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Sonntag, 13. Oktober 2019

Trine Dyrholm in HERZDAME – Die Königin

Der Ausgangspunkt von May el-Thoukys dänischem Film HERZDAME (2019), der auf dem Filmfest Hamburg 2019 zu sehen war, ist erst einmal eine einfache Idee, ein mehr oder weniger provokanter, kalkulierter Tabubruch. Man drehe eine Geschichte von, juristisch gesehen, Familienmissbrauch zwischen einer noch nicht volljährigen und einer erheblich älteren Person, wo es ja meist um Mann und Mädchen geht, geschlechtermäßig um. Darüber hinaus mache man aus der erwachsenen Hauptfigur eine Anwältin, die vorwiegend Mädchen bei Vergewaltigung und Kindesmissbrauch berät und sie darin bestärkt, trotz aller Schwierigkeiten, Lügen und Anfeindungen ihre Sache juristisch bis zum Ende durchzufechten. Schon da entpuppt sie sich als etwas sehr bestimmt und resolut auftretende Person, aber es geschieht ja im Namen des Guten. Immerhin werden ihr sogar aus Dankbarkeit Blumen an die Haustür gebracht. Doch auf einmal dreht sich ihre unversöhnliche und unerbittliche Logik, die sie gegen die Angeklagten, gegen die meist männlichen Prozessgegner anwendet, gegen sie selbst. Und, wenig überraschend vielleicht, fühlt sie sich so unschuldig wie diese. „Wolltest du's nicht?“, sagt sie hinterher zu ihrem 17-jährigem Stiefsohn, ein allerdings noch sehr kindliches, unreifes, im Grunde böse verspieltes Problemkind. 

Zu dieser Story füge man einige richtig explizite Sexszenen mit Trine Dyrholm, einer von Dänemarks beliebtesten und auch international bekanntesten Schauspielerinnen. Man muss zugeben, dass sich das, so gelesen, zunächst einmal fürchterlich schablonenhaft anhört, wie ein skandalträchtiger sozialrealistischer Konzeptfilm. Man könnte das Schlimmste befürchten. Muss man aber nicht. Dass der Film sehr geglückt ist, liegt an der ruhigen, natürlichen, unaufgeregten Konsequenz, an der mitunter lyrischen, fast metaphysischen Herangehensweise, mit der die Geschichte von der ersten bis zur knapp hundertzwanzigsten Minute erzählt wird. Und so wird, zumindest beim ersten Sehen, durch die Inszenierung, durch die uneitle, perfekte Hauptdarstellerin eine echte Verstörung beim Zuschauer möglich gemacht.

Alles kreist um eine moderne, wohl situierte Vorzeigefamilie, eingefahren in der bürgerlichen, berufstätigen Routine. Da sind ein schwedischer Arzt, eine dänische Anwältin, zwei gemeinsame Töchter, Zwillinge. Der Mann war schon einmal verheiratet, hat aus der Ehe einen in Stockholm lebenden 17-jährigen Sohn, der gerade einige Probleme hat und deshalb zu dem Vater zieht. Der Junge hat gewisse unzufriedene Rebellions-Tendenzen, täuscht einmal sogar einen Einbruch in das Haus vor und lässt einige Wertsachen mitgehen. Ansonsten führt er ein alterstypisches Leben, nimmt ein Mädchen mit in sein Zimmer, sodass sehr laute Musik und laute Bettgeräusche durchs Haus dröhnen. Das hinterlässt erste Spuren bei der Anwältin, wie man zu ahnen beginnt. Nun ist das mit Sympathiefiguren und Identifikation in der Fiktion eine sehr individuelle Sache, aber da der Junge so ein nerviger Satansbraten sein kann, sie so unangenehm dominant und rechthaberisch ist und der Ehemann so fürchterlich blass und langweilig daherkommt, ist es möglich, sich von Anfang an das Ganze mit Distanz anzuschauen.

Die physische Annäherung zwischen Junge und Stiefmutter beginnt mit einer sehr ambivalenten Szene, wo sie zunächst genervt sein unordentliches Zimmer aufräumt, und ihn dann äußerst herausfordernd behandelt, als er halbnackt, nur mit Handtuch um die Hüfte, von der Dusche direkt in den Raum stolpert. Da ahnt man zum ersten Mal, dass in dieser Frau einiges an Abgründen schlummert. Sie behandelt ihn in einer Mischung aus kühler Dominanz und verständnisvoller Freundlichkeit, bleibt dabei etwas undurchschaubar, was ihn offensichtlich durcheinander bringt. Und nach einigen kleineren Annäherungen folgt eine raue, explizite Sexszene. Sie kommt in sein Zimmer und, um es abstrakt zu sagen, spielt solange an ihm herum, bis er nicht mehr anders kann. Und wer schon immer sehen wollte, wie eine Filmfigur von Trine Dyrholm des Mannes bestes Stück in den Mund nimmt, der darf den Film nicht verpassen. Die Initiative geht ganz klar von ihr aus. Sie benutzt ihn. Und er lässt sich gerne benutzen. Aber die Kamera konzentriert sich ganz auf sie, verschont weitestgehend den Körper des Jungen. Danach arbeitet der Film vorwiegend mit kurzen Szenen, Andeutungen, um zu verdeutlichen, dass sie es einige Zeit lang treiben, wo und wann immer sie können. Bei all dem ist in HERZDAME diese eine längere Sexszene absolut unentbehrlich, denn man muss sehen, was sie machen. Es würde vom Verlauf des Geschehens ablenken, wenn es da Zweideutigkeit gäbe. Der Zuschauer muss es mit eigenen Augen gesehen haben. Das Interessante ist, dass das Unerhörte, das wirklich Skandalöse, was nach diese kurzen, aber heftigen Affäre passiert, die Sexszenen völlig in den Schatten stellt, sodass diese am Ende gar nicht mehr im Zentrum des Bewusstseins des Zuschauers liegen.

Alles spielt sich zunächst ab vor der großen weiten Kulisse eines frühlingshaften, sommerlichen Waldes, der durch die großen Glasfassaden des Wohnhauses nie aus dem Blickfeld gerät. Nur der Rasen des Gartens liegt dazwischen. Nachbarn kann man hier nicht sehen. Ein insularer Wohnort, wo man die Kinder bei schönem Wetter unbesorgt und ohne weiter Aufsicht an die frische Luft hinausjagen kann. Der Junge verändert die Familie. So wie die beiden Mädchen lässt die Anwältin sich von seiner verspielten Unschuld anstecken. Es kommt beim Baden in einem See zu einer Wasserschlacht zwischen ihr und dem Jungen. Die Kamera ist mitten dazwischen, die Wasserspritzer in der Luft funkeln im Sonnenlicht bei diesem kindlichen Spiel. Dann schwimmt sie allein im Wasser, inmitten gelb glitzernden Wassers, als wäre sie das Zentrum einer Sonne. Dieser die Umwelt vergessende, selbstverliebte Charakterzug zeigt sich auch bei bei einem Abendessen mit Freunden draußen auf der Terrasse. Bei extremer Lautstärke tanzt sie allein zu „Tainted Love“ von Soft Cell. Und wenn die Sonnenstrahlen das Laub im Wald zum Leuchten bringen und man das Paar in einer weiten Totale relativ klein sieht, dann mag das eine gewisse „Reinheit“ haben, die die Regisseurin wollte, aber es hat auch eine gewisse düstere, unheimliche Romantik. Hinter der Naturlyrik schlummern dunkle Triebe. Das alles hat nur eine scheinbare Unschuld. „Er ist ein Kind!“, schimpft eine Freundin, die einzige unfreiwillige Mitwisserin, die deshalb den Kontakt zur Familie abbricht.

Schon die erste Szene des Films deutete an, dass es so sommerlich harmonisch nicht endet. Da sieht man die Anwältin mit Hund durch den Wald stiefeln, seltsam militärartig gekleidet in dicken Stiefeln und langem dunklen Mantel. Dann beginnt die fast bis zum Ende dauernde Rückblende. Die lange, zu beiden Seiten bewachsene Einfahrt zum Haus herunter wird zu einer Fahrt in die Hölle, die ja in Wirklichkeit kalt, dunkel und farblos ist. Und wenn sie dann um ihr bürgerliches Überleben kämpft, greift sie zu jedem Mittel, dass ihr ihre Anwaltstätigkeit beigebracht hat. Und mit jeder kleinen Handlung, mit der sie den Jungen auf Distanz hält, zerstört sie sich auch selbst. Sie denkt, sie rettet ihr Leben, ruiniert es aber geistig. Und dem zuzusehen, ist das eigentlich Verstörende an HERZDAME. Von der ehebrecherischen Liebeaffäre kann jeder denken, wie er gerade moralisch gebaut ist. Da könnte man einfach sagen, dass so was halt passiert, dass man nicht urteilen mag. Aber wozu hier eine gute Bürgerin fähig ist, um ihre sichere, gewohnte bürgerliche Existenz zu retten, ähnelt einem vollständig amoralischen, selbstzerstörerischen Amoklauf, bei dem sich ihr Mann wider besseres Wissen mit hinunterreißen lässt.

Und selbst wenn die vierköpfige Familie am Ende noch zusammen ist, ist es doch nur noch eine Fassade, diesem so eminent wichtigen bourgeoisen Bauwerk. Eine untote Fassade, die ab sofort von einem unausgesprochenen, aber immer präsenten Familiengeist heimgesucht werden wird. Und da wird die Analyse des Bürgertums direkt metaphysisch anhand der Präsentation einer Frau mit guten Taten nach außen und kalter Seele nach innen. Da streift HERZDAME den Horrorfilm, zumindest in seiner Wirkung, denn am Schluss, im Auto, sitzen vorne ein weibliches Monster und ihr stiller Gehilfe, der weiche Ehemann, der sich wissentlich und willentlich von der Frau manipulieren lässt.

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zum Filmtitel HERZDAME. Im Film wird den beiden kleinen Mädchen regelmäßig aus „Alice im Wunderland“ vorgelesen. Da gibt es ja die Königin, die Herzdame, auf Dänisch „Hjerter Dame“. Dennoch heißt der Film einfach „Dronningen“, also „Die Königin“, was etwas allgemeiner, mehrdeutiger, abstrakter ist und allgemein auf eine unantastbare, allmächtig regierende Frau hindeutet. Man denkt vielleicht auch an Ameisenkönigin, Bienenkönigin, um die sich ein ganzer Staat drehen. Gut, vielleicht übersehe ich ein entscheidendes Detail, dann lasse ich mich gerne korrigieren, aber warum man sich mit dem englischen – QUEEN OF HEARTS – und dem deutschen Titel – HERZDAME – so auf diese eine Figur aus der Lewis-Carroll-Geschichte festlegt, ist seltsam. Es sei denn, man wollte ganz einfach Verwechslungen mit dem Film THE QUEEN (2006) von Stephen Frears vermeiden. Kann ja auch sein.


© Danish Film Institute / Rolf Konow (Quelle: Filmfest Hamburg)