Die Kamera schleicht sich in der Eingangssequenz der dänischen Netflix-Serie EQUINOX (2020) vom Flur her in das Kinderzimmer eines kleinen Mädchens, das auf etwas wartet, es erlauscht, dann aufspringt und erwartungsfroh hinaus auf eine Kopenhagener Straße mit gutbürgerlichen Wohnhäusern auf beiden Seiten läuft. Da kommt auch schon „studentervognen“, „der Schülerwagen“, ein offener LKW, mit dem Abiturklassen sich, schnell betrunken, herumfahren lassen. Und die Stimmung ist ausgelassen, zumindest bei den meisten, doch mittendrin sind einige Brüche und Risse zu erkennen. Und das Mädchen, Astrid heißt sie, sieht das genau, kann es aber nicht verstehen und ist bloß ratlos. Es handelt sich um kleine, der fröhlichen Situation nicht angemessene Einzelteile, die sich erst viel später in ein großes Puzzle einsetzen lassen.
Im Mittelpunkt stehen die seltsam abwesend-düstere Schwester Ida und drei ihrer Mitschüler. Man sieht die Figurenkonstellationen und bekommt erste Hinweise auf den Verlauf der Story, deren bestimmende Gegensätze deutlich werden. Einerseits beispielsweise der Vater, der in seinem rationalistischen Optimismus von der Zukunft redet, die der Tochter jetzt offen steht. Andererseits die esoterische Mutter, die nicht will, dass Ida überhaupt mitfährt. Und dann Idas Freundin Amelia und ihr Satz „Livet er en eneste nedtur“, „das Leben ist eine einzige Talfahrt“, den sie Astrid wenig zukunftsfreudig angedöselt ins Ohr flüstert, als wären das Gedanken, mit denen man Kinder füttern sollte. Nachts hat Astrid einen visionären Alptraum von einem Unfall und wacht auf. Morgens ist die gruselige Nachricht herum, dass in dieser Nacht 21 der 24 Schüler unauffindbar verschwunden sind. Darunter auch Ida.
Creator der Serie ist Tea Lindeburg. Inszeniert hat die ersten vier Folgen Søren Balle, dessen schönes Spielfilmdebüt KLUMPFISKEN / DER MONDFISCH (2014) auch in Deutschland zu sehen war. Beide sind serienerfahren. Grundlage von EQUINOX, der Serie, ist Lindeburgs Hörspiel „Equinox 1985“ auf Danmarks Radio, bestehend aus 10 Teilen mit jeweils einer knappen halben Stunde Länge. Die erste Sendung wurde am 24.4.2017 ausgestrahlt, der Rest folgte wöchentlich. Es ist ein geschickt und spannend montiertes Hörspiel mit atmosphärischer Musik und passenden Toneffekten. Im Radio gibt es Tea Lindeburg als fiktives Ich Tea Lindeburg, die in der Straße der verschwundenen Ida gewohnt und diese sehr bewundert hat. Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema ist ein anonymer Brief über den Selbstmord von Jacob Skipper, einem der nicht verschwundenen Schüler. Es folgen Berichte, Nachforschungen, Interviews mit allen Beteiligten.
Die Serie verzichtet auf solche literarischen Kunstgriffe, aber das Medium Radio spielt dennoch die zentrale, die Story in Gang setzende Rolle. Idas jüngere Schwester Astrid, mit nervösem starken Willen gespielt von Danica Curcic, lebt zwanzig Jahre später auf Bornholm, hat Ex-Mann und Tochter. Sie moderiert eine Sendung über Aberglauben, über dessen Rationalisierung mit einfachen Erklärungen. Dazu Gespräche mit Hörern, und so bekommt sie eines Tages einen kurzen Anruf von diesem erwähnten Jacob Skipper und rastet danach aus, weil sie ihn ohne Kontaktinfo nicht selbst erreichen kann. Sie fliegt nach Kopenhagen, steigt in die Recherche ein, beginnend bei den eigenen, seit Langem geschiedenen Eltern: beim widerstrebenden Vater, der Ida als mit Sicherheit tot ad acta gelegt hat und bei der Mutter, deren Haus einem Museum der Vergangenheit gleicht. Erzählt wird auf drei zeitlichen Ebenen: Erstens Astrids Nachforschungen in der Gegenwart. Zweitens ihre Erlebnisse in der Kindheit direkt nach dem Verschwinden der Schwester. Drittens die Erlebnisse von Ida und ihren Freunden bis zum Verschwinden, eine Art Vorzugswissen für den Zuschauer, sodass man nicht die ganze Zeit gemeinsam mit der Protagonistin Astrid im Dunkeln tappen muss.
Die Serie lebt zum einen von der mysteriösen, märchenhaft-poetischen, teilweise alptraumhaften Stimmung. Diese entsteht vor allem durch die Träume Astrids von einer toten Landschaft im orangenen Nebel. Die dunklen Bäume haben Wurzeln wie Riesenspinnenbeine. In ihren Stämmen sind Menschen gefangen, Körperteile sind zu erahnen. Als bedrohliches Wesen herrscht ein Hasenmonster, dessen Ohren eher wie satanische Hörner wirken, so wie die Hörner, die man auf Tiermenschgestalten in alten Höhlenmalereien sehen kann. Astrid sieht auch den ebenfalls verschwundenen Fahrer des Schülerwagens, dessen Darsteller man übrigens schon in der Anfangsszene kurz als Søren Pilmark identifizieren und so ein späteres, wichtigeres Wiederauftauchen erahnen kann. Astrid verliert sich als Kind fast in diesem Nebel, kommt nicht heraus, während sie verzweifelt ihre Schwester darin sucht. Sie schlafwandelt, landet im Krankenhaus, wo man entscheidet, sie sei krank und brauche Pillen.
Später stößt die erwachsene Astrid auf das entscheidende Zeichen, das einen uralten heidnischen, animistischen Opfer- und Fruchtbarkeitskult um die Göttin Ostara symbolisiert und der direkt mit ihr zu tun haben scheint, worauf zumindest die Wiederkehr der Träume hinzudeuten scheinen. Bei ihren Nachforschungen rennt sie aber immer wieder gegen eine undurchdringliche Mauer, vor allem bei den Menschen, die ihr nahestehen. Sie wird angelogen oder stößt auf Lebenslügen, damit man in bequemen Illusionen weiterleben kann. Besonders deutlich wird das bei ihrem schon krankhaft und panikartigen rationalen Vater und bei Idas alter Freundin Amelia, die 20 Jahre später in einem vermeintlichen Peace-Ashram in Rumänien lebt, wo sie tagsüber die lächelnde Erleuchtete spielt und abends fürchterliche Schreikrämpfe hat. Und sie lügt über die vergangenen Ereignisse. Auf die Art wird nach und nach über der Welt der Erwachsenen ein dämonisches Netz der Verschwörungen sichtbar, dessen Eckpfeiler ausgerechnet Schule und Elternhaus sind.
Aber dann geht es auch um die Ideen von Mythos, Märchen und Wirklichkeit, und dass es für den einen das eine, für den anderen etwas anderes sein kann. Denn Ostara ist auch die Hauptfigur von Astrids Lieblingsmärchen ihrer Kindheit, das sie erzählt bekommt vom Vater und der es für sie als in Orange getauchtes Schattenspiel aufführt. Ein Schattenspiel wie in Platons Höhlengleichnis, wo Menschen Schatten als Wirklichkeit wahrnehmen. Die Serie lebt, neben der Atmosphäre und der spannenden Story als Mystery-Krimi, von dieser inneren Dramaturgie der Unsicherheit zwischen Einbildung und Wirklichkeit, die am Ende leider einen gewissen dramaturgischen Selbstzweck gewinnt. Da ist EQUINOX dann mehr Psychologie als Mystery.
Den ganzen Schluss beherrscht diese Unsicherheit, mit langen Szenen von Astrid als Kind in der Psychiatrie, was die Rezeption auf Dauer etwas zu sehr in eine übervolle, vergrübelte Denksportaufgabe kippen lässt, die irgendwie überflüssig wirkt, da man als Zuschauer die Geschichte Idas erzählt bekommen hat. Es sei denn, man würde diese auch als Astrids Imagination entziffern, aber dann würde vieles andere keinen Sinn ergeben. Und irgendwie habe ich mir da gewünscht, dass die Serie diese intellektuellen Achterbahnloopings beenden und einfach mal stehen bleiben würde und sich dem Ostara-Geheimnis überlassen würde. Dass der Schluss dann unbefriedigend abrupt und kurz ist, liegt dann wohl auch daran, dass man auf eine zweite Staffel spekuliert.