hätte Talvensaari sie sofort genervt weggeworfen, um sich möglichst zügig von all dem Ballast und dem Müll zu befreien. Aber sie betrachtet das alles eben nicht als Ballast oder Müll. Und während ich über diese Zusammenhänge schreibe, fällt mir der großartige norwegische Spielfilm DEN HEMMELIGHETSFULLE LEILIGHET (1948) von Tancred Ibsen ein, wo ein Mann eine voll möblierte Wohnung kauft und von der Präsenz der Dinge und ihres dadurch darin immer noch anwesenden Vorbesitzers gefangen genommen wird.

Es ist also die Geschichte einer Annäherung, biografisch wie gefühlsmäßig. Rein praktisch ist es aber erst einmal reine Detektivarbeit, in der die Dinge, die daraus hervorgehenden Informationen und die Kombinationen und Schlussfolgerungen ein Leben offenbaren. Talvensaari taucht ein in all diese Gegenstände, Erinnerungsstücke, das sich im Laufe eines Lebens irgendwie angehäufte Sammelsurium, die Fotos, die Briefe, die Super-8-Filme. Aber es es gibt natürlich auch Leerstellen und sich daraus ergebende Vermutungen, von außen herangetragene Interpretationen, aber viel anders ergeht es einem ja auch nicht mit den lebendigen Mitmenschen um einen herum. Talvensaari erweitert ihre Nachforschungen, bewegt sich außerhalb der Wohnung, findet das Innere des Hauses von Sirkka-Liisas Großmutter als zu besichtigenden Teil eines Lokalmuseums.

Talvensaari nimmt wie in Echtzeit, als wären sie gerade erst passiert, teil an den Schicksalsschlägen Sirkka-Liisas, an der Operation in jungen Jahren, nach der sie keine Kinder bekommen konnte, und vor allem am Tod der jungen Nichte, der Ersatz-Tochter, die mit in den Urlaub fuhr. Sie deutet früh ein trauriges Ende dieser heiter und nett wirkenden hübschen jungen Frau an, arbeitet also mit kleinen dramaturgischen Kunstgriffen. Sie holt dieses Vergangene in die Gegenwart. Im Ganzen wird sie ungeheuer vertraut mit allem, erkennt irgendwann alle Verwandten auf Anhieb auf Bildern wieder.

Und da ist noch diese andere Vertrautheit mit vielen Fotos, weil sie ja aus genau dieser Wohnung stammen, dieselben Zimmer, denselben Balkon, dieselbe Umgebung zeigen. Das eigene Leben innerhalb dieser vier Wände verbindet sich mit dem, das hier mal stattgefunden hat. Und so ist es auch ein Film über die Regisseurin selbst, ihr eigenes Privat- und Eheleben in der Wohnung, wobei sie sich aber nur sehr angenehm dezent in Szene setzt. Und da bleibt es nicht aus, dass sie Verbindungen herstellt, vom eigenen glücklichem Familienleben hin zu einer immer größer werdenden Einsamkeit, die sich um Sirkka-Liisa bildet. Denn diese lebte noch 20 Jahre ohne Familienmitglieder, die alle weit vor ihr starben. Fotos zeigen sie auf Reisen, auf immer der gleichen, langsam alt werdend. Aber der äußere Eindruck und die eigenen Vorstellungen spiegeln oft eben doch nur Klischees oder eigene Ängste wieder. Auch das thematisiert Talvensaari. Die Regisseurin hat erst die Vorstellung eines einsamen Begräbnisses, aber da täuschte die düstere Fantasie. Am Ende erfährt sie etwas über das wirkliche Begräbnis mit vielen Menschen, das Sirkka-Liisa selbst noch organisiert hat.

Am Ende ist Sirkka-Liisa auf eine seltsame, aber auch schöne Weise wie ein verstorbenes Familienmitglied, dessen Grab man gemeinsam besucht, auf das man Blumen legt, etwa eine Rose im Schnee, wie im Film zu sehen. Und ganz am Ende zieht die Familie aus. Zwei Kinder sind zu viel für die zu eng werdende Wohnung. Einiges von Sirkka-Liisas Einrichtung und Gegenständen zieht mit aus, denn es ist Bestandteil des Familienlebens geworden. Und diesmal ist die Wohnung ganz leer für den oder die neuen Bewohner.

Mittwoch, 6. Januar 2021

Kinderfilme und Jugendfilme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020

 

© Agnese Zeltina

Zumindest einen echten Vorteil der Online-Ausgabe der Nordischen Filmtage Lübeck 2020 gab es für mich. Ich hatte von zu Hause aus Ruhe und Gelegenheit, mit vier schönen und gänzlich verschiedenen Filmen aus Lettland, Schweden, Norwegen und Dänemark bei den Kinder- und Jugendfilmen hineinzuschauen, was ich sonst immer versäume, denn irgendetwas anderes vermeintlich Wichtigeres und Bedeutsameres gibt es ja immer. Wobei bei Kinderfilmen noch das Problem hinzukommt, dass sie beim normalen Festivalablauf im Kino deutsch eingesprochen werden und daher von vornherein ausscheiden. Bei drei der vier hier besprochenen Filme wäre dies laut Katalog der Fall gewesen.

 

JELGAVA 94

Der lettische Film JELGAVA '94 (2019) von Jānis Ābele beruht auf einem autobiografischen Roman von Jānis Joņevs von 2014. Jonevs spaziert zwischendurch selbst durch den Film, kommuniziert sogar mit seinem jüngeren Ich, wodurch der Akt des Erinnerns und des kontinuierlichen Dialogs des Erlebten mit dem Erinnerten sehr direkt und physisch in die Geschichte mit hineingenommen wird. Aber vermutlich macht es auch Sinn wegen der Popularität des Autors im Heimatland, wo er für seinen Roman schließlich einen Literaturpreis bekommen hat.

Im Mittelpunkt von JELGAVA '94 steht ein 14-jähriger braver Junge und sehr guter Schüler mit perfektem Seitenscheitel, der sich hartnäckig und mit Aufbietung seiner ganzen Intelligenz nach unten in die Metal-Subkultur seines Provinznestes Jelgava arbeitet. Da, wo es laut, heiter, provokakativ, dreckig und versoffen zugeht. Es ist die zeitlose Geschichte einer Befreiung, einer individuellen Rebellion für die Ausweitung des in engen Bahnen gesteuerten Ichs. Hier findet er eine lockere Gemeinschaft fern ab vom braven Lernen und den sich  ständig streitenden Eltern in der Hochhaussiedlung. Nur mit den Mädchen klappt es immer noch nicht so, wie er möchte. JELGAVA '94 wirkt sehr authentisch, direkt, echt, zwischen sozial-nostalgischem Realismus und humorvoller Coolness.

Es ist sicher nicht beabsichtigt, aber der Film erschien mir wie eine postsozialistische Antwort oder Verlängerung des 2019 auf der Retrospektive der Nordischen Filmtage gezeigten litauischen Films DIE KINDER VOM HOTEL AMERIKA (1990), wo im Jahre 1972 Vertreter der US-inspirierten Jugendkultur es ernsthaft mit dem KGB zu tun bekommen. Die Metal-Kids von 1994 stoßen allenfalls auf moralische Entrüstung, die sich aber nicht mehr in Repression äußern kann. Sonst sind die meisten Erwachsenen eigentlich guten Willens. Was den Helden der Geschichte nicht davon abhält, aus dem vierten Stock zu springen, um dem Hausarrest zu entgehen. Wie die meisten Jugend-Subkulturen existiert man auch hier irgendwo zwischen heiliger Idiotie und heroischem Widerstandsgeist. Der schlimmste Gegner der Jugendlichen ist die provinzielle Populärkultur-Mangelwirtschaft. Da trampt man extra in die Hauptstadt, um zu einem Heavy-Metal-Flohmarkt im Wald zu gelangen, wo man LPs auf Cassette für die nächste Woche bestellen kann. Metal-Veteranen reden derweil über die Verhaftungen von früher, als wäre es ein Stück goldener Erinnerung.

© Agnese Zeltina
 

SUNE – BESTER MANN 

Jan Holmbergs SUNE – BESTER MANN / SUNE – BEST MAN (Schweden 2019) ist die Fortsetzung von SUNE VS SUNE (2018), wo es für einen Viertklässler um die Frage des „wer bin ich eigentlich?“ ging. Das Ganze spielt sich ab in einer Familie mit drei Kindern und dieser charmante und äußerst sympathische Film, der Humor mit klassischen Familienwerten paart, lebt vor allem von der ständigen Spiegelung der Kinder- mit den Elternproblemen, die voneinander gar nicht so verschieden sind. Dazu kommen die fiktiven Science-Fiction-Spiele des kleinen Bruders in einer imaginären Marsumgebung, zu denen sich am Ende sogar der Vater gesellt.

Der Faden, der sich jetzt durch die Handlung von SUNE – BESTER MANN zieht, ist die Familienkrankheit, sich nicht entscheiden zu können. Sunes Dilemma lautet: Pflicht oder Neigung, Familie oder Liebe, weniger tragödienhaft ausgedrückt: Fährt er zur Hochzeit des Großvaters oder macht er den Schulausflug mit der Angebeteten? Regisseur Holmberg geht hier nun einen ganzen Schritt weiter und überträgt das in eine temporeiche Actionkomödie, die äußerst bewegungsfreudig und witzig ist. Gäbe es bei den Filmtagen einen sektionsübergreifenden Komödienpreis, dann hätte SUNE – BESTER MAN ihn bekommen müssen. Die Story ist voll absurden Humors, amüsant, pointiert und einfallsreich inszeniert. Die Figuren sind allesamt etwas schräg, vor allem die seltsamen Erwachsenen, aber auf nette Weise. Der kleine Bruder hat sich zu einem fast unheimlichen Computer-Nerd-Genie entwickelt, das den manchmal etwas orientierungslosen Sune durch so manches Labyrinth schleust. Da gibt es auch zerstreute Polizisten, die wie die Enkel der Pippi-Langstrumpf-Gendarmen wirken. Und als Belohnung für seine unermüdlichen Mühen hat Sune am Ende plötzlich wie durch ein Wunder zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Kiergekaard hatte eben nicht recht mit seinem Entweder-oder, Sowohl-als-auch ist durchaus möglich.

 

© Niklas Maupoix
 
 

FLUCHT ÜBER DIE GRENZE

  
Johanne Helgelands FLUCHT ÜBER DIE GRENZE / FLUKTEN OVER GRENSEN (Norwegen 2020) ist ein Film über die Judenverfolgung im von der deutschen Wehrmacht besetzten Norwegen. Der Film überzeugt durch die Verbindung von spannender physischer Verfolgungsjagd, die einen zusätzlichen ästhetischen und dramatischen Reiz durch die hügeligen tiefen Schnee- und Waldlandschaften bekommt, und sehr subtile Charakterisierungen. Denn FLUCHT ÜBER DIE GRENZE macht es sich nicht leicht und vermeidet die Schwarzweißzeichnung.

Hauptfiguren sind zwei Mal zwei Geschwister. Einmal Gerda und Otto, mit Eltern im Widerstand, die verhaftet werden, dann die jüdischen Sarah und Daniel, die sich im Keller der Familie versteckt halten. Gerda lebt ganz in ihrer abenteuerreichen Fiktion, der Bruder ist klug und realistisch und hat etwas zu viel antisemitische Propaganda der Jugendorganisation der „Nationalen Sammlung“ im Kopf. Auf der anderen Seite der misstrauische ältere Daniel mit Sarah. Nach und nach raufen die vier sich zusammen, um die beiden Juden über die sichere Grenze nach Schweden hinüber zu bringen. So wird aus ihnen am Schluss eine verschworene Musketier-Truppe. Das ist dann der Sieg der sympathischen, heldenhaften Fiktion der Brüderlichkeit über eine menschenfeindliche, totalitär-rassistische Konstruktion der Welt. Ganz besonders unheimlich ist das moderne, eine geldgierige Spitzelin und Kollaborateurin beherbergende, Hexenhaus mit unnatürlich viel Essen und einem Bild Hitlers, statt eines Bildes von Satan, in einem Nebenzimmer. Von konkreter Politik abstrahierend geht es so ganz einfach um das Böse an sich.

 
© Maipo Film
 
 

LUCIA UND DER WEIHNACHTSMANN 2

  
Bei Christian Dyekjærs Fortsetzungsfilm LUCIA UND DER WEIHNACHTSMANN 2 / JULEMANDENS DATTER 2 – JAGTEN PÅ KONG VINTERS KRYSTAL (Dänemark 2019), stellt sich zunächst einmal wieder die rhetorische Verleihfrage nach dem deutschen Titel: Wieso kann es nicht einfach wie im Original ”Die Tochter des Weihnachtsmanns” heißen? Denn darum geht es hier: die Generationenfolge. Weihnachten ist hier nicht zuletzt ein bürokratischer Akt, der gelernt sein will. Und da Kinder ja nicht erst seit Harry Potter, sondern schon seit Hanni & Nanni oder den Schreckenstein-Büchern Internate ganz toll finden, gibt es hier eine magische Weihnachtsschule. 
 
Und stand im ersten Teil noch die gute, aber doch etwas spannungsbremsende Gleichberechtigungsfrage in der Weihnachtsmannschule im Mittelpunkt, darf hier jetzt die Story die Oberhand haben. Und auch wenn es hier erneut nach Viborg geht, wenn auch nicht ganz so ausführlich, ist dieser Film visuell etwas künstlicher und damit auch einfallsreicher. Das Prinzip, die fantastisch-magischen Geschichten in realer Atmosphäre zu erzählen, behält man zwar zu einem großen Teil bei, aber zum einen sieht der Zuschauer viel mehr von der Weihnachtsmannwelt und zum anderen hat man ein surreales Universum des ewigen Eises entworfen. Und ein weiterer skurriler Höhepunkt sind die Nachforschungen in dem Geschäft und dem Keller einer Uhrmacherfamilie. Der Charme des Films liegt also zu einem großen Teil diesmal im Theaterartigen der Dekors, wobei man auf die oft so hässliche digitale Überfülle verzichtet. Das ergibt eine niedliche, intime Atmosphäre mit vielen hübschen Einfällen.

Und war es im ersten Teil eine verirrte Einzeltäterin, die relativ leicht zu besiegen war, geht es jetzt gegen bedrohliche, lebensfeindliche, gut organisierte und grau gekleidete Kräfte des Bösen, die Weihnachten und die Lebensfreude zerstören wollen. Dass die Feinde von Weihnachten in Kellern und Höhlen unter einer Kirche, dem Dom zu Viborg, hausen und mönchsartig herumlaufen, hat zwar etwas Merkwürdiges, passt aber zu einem Film, der sich sowieso nicht für die wahren Hintergründe eines christlichen Festes interessiert. Die bösen Asketen haben aber lustige Prinzipien, denn vom Essen muss man kotzen müssen. Und wie bei den meisten Moralpredigern lebt hier die Heuchelei, denn der Anführer isst statt Brechbrei lieber Hähnchenkeulen. Mit Wissenschaft und Magie schneit es am Ende sogar, wo es doch aber sofort schmilzt auf dem Boden. Eigentlich bräuchte man ja zusätzlich eine Kaltmach-Maschine. Aber vielleicht gibt es die ja im dritten Teil.

 
© Martin Dam Kristensen
  

 
Nachbemerkung: Die Zwischenexistenz von Jugendfilmen

2019 gab es auf deutschen Festivals, auch auf den Filmtagen Lübeck, den norwegischen Film PSYCHOBITCH (2019) von Martin Lund zu sehen, der vorwiegend in Jugendfilm-Sektionen gezeigt wurde und dann Ende des Jahres den Preis des online stattfindenden ArteKino-Wettbewerbs gewann. Das veranlasste den damaligen Chefredakteur der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma, Stéphane Delorme, dazu, eine grundsätzliche Kritik an der problematischen Zwischenexistenz von Jugendfilmen zu formulieren. Der folgende Absatz beinhaltet diesen interessanten Teil seiner Rezension in deutscher Übersetzung, auch wenn es natürlich eine vorwiegend französische Perspektive ist.

„Dass der Film, mit Erfolg also, auf ArteKino gezeigt wurde, offenbart zwei Dinge. Zum einen das schlechte Los, dass Jugendfilmen oft auf Festivals reserviert ist. Der Film wurde zum ersten Mal anlässlich der Berlinale 2019 präsentiert (bevor er seine französische Premiere auf dem Festival von La Roche-sur-Yon hatte), aber nur in der Sektion Generation (für ein junges Publikum), wo man übrigens ebenso Eine Kolonie der Quebecerin Geneviève Dulude-De Celles finden konnte, als wenn Filme „über die Teens“ keinen Zugang zum großen Becken des Berliner Wettbewerbs oder des Forums hätten. Dieses Konzept des „jungen Publikums“ ist schädlich: das war dasselbe Problem mit Königin von Niendorf , den wir bei seinem Start 2018 verteidigt haben, der aber nur in Hamburg gezeigt wurde und nicht über den Verleihweg „Junges Publikum“ bei Les Films du préau herauskam. Wenn nun Filme über die Jugendzeit auf dieses Verleih-Netzwerk beschränkt sind, ist man dazu verurteilt, nur amerikanische Teen Movies zu sehen und nichts darüber zu verstehen, was in den Köpfen der jungen Leute auf der ganzen Welt ausgeheckt wird.“ (Cahiers du Cinéma 2/2020)

P.S.: Gerechterweise sollte Folgendes angemerkt werden: Auf dem Filmfest Hamburg 2019 war PSYCHOBITCH ebenfalls im Programm. Dort war er zwar in der jungen Sektion „Michel“ zu sehen, aber eben auch gleichzeitig bei „Eurovisuell“. Er war nominiert sowohl für den „Michel Filmpreis“ als auch für den breiteren „Commerzbank Publikumspreis“. Ein Beispiel also für eine angemessene doppelte Kategorisierung.