Der Ausgangspunkt von May el-Thoukys dänischem Film HERZDAME (2019), der auf dem Filmfest Hamburg 2019 zu sehen war, ist erst einmal eine einfache Idee, ein mehr oder weniger
provokanter, kalkulierter Tabubruch. Man drehe eine Geschichte von,
juristisch gesehen, Familienmissbrauch zwischen einer noch nicht volljährigen und einer erheblich älteren Person, wo es ja meist
um Mann und Mädchen geht, geschlechtermäßig um. Darüber hinaus
mache man aus der erwachsenen Hauptfigur eine Anwältin, die
vorwiegend Mädchen bei Vergewaltigung und Kindesmissbrauch berät
und sie darin bestärkt, trotz aller Schwierigkeiten, Lügen und
Anfeindungen ihre Sache juristisch bis zum Ende durchzufechten. Schon
da entpuppt sie sich als etwas sehr bestimmt und resolut auftretende
Person, aber es geschieht ja im Namen des Guten. Immerhin werden ihr
sogar aus Dankbarkeit Blumen an die Haustür gebracht. Doch auf
einmal dreht sich ihre unversöhnliche und unerbittliche Logik, die
sie gegen die Angeklagten, gegen die meist männlichen Prozessgegner
anwendet, gegen sie selbst. Und, wenig überraschend vielleicht,
fühlt sie sich so unschuldig wie diese. „Wolltest du's nicht?“,
sagt sie hinterher zu ihrem 17-jährigem Stiefsohn, ein allerdings
noch sehr kindliches, unreifes, im Grunde böse verspieltes
Problemkind.
Zu dieser Story füge man
einige richtig explizite Sexszenen mit Trine Dyrholm, einer von Dänemarks
beliebtesten und auch international bekanntesten Schauspielerinnen.
Man muss zugeben, dass sich das, so gelesen, zunächst einmal
fürchterlich schablonenhaft anhört, wie ein skandalträchtiger
sozialrealistischer Konzeptfilm. Man könnte das Schlimmste
befürchten. Muss man aber nicht. Dass der Film sehr geglückt ist,
liegt an der ruhigen, natürlichen, unaufgeregten Konsequenz, an der
mitunter lyrischen, fast metaphysischen Herangehensweise, mit der die
Geschichte von der ersten bis zur knapp hundertzwanzigsten Minute
erzählt wird. Und so wird, zumindest beim ersten Sehen, durch die
Inszenierung, durch die uneitle, perfekte Hauptdarstellerin eine
echte Verstörung beim Zuschauer möglich gemacht.
Alles kreist um eine
moderne, wohl situierte Vorzeigefamilie, eingefahren in der
bürgerlichen, berufstätigen Routine. Da sind ein schwedischer Arzt,
eine dänische Anwältin, zwei gemeinsame Töchter, Zwillinge. Der
Mann war schon einmal verheiratet, hat aus der Ehe einen in Stockholm
lebenden 17-jährigen Sohn, der gerade einige Probleme hat und
deshalb zu dem Vater zieht. Der Junge hat gewisse unzufriedene
Rebellions-Tendenzen, täuscht einmal sogar einen Einbruch in das
Haus vor und lässt einige Wertsachen mitgehen. Ansonsten führt er
ein alterstypisches Leben, nimmt ein Mädchen mit in sein Zimmer,
sodass sehr laute Musik und laute Bettgeräusche durchs Haus dröhnen.
Das hinterlässt erste Spuren bei der Anwältin, wie man zu ahnen
beginnt. Nun ist das mit Sympathiefiguren und Identifikation in der
Fiktion eine sehr individuelle Sache, aber da der Junge so ein nerviger Satansbraten sein kann, sie so unangenehm dominant und
rechthaberisch ist und der Ehemann so fürchterlich blass und
langweilig daherkommt, ist es möglich, sich von Anfang an das Ganze mit Distanz anzuschauen.
Die physische Annäherung
zwischen Junge und Stiefmutter beginnt mit einer sehr ambivalenten
Szene, wo sie zunächst genervt sein unordentliches Zimmer aufräumt,
und ihn dann äußerst herausfordernd behandelt, als er halbnackt,
nur mit Handtuch um die Hüfte, von der Dusche direkt in den Raum
stolpert. Da ahnt man zum ersten Mal, dass in dieser Frau einiges an
Abgründen schlummert. Sie behandelt ihn in einer Mischung aus kühler
Dominanz und verständnisvoller Freundlichkeit, bleibt dabei etwas
undurchschaubar, was ihn offensichtlich durcheinander bringt. Und
nach einigen kleineren Annäherungen folgt eine raue, explizite
Sexszene. Sie kommt in sein Zimmer und, um es abstrakt zu sagen,
spielt solange an ihm herum, bis er nicht mehr anders kann. Und wer
schon immer sehen wollte, wie eine Filmfigur von Trine Dyrholm des
Mannes bestes Stück in den Mund nimmt, der darf den Film nicht
verpassen. Die Initiative geht ganz klar von ihr aus. Sie benutzt
ihn. Und er lässt sich gerne benutzen. Aber die Kamera konzentriert
sich ganz auf sie, verschont weitestgehend den Körper des Jungen.
Danach arbeitet der Film vorwiegend mit kurzen Szenen, Andeutungen,
um zu verdeutlichen, dass sie es einige Zeit lang treiben, wo und
wann immer sie können. Bei all dem ist in HERZDAME diese eine
längere Sexszene absolut unentbehrlich, denn man muss sehen, was sie
machen. Es würde vom Verlauf des Geschehens ablenken, wenn es da
Zweideutigkeit gäbe. Der Zuschauer muss es mit eigenen Augen gesehen
haben. Das Interessante ist, dass das Unerhörte, das wirklich
Skandalöse, was nach diese kurzen, aber heftigen Affäre passiert,
die Sexszenen völlig in den Schatten stellt, sodass diese am Ende gar
nicht mehr im Zentrum des Bewusstseins des Zuschauers liegen.
Alles spielt sich
zunächst ab vor der großen weiten Kulisse eines frühlingshaften,
sommerlichen Waldes, der durch die großen Glasfassaden des
Wohnhauses nie aus dem Blickfeld gerät. Nur der Rasen des Gartens
liegt dazwischen. Nachbarn kann man hier nicht sehen. Ein insularer Wohnort, wo
man die Kinder bei schönem Wetter unbesorgt und ohne weiter Aufsicht
an die frische Luft hinausjagen kann. Der Junge verändert die
Familie. So wie die beiden Mädchen lässt die Anwältin sich von
seiner verspielten Unschuld anstecken. Es kommt beim Baden in einem See zu einer
Wasserschlacht zwischen ihr und dem Jungen. Die Kamera ist mitten
dazwischen, die Wasserspritzer in der Luft funkeln im Sonnenlicht bei
diesem kindlichen Spiel. Dann schwimmt sie allein im Wasser, inmitten
gelb glitzernden Wassers, als wäre sie das Zentrum einer Sonne.
Dieser die Umwelt vergessende, selbstverliebte Charakterzug zeigt
sich auch bei bei einem Abendessen mit Freunden draußen auf der
Terrasse. Bei extremer Lautstärke tanzt sie allein zu „Tainted
Love“ von Soft Cell. Und wenn die Sonnenstrahlen das Laub im Wald zum Leuchten bringen und man das Paar in einer
weiten Totale relativ klein sieht, dann mag das eine gewisse
„Reinheit“ haben, die die Regisseurin wollte, aber es hat auch
eine gewisse düstere, unheimliche Romantik. Hinter der Naturlyrik
schlummern dunkle Triebe. Das alles hat nur eine scheinbare Unschuld.
„Er ist ein Kind!“, schimpft eine Freundin, die einzige
unfreiwillige Mitwisserin, die deshalb den Kontakt zur Familie
abbricht.
Schon die erste Szene des
Films deutete an, dass es so sommerlich harmonisch nicht endet. Da
sieht man die Anwältin mit Hund durch den Wald stiefeln, seltsam
militärartig gekleidet in dicken Stiefeln und langem dunklen Mantel. Dann beginnt
die fast bis zum Ende dauernde Rückblende. Die lange, zu beiden
Seiten bewachsene Einfahrt zum Haus herunter wird zu einer Fahrt in
die Hölle, die ja in Wirklichkeit kalt, dunkel und farblos ist. Und
wenn sie dann um ihr bürgerliches Überleben kämpft, greift sie zu
jedem Mittel, dass ihr ihre Anwaltstätigkeit beigebracht hat. Und
mit jeder kleinen Handlung, mit der sie den Jungen auf Distanz hält,
zerstört sie sich auch selbst. Sie denkt, sie rettet ihr Leben,
ruiniert es aber geistig. Und dem zuzusehen, ist das eigentlich
Verstörende an HERZDAME. Von der ehebrecherischen Liebeaffäre kann
jeder denken, wie er gerade moralisch gebaut ist. Da könnte man
einfach sagen, dass so was halt passiert, dass man nicht urteilen
mag. Aber wozu hier eine gute Bürgerin fähig ist, um ihre sichere,
gewohnte bürgerliche Existenz zu retten, ähnelt einem vollständig
amoralischen, selbstzerstörerischen Amoklauf, bei dem sich ihr Mann
wider besseres Wissen mit hinunterreißen lässt.
Und selbst wenn die
vierköpfige Familie am Ende noch zusammen ist, ist es doch nur noch
eine Fassade, diesem so eminent wichtigen bourgeoisen Bauwerk. Eine
untote Fassade, die ab sofort von einem unausgesprochenen, aber immer
präsenten Familiengeist heimgesucht werden wird. Und da wird die Analyse
des Bürgertums direkt metaphysisch anhand der Präsentation einer
Frau mit guten Taten nach außen und kalter Seele nach innen. Da
streift HERZDAME den Horrorfilm, zumindest in seiner Wirkung, denn am
Schluss, im Auto, sitzen vorne ein weibliches Monster und ihr stiller
Gehilfe, der weiche Ehemann, der sich wissentlich und willentlich von
der Frau manipulieren lässt.
Abschließend noch ein
paar Bemerkungen zum Filmtitel HERZDAME. Im Film wird den beiden
kleinen Mädchen regelmäßig aus „Alice im Wunderland“
vorgelesen. Da gibt es ja die Königin, die Herzdame, auf Dänisch
„Hjerter Dame“. Dennoch heißt der Film einfach „Dronningen“,
also „Die Königin“, was etwas allgemeiner, mehrdeutiger,
abstrakter ist und allgemein auf eine unantastbare, allmächtig
regierende Frau hindeutet. Man denkt vielleicht auch an
Ameisenkönigin, Bienenkönigin, um die sich ein ganzer Staat drehen.
Gut, vielleicht übersehe ich ein entscheidendes Detail, dann lasse
ich mich gerne korrigieren, aber warum man sich mit dem englischen –
QUEEN OF HEARTS – und dem deutschen Titel – HERZDAME –
so auf diese eine Figur aus der Lewis-Carroll-Geschichte festlegt,
ist seltsam. Es sei denn, man wollte ganz einfach Verwechslungen mit
dem Film THE QUEEN (2006) von Stephen Frears vermeiden. Kann ja auch
sein.
© Danish Film Institute / Rolf Konow (Quelle: Filmfest Hamburg)