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Freitag, 12. März 2021

Frelle Petersens ONKEL – Leben auf dem Hof

Ort der Handlung des dänischen Films ONKEL (2019) – nach HUNDELIV (2016) die zweite Spielfilmregie von Frelle Petersen – ist Südjütland, in der Gegend von Tondern. Ein Bauernhof ist der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt der zwei Hauptfiguren, eines Onkels und seiner Nichte, die nach dem Schlaganfall des alten Mannes fast die ganze Arbeit allein machen muss. Die beiden sind ein seltsames, aber auch eingespieltes Paar, das sich ohne Worte versteht. Morgens sitzen sie stumm am Essenstisch. Jeder Handgriff ist eingespielt, eingeübt, wie in einem Ritual. Sie liest beim Essen, hat also noch andere Interessen. Und sie bevormundet ihn, macht alles Schwierige selbst. Wenn sie mal länger weggeht, zählt sie auf, was er nicht machen soll, als wäre er ein Kind. Sie weckt ihn, hilft ihm beim Anziehen. Als er einmal selbst aufsteht und vor ihr am Frühstückstisch sitzt, fragt sie ihn: „Wie bist du aufgestanden?“ Antwort: „Erst das eine Bein, dann das andere.“ Das ist der kleine stille Humor von ONKEL, eine feine Ironie ohne spöttisch-derbem Bauernschwank, wobei Bauernschwänke selbstverständlich etwas Schönes sein können. Wenn sie, weil das Auto kaputt ist, mit dem Trecker zum Bäcker und zur Kirche fährt, dann ist das keine gezielte Pointe, sondern einfach sanft amüsante Wirklichkeit.

Jette Søndergaard und Peter Hansen Tygesen spielen die Hauptrollen. Die beiden sind ein reales Nichte-Onkel-Gespann. Wer Tygesen im Netz sucht, wird auf die Adresse des Bauernhofes des Films stoßen. Nichte Jette ist aber nicht auf dem Hof geblieben, sondern nach Kopenhagen gegangen, um Tierärztin zu werden. Doch in Wirklichkeit lockte die Schauspielerei. Und so erzählt der Film ein bisschen das, was eben nicht passiert ist, aber hätte passieren können. Frelle Petersen schrieb übrigens sein Drehbuch im Campingwagen auf dem Hof und konnte so die tägliche Arbeit verfolgen. Zur praktischen, visuellen, atmosphärischen Authentizität kommt noch die sprachliche: ONKEL ist ein Film, für den auch manche Dänen Untertitel brauchen können, denn hier wird Sønderjysk, der südjütländische Dialekt, gesprochen. Auch der Tierarzt des Films ist real, ein Amateur.

ONKEL ist ein faszinierender Film, der mit den formalen Mitteln des Sozialrealismus, wo es äußerlich um Themen wie Familienbetrieb und Hofnachfolge geht, eine sehr innerliche Geschichte erzählt, aber den Figuren ihre Geheimnisse lässt und sie nicht soziologisch determiniert. Stilistisch herrschen feste Einstellungen vor. Ständig ist der Betrieb im Bild. Oft sieht man Nichte und Onkel, aber vor allem sie, eingeengt durch zwei Wände oder eine Türöffnung. Das, was man Freiheit nennt, hat man nicht mit solch einem Hof, und weil sie allein sind, werden sie noch mehr als andere in Anspruch genommen. Aber es gibt auch eine Montagesequenz der Arbeit mit schöner, heiter-feierlicher Musik. Und immer wieder sieht man Bilder von der Landschaft, vom Himmel, eingebettet in Regelmäßigkeit. Da sind die Krähenschwärme über der Marsch.

Dann erhält sie wohlmeinenden Antrieb von außen, etwas Eigenes zu machen, endlich herauszukommen. Auch der Onkel unterstützt das. Zum einen ein Tierarzt, zum anderen ein Verehrer wollen, dass sie ein selbstständiges Leben führt. Der Hof müsse doch sowieso verkauft werden. Und sie will ja Tierärztin werden. Eigentlich. Und will auch nicht. Bei einer Fahrt nach Kopenhagen, da werden ihre Befürchtungen wahr, dass der Onkel allein nicht klarkommt. Man kann fast das Gefühl bekommen, dass das ihr innerster Wunsch war, bloß, um zurückfahren zu dürfen. Als hätte sie es heraufbeschworen. ONKEL geht nicht in die psychologische Tiefe und bemüht keine Theorien und ihre Begriffe. Dieser Bereich, wo die Klischees und die geistigen Verarmungen lauern, wird geschickt vermieden. Die kann man selbst hinein interpretieren, mit Stichworten wie Verlustangst, Verlassensangst, Bindung, Verantwortungsgefühl, Heimat, die letzte familiäre Konstante, vor allem, wo ihre Eltern tot sind. Man kann spekulieren, vielleicht von allem ein bisschen. Man kann es aber auch bleiben lassen. Die Bilder geben nur Hinweise, es bleiben diese Unsicherheiten, Leerstellen. Und die machen den Film so spannend.

Frelle Petersen bedient sich sparsamer Ausdrucksmittel, ohne skurril oder komisch zu sein, um dieses Hin- und Hergerissensein wortlos zu zeigen. Der Zuschauer ist angewiesen auf Blicke, Körperhaltungen. Da sind bestimmte Szenen und ihre Wiederholungen, Variationen, Veränderungen: Aufstehen, Frühstück, Arbeit, Einkauf im Supermarkt, das abendliche Scrabble-Spiel, Fernsehen, wenn eine dänische Komödienserie der 70er läuft. Sie ist plötzlich mit den Gedanken woanders, verliert ihre Konstanz, durchlebt Stimmungswechsel. Sie wird auch mal ruppig, und da verändern sich die eingespielten Rituale am Esstisch. Man sieht sie ungeduldig, vergesslich, sie deckt den Tisch nicht richtig. Niedlich-absurd sind ihre Dates. Denn zum Verehrer ist sie nicht nur still abweisend, sie nimmt zur Sicherheit auch immer den Onkel mit. Nur einmal springt sie aus dem Auto und gibt dem jungen Mann einen Kuss.

Aber sie wagt sich nicht hinaus, und selbst der Zuschauer ist hin- und hergerissen. Man hat einerseits, wie die Menschen um sie herum, das Gefühl, dass das eigentlich keine Zukunft für sie allein hat. Andererseits hat es auch etwas Schönes, wie sie an dem Ganzen festhält. Auch wenn man leider am Ende nicht mehr das Gefühl hat, dass es sie wirklich noch glücklich oder zumindest zufrieden macht. ONKEL hat ein offenes Ende, aber das Leben ist nicht mehr so selbstverständlich in sich ruhend wie am Anfang. Da ist ein Bruch. Das TV-Gerät ist kaputt gegangen. Der Onkel schaut aus Gewohnheit nach oben auf den Schrank, wo es steht und wo nichts mehr zu sehen ist und gibt dann auf. Etwas ratlos gucken Onkel und Nichte sich an.