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Mittwoch, 13. Januar 2021

ZEIT EINER FRAU – Erinnerungen einer Toten

 

© Joonas Pulkkanen (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)

 

ZEIT EINER FRAU / NEITI AIKA (Finnland 2019) von Elina Talvensaari ist ein schöner, kleiner, unspektakulärer finnischer Dokumentarfilm, den ich auf den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 gesehen habe. Er erzählt in der ersten Person Singular eine andere, ursprünglich fremde Lebensgeschichte und beinhaltet gleichzeitig die Auswirkungen, die das Entdecken dieser Biografie auf das Ich, die Regisseurin und Erzählerin, hat. Auf diese Art entsteht ein einfühlsamer, zärtlicher Film, dessen Vorgehensweise auf den ersten Blick durchaus ein wenig pietätlos wirken mag – und ich gebe gerne zu, dass ich in den ersten Minuten ein skeptisch ungutes Gefühl hatte angesichts des doch unautorisierten Eindringens und Offenlegens von Privatheit. Doch es wird die Schönheit dieses Lebens freigelegt, die Bedeutung wird mit ausgegraben. ZEIT EINER FRAU ist eine Biografie, ein Familienfilm und sogar ein bisschen ein Geisterfilm.

Alles beginnt damit, dass ein Ehepaar eine kleine 2,3-Zimmer-Wohnung kauft. Mit im Kaufpreis enthalten sind die gesamte Einrichtung und die Dinge der vorherigen Besitzerin und Bewohnerin. Die hieß Sirkka-Liisa Miettinen (1915-2012), kaufte mit ihrem Mann diese Wohnung in der Anlage, die Teil des olympischen Dorfes der Spiele in Helsinki von 1952 ist. Bis zu ihrem Tod hat sie dort etwa 60 Jahre lang gelebt. Talvensaari fühlt sich am Anfang unwohl mit all den fremden Sachen. Es hat zunächst etwas Unangenehmes, aber die Präsenz der Dinge führt dann zu natürlicher Neugier, Nachforschung und im Endeffekt diesem Film.

Und Talvensaari mag in ihrem Kommentar noch so sehr allgemein darüber theoretisieren, dass die Dinge mit dem Tod der Besitzerin in die Leere der Bedeutungslosigkeit gefallen, ihren neutralen Wert wiederbekommen hätten. Denn sie haben mit Talvensaaris eigenem Blick ja sofort eine neue Bedeutung erhalten. Eine Anziehungskraft ging von ihnen aus, sonst hätte Talvensaari sie sofort genervt weggeworfen, um sich möglichst zügig von all dem Ballast und dem Müll zu befreien. Aber sie betrachtet das alles eben nicht als Ballast oder Müll. Und während ich über diese Zusammenhänge schreibe, fällt mir der großartige norwegische Spielfilm DEN HEMMELIGHETSFULLE LEILIGHET (1948) von Tancred Ibsen ein, wo ein Mann eine voll möblierte Wohnung kauft und von der Präsenz der Dinge und ihres dadurch darin immer noch anwesenden Vorbesitzers gefangen genommen wird.

Es ist also die Geschichte einer Annäherung, biografisch wie gefühlsmäßig. Rein praktisch ist es aber erst einmal reine Detektivarbeit, in der die Dinge, die daraus hervorgehenden Informationen und die Kombinationen und Schlussfolgerungen ein Leben offenbaren. Talvensaari taucht ein in all diese Gegenstände, Erinnerungsstücke, das sich im Laufe eines Lebens irgendwie angehäufte Sammelsurium, die Fotos, die Briefe, die Super-8-Filme. Aber es es gibt natürlich auch Leerstellen und sich daraus ergebende Vermutungen, von außen herangetragene Interpretationen, aber viel anders ergeht es einem ja auch nicht mit den lebendigen Mitmenschen um einen herum. Talvensaari erweitert ihre Nachforschungen, bewegt sich außerhalb der Wohnung, findet das Innere des Hauses von Sirkka-Liisas Großmutter als zu besichtigenden Teil eines Lokalmuseums.

Talvensaari nimmt wie in Echtzeit, als wären sie gerade erst passiert, teil an den Schicksalsschlägen Sirkka-Liisas, an der Operation in jungen Jahren, nach der sie keine Kinder bekommen konnte, und vor allem am Tod der jungen Nichte, der Ersatz-Tochter, die mit in den Urlaub fuhr. Sie deutet früh ein trauriges Ende dieser heiter und nett wirkenden hübschen jungen Frau an, arbeitet also mit kleinen dramaturgischen Kunstgriffen. Sie holt dieses Vergangene in die Gegenwart. Im Ganzen wird sie ungeheuer vertraut mit allem, erkennt irgendwann alle Verwandten auf Anhieb auf Bildern wieder.

Und da ist noch diese andere Vertrautheit mit vielen Fotos, weil sie ja aus genau dieser Wohnung stammen, dieselben Zimmer, denselben Balkon, dieselbe Umgebung zeigen. Das eigene Leben innerhalb dieser vier Wände verbindet sich mit dem, das hier mal stattgefunden hat. Und so ist es auch ein Film über die Regisseurin selbst, ihr eigenes Privat- und Eheleben in der Wohnung, wobei sie sich aber nur sehr angenehm dezent in Szene setzt. Und da bleibt es nicht aus, dass sie Verbindungen herstellt, vom eigenen glücklichem Familienleben hin zu einer immer größer werdenden Einsamkeit, die sich um Sirkka-Liisa bildet. Denn diese lebte noch 20 Jahre ohne Familienmitglieder, die alle weit vor ihr starben. Fotos zeigen sie auf Reisen, auf immer der gleichen, langsam alt werdend. Aber der äußere Eindruck und die eigenen Vorstellungen spiegeln oft eben doch nur Klischees oder eigene Ängste wieder. Auch das thematisiert Talvensaari. Die Regisseurin hat erst die Vorstellung eines einsamen Begräbnisses, aber da täuschte die düstere Fantasie. Am Ende erfährt sie etwas über das wirkliche Begräbnis mit vielen Menschen, das Sirkka-Liisa selbst noch organisiert hat.

Am Ende ist Sirkka-Liisa auf eine seltsame, aber auch schöne Weise wie ein verstorbenes Familienmitglied, dessen Grab man gemeinsam besucht, auf das man Blumen legt, etwa eine Rose im Schnee, wie im Film zu sehen. Und ganz am Ende zieht die Familie aus. Zwei Kinder sind zu viel für die zu eng werdende Wohnung. Einiges von Sirkka-Liisas Einrichtung und Gegenständen zieht mit aus, denn es ist Bestandteil des Familienlebens geworden. Und diesmal ist die Wohnung ganz leer für den oder die neuen Bewohner.