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Mittwoch, 6. Januar 2021

Kinderfilme und Jugendfilme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020

 

© Agnese Zeltina

Zumindest einen echten Vorteil der Online-Ausgabe der Nordischen Filmtage Lübeck 2020 gab es für mich. Ich hatte von zu Hause aus Ruhe und Gelegenheit, mit vier schönen und gänzlich verschiedenen Filmen aus Lettland, Schweden, Norwegen und Dänemark bei den Kinder- und Jugendfilmen hineinzuschauen, was ich sonst immer versäume, denn irgendetwas anderes vermeintlich Wichtigeres und Bedeutsameres gibt es ja immer. Wobei bei Kinderfilmen noch das Problem hinzukommt, dass sie beim normalen Festivalablauf im Kino deutsch eingesprochen werden und daher von vornherein ausscheiden. Bei drei der vier hier besprochenen Filme wäre dies laut Katalog der Fall gewesen.

 

JELGAVA 94

Der lettische Film JELGAVA '94 (2019) von Jānis Ābele beruht auf einem autobiografischen Roman von Jānis Joņevs von 2014. Jonevs spaziert zwischendurch selbst durch den Film, kommuniziert sogar mit seinem jüngeren Ich, wodurch der Akt des Erinnerns und des kontinuierlichen Dialogs des Erlebten mit dem Erinnerten sehr direkt und physisch in die Geschichte mit hineingenommen wird. Aber vermutlich macht es auch Sinn wegen der Popularität des Autors im Heimatland, wo er für seinen Roman schließlich einen Literaturpreis bekommen hat.

Im Mittelpunkt von JELGAVA '94 steht ein 14-jähriger braver Junge und sehr guter Schüler mit perfektem Seitenscheitel, der sich hartnäckig und mit Aufbietung seiner ganzen Intelligenz nach unten in die Metal-Subkultur seines Provinznestes Jelgava arbeitet. Da, wo es laut, heiter, provokakativ, dreckig und versoffen zugeht. Es ist die zeitlose Geschichte einer Befreiung, einer individuellen Rebellion für die Ausweitung des in engen Bahnen gesteuerten Ichs. Hier findet er eine lockere Gemeinschaft fern ab vom braven Lernen und den sich  ständig streitenden Eltern in der Hochhaussiedlung. Nur mit den Mädchen klappt es immer noch nicht so, wie er möchte. JELGAVA '94 wirkt sehr authentisch, direkt, echt, zwischen sozial-nostalgischem Realismus und humorvoller Coolness.

Es ist sicher nicht beabsichtigt, aber der Film erschien mir wie eine postsozialistische Antwort oder Verlängerung des 2019 auf der Retrospektive der Nordischen Filmtage gezeigten litauischen Films DIE KINDER VOM HOTEL AMERIKA (1990), wo im Jahre 1972 Vertreter der US-inspirierten Jugendkultur es ernsthaft mit dem KGB zu tun bekommen. Die Metal-Kids von 1994 stoßen allenfalls auf moralische Entrüstung, die sich aber nicht mehr in Repression äußern kann. Sonst sind die meisten Erwachsenen eigentlich guten Willens. Was den Helden der Geschichte nicht davon abhält, aus dem vierten Stock zu springen, um dem Hausarrest zu entgehen. Wie die meisten Jugend-Subkulturen existiert man auch hier irgendwo zwischen heiliger Idiotie und heroischem Widerstandsgeist. Der schlimmste Gegner der Jugendlichen ist die provinzielle Populärkultur-Mangelwirtschaft. Da trampt man extra in die Hauptstadt, um zu einem Heavy-Metal-Flohmarkt im Wald zu gelangen, wo man LPs auf Cassette für die nächste Woche bestellen kann. Metal-Veteranen reden derweil über die Verhaftungen von früher, als wäre es ein Stück goldener Erinnerung.

© Agnese Zeltina
 

SUNE – BESTER MANN 

Jan Holmbergs SUNE – BESTER MANN / SUNE – BEST MAN (Schweden 2019) ist die Fortsetzung von SUNE VS SUNE (2018), wo es für einen Viertklässler um die Frage des „wer bin ich eigentlich?“ ging. Das Ganze spielt sich ab in einer Familie mit drei Kindern und dieser charmante und äußerst sympathische Film, der Humor mit klassischen Familienwerten paart, lebt vor allem von der ständigen Spiegelung der Kinder- mit den Elternproblemen, die voneinander gar nicht so verschieden sind. Dazu kommen die fiktiven Science-Fiction-Spiele des kleinen Bruders in einer imaginären Marsumgebung, zu denen sich am Ende sogar der Vater gesellt.

Der Faden, der sich jetzt durch die Handlung von SUNE – BESTER MANN zieht, ist die Familienkrankheit, sich nicht entscheiden zu können. Sunes Dilemma lautet: Pflicht oder Neigung, Familie oder Liebe, weniger tragödienhaft ausgedrückt: Fährt er zur Hochzeit des Großvaters oder macht er den Schulausflug mit der Angebeteten? Regisseur Holmberg geht hier nun einen ganzen Schritt weiter und überträgt das in eine temporeiche Actionkomödie, die äußerst bewegungsfreudig und witzig ist. Gäbe es bei den Filmtagen einen sektionsübergreifenden Komödienpreis, dann hätte SUNE – BESTER MAN ihn bekommen müssen. Die Story ist voll absurden Humors, amüsant, pointiert und einfallsreich inszeniert. Die Figuren sind allesamt etwas schräg, vor allem die seltsamen Erwachsenen, aber auf nette Weise. Der kleine Bruder hat sich zu einem fast unheimlichen Computer-Nerd-Genie entwickelt, das den manchmal etwas orientierungslosen Sune durch so manches Labyrinth schleust. Da gibt es auch zerstreute Polizisten, die wie die Enkel der Pippi-Langstrumpf-Gendarmen wirken. Und als Belohnung für seine unermüdlichen Mühen hat Sune am Ende plötzlich wie durch ein Wunder zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Kiergekaard hatte eben nicht recht mit seinem Entweder-oder, Sowohl-als-auch ist durchaus möglich.

 

© Niklas Maupoix
 
 

FLUCHT ÜBER DIE GRENZE

  
Johanne Helgelands FLUCHT ÜBER DIE GRENZE / FLUKTEN OVER GRENSEN (Norwegen 2020) ist ein Film über die Judenverfolgung im von der deutschen Wehrmacht besetzten Norwegen. Der Film überzeugt durch die Verbindung von spannender physischer Verfolgungsjagd, die einen zusätzlichen ästhetischen und dramatischen Reiz durch die hügeligen tiefen Schnee- und Waldlandschaften bekommt, und sehr subtile Charakterisierungen. Denn FLUCHT ÜBER DIE GRENZE macht es sich nicht leicht und vermeidet die Schwarzweißzeichnung.

Hauptfiguren sind zwei Mal zwei Geschwister. Einmal Gerda und Otto, mit Eltern im Widerstand, die verhaftet werden, dann die jüdischen Sarah und Daniel, die sich im Keller der Familie versteckt halten. Gerda lebt ganz in ihrer abenteuerreichen Fiktion, der Bruder ist klug und realistisch und hat etwas zu viel antisemitische Propaganda der Jugendorganisation der „Nationalen Sammlung“ im Kopf. Auf der anderen Seite der misstrauische ältere Daniel mit Sarah. Nach und nach raufen die vier sich zusammen, um die beiden Juden über die sichere Grenze nach Schweden hinüber zu bringen. So wird aus ihnen am Schluss eine verschworene Musketier-Truppe. Das ist dann der Sieg der sympathischen, heldenhaften Fiktion der Brüderlichkeit über eine menschenfeindliche, totalitär-rassistische Konstruktion der Welt. Ganz besonders unheimlich ist das moderne, eine geldgierige Spitzelin und Kollaborateurin beherbergende, Hexenhaus mit unnatürlich viel Essen und einem Bild Hitlers, statt eines Bildes von Satan, in einem Nebenzimmer. Von konkreter Politik abstrahierend geht es so ganz einfach um das Böse an sich.

 
© Maipo Film
 
 

LUCIA UND DER WEIHNACHTSMANN 2

  
Bei Christian Dyekjærs Fortsetzungsfilm LUCIA UND DER WEIHNACHTSMANN 2 / JULEMANDENS DATTER 2 – JAGTEN PÅ KONG VINTERS KRYSTAL (Dänemark 2019), stellt sich zunächst einmal wieder die rhetorische Verleihfrage nach dem deutschen Titel: Wieso kann es nicht einfach wie im Original ”Die Tochter des Weihnachtsmanns” heißen? Denn darum geht es hier: die Generationenfolge. Weihnachten ist hier nicht zuletzt ein bürokratischer Akt, der gelernt sein will. Und da Kinder ja nicht erst seit Harry Potter, sondern schon seit Hanni & Nanni oder den Schreckenstein-Büchern Internate ganz toll finden, gibt es hier eine magische Weihnachtsschule. 
 
Und stand im ersten Teil noch die gute, aber doch etwas spannungsbremsende Gleichberechtigungsfrage in der Weihnachtsmannschule im Mittelpunkt, darf hier jetzt die Story die Oberhand haben. Und auch wenn es hier erneut nach Viborg geht, wenn auch nicht ganz so ausführlich, ist dieser Film visuell etwas künstlicher und damit auch einfallsreicher. Das Prinzip, die fantastisch-magischen Geschichten in realer Atmosphäre zu erzählen, behält man zwar zu einem großen Teil bei, aber zum einen sieht der Zuschauer viel mehr von der Weihnachtsmannwelt und zum anderen hat man ein surreales Universum des ewigen Eises entworfen. Und ein weiterer skurriler Höhepunkt sind die Nachforschungen in dem Geschäft und dem Keller einer Uhrmacherfamilie. Der Charme des Films liegt also zu einem großen Teil diesmal im Theaterartigen der Dekors, wobei man auf die oft so hässliche digitale Überfülle verzichtet. Das ergibt eine niedliche, intime Atmosphäre mit vielen hübschen Einfällen.

Und war es im ersten Teil eine verirrte Einzeltäterin, die relativ leicht zu besiegen war, geht es jetzt gegen bedrohliche, lebensfeindliche, gut organisierte und grau gekleidete Kräfte des Bösen, die Weihnachten und die Lebensfreude zerstören wollen. Dass die Feinde von Weihnachten in Kellern und Höhlen unter einer Kirche, dem Dom zu Viborg, hausen und mönchsartig herumlaufen, hat zwar etwas Merkwürdiges, passt aber zu einem Film, der sich sowieso nicht für die wahren Hintergründe eines christlichen Festes interessiert. Die bösen Asketen haben aber lustige Prinzipien, denn vom Essen muss man kotzen müssen. Und wie bei den meisten Moralpredigern lebt hier die Heuchelei, denn der Anführer isst statt Brechbrei lieber Hähnchenkeulen. Mit Wissenschaft und Magie schneit es am Ende sogar, wo es doch aber sofort schmilzt auf dem Boden. Eigentlich bräuchte man ja zusätzlich eine Kaltmach-Maschine. Aber vielleicht gibt es die ja im dritten Teil.

 
© Martin Dam Kristensen
  

 
Nachbemerkung: Die Zwischenexistenz von Jugendfilmen

2019 gab es auf deutschen Festivals, auch auf den Filmtagen Lübeck, den norwegischen Film PSYCHOBITCH (2019) von Martin Lund zu sehen, der vorwiegend in Jugendfilm-Sektionen gezeigt wurde und dann Ende des Jahres den Preis des online stattfindenden ArteKino-Wettbewerbs gewann. Das veranlasste den damaligen Chefredakteur der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma, Stéphane Delorme, dazu, eine grundsätzliche Kritik an der problematischen Zwischenexistenz von Jugendfilmen zu formulieren. Der folgende Absatz beinhaltet diesen interessanten Teil seiner Rezension in deutscher Übersetzung, auch wenn es natürlich eine vorwiegend französische Perspektive ist.

„Dass der Film, mit Erfolg also, auf ArteKino gezeigt wurde, offenbart zwei Dinge. Zum einen das schlechte Los, dass Jugendfilmen oft auf Festivals reserviert ist. Der Film wurde zum ersten Mal anlässlich der Berlinale 2019 präsentiert (bevor er seine französische Premiere auf dem Festival von La Roche-sur-Yon hatte), aber nur in der Sektion Generation (für ein junges Publikum), wo man übrigens ebenso Eine Kolonie der Quebecerin Geneviève Dulude-De Celles finden konnte, als wenn Filme „über die Teens“ keinen Zugang zum großen Becken des Berliner Wettbewerbs oder des Forums hätten. Dieses Konzept des „jungen Publikums“ ist schädlich: das war dasselbe Problem mit Königin von Niendorf , den wir bei seinem Start 2018 verteidigt haben, der aber nur in Hamburg gezeigt wurde und nicht über den Verleihweg „Junges Publikum“ bei Les Films du préau herauskam. Wenn nun Filme über die Jugendzeit auf dieses Verleih-Netzwerk beschränkt sind, ist man dazu verurteilt, nur amerikanische Teen Movies zu sehen und nichts darüber zu verstehen, was in den Köpfen der jungen Leute auf der ganzen Welt ausgeheckt wird.“ (Cahiers du Cinéma 2/2020)

P.S.: Gerechterweise sollte Folgendes angemerkt werden: Auf dem Filmfest Hamburg 2019 war PSYCHOBITCH ebenfalls im Programm. Dort war er zwar in der jungen Sektion „Michel“ zu sehen, aber eben auch gleichzeitig bei „Eurovisuell“. Er war nominiert sowohl für den „Michel Filmpreis“ als auch für den breiteren „Commerzbank Publikumspreis“. Ein Beispiel also für eine angemessene doppelte Kategorisierung.