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Donnerstag, 17. Oktober 2019

Grímur Hákonarsons THE COUNTY – Amokfahrt mit Milch


Bekannt wurde der isländische Regisseur Grímur Hákonarson mit dem Film STURE BÖCKE (2015), der von zwei zerstrittenen Brüdern, beide Schafzüchter, handelt, die sich wegen harter Regierungsmaßnahmen gegen Scrapie notgedrungen und sehr widerwillig zusammentun müssen. Da geht es um die Lebens- und Existenzgrundlage von Bauern, angereichert mit einem schrägen Humor, den man ja oft in hochnordischen Filmen findet und der sie meist sehr unterhaltsam macht, der aber manchmal auch eine gewisse emotionale Distanz zum Geschehen erzeugt. Jetzt geht es in Hákonarsons neuem Film THE COUNTY (2019) wieder um Leben oder Pleite auf dem Land. Aber diesmal hat sein Film eine direkte emotionale Zugänglichkeit. Der Humor ist luftiger, gedämpfter, echter und lenkt nicht von der Geschichte ab. Es ist eine Art politisches Melodrama, das das sehr Intime mit dem großen Politischen verbindet und dabei, wohlgemerkt unabhängig von der weiten Landschaft, etwas Episches an sich hat.

Dabei ist gerade die Bodenständigkeit die Grundlage für die Schönheit des Films. Und die ist notwendig, da die Story den Kontakt zur Wirklichkeit nicht verlieren durfte, weil es sich um die Fiktionalisierung konkreter politisch-wirtschaftlicher Schwierigkeiten und Fakten handelt. Die geschilderten Probleme rund um eine Genossenschaft beruhen im Prinzip auf Berichten, die Hákonarson bei Recherchen ohne Kamera erzählt bekam. Allerdings wollte niemand damit an die Öffentlichkeit, was insofern ein Glück ist, als dass ein Doku-Film es wegen des Randthemas dann vermutlich nicht über ein paar Festivals hinaus gebracht hätte. Aber so wurde eine kleine große Geschichte daraus, wobei der Regisseur den Widerstand und eine Lösung hinzuerfand, die es als Idee zwar auch in der Realität gab, die sich aber nicht durchgesetzt hat. Zumindest fiktiv gibt es hier also eine Rückgewinnung der individuellen Freiheit.

Zu den rein fiktionalen Teilen des Films gehört vermutlich die Milch-Szene, die eine der lustigsten, absurdesten, wütendsten und anarchistischsten Szenen des Films ist. Es ist kein Amoklauf mit Knarre, aber einer mit Traktor und Milchanhänger, während die Milch als Waffe das Gebäude des Feindes bespritzt, an den Fenstern hinunterläuft, aber auch die parkenden Autos erwischt, die gesamte Straße einfärbt und nur langsam in der Kanalisation verschwindet. Erst einmal ist alles weiß, rein, unschuldig gewaschen. Aber die Polizei findet das nicht lustig und verhaftet die Täterin erst einmal. Daher ist es äußerst passend, dass der Film auf Isländisch MJÓLK heißt, also „Milch“. Da ist jemand so wütend, dass die Milch lieber bedeutungsvoll weggeschmissen, als an den Falschen verkauft werden soll. Die Szene ist zwar auch lustig, wirkt aber nicht skurril oder schräg. Tatsächlich hat das Ganze sogar ein gewisses tragisches Pathos, weil man sich leicht vorstellen kann, dass es der Bäuerin im Herzen weh tut, die Milch zu vergeuden. Gar nicht so sehr vielleicht wegen des Einnahmeverlustes, sondern weil sie schließlich das Ergebnis der täglichen aufopfernden Arbeit von morgens früh bis abends spät ist.

Eigentlich erzählt THE COUNTY eine sehr spezielle Geschichte in einer speziellen isländischen Region, was aber ganz allgemeine Dimensionen annimmt. Im Kern geht es darum, dass eine Genossenschaft sich zu einem seine Mitglieder ausbeutenden Betrieb entwickelt hat, wo er ihnen doch eigentlich in einer schwierigen kapitalistischen Konkurrenzsituation helfen sollte. Ganz im Gegenteil hält man durch Druck ein Monopol aufrecht und verkauft beispielsweise Dünger zu weit überhöhten Preisen und straft diejenigen ab, die woanders billiger kaufen. Und wenn nach und nach verschuldete Höfe aufgekauft werden, kann so direkt ein landwirtschaftlicher Konzern entstehen. Aber niemand wagt es, sich zu wehren. Die Verwandlung eines klassisch linken Projekts in puren Kapitalismus, auf dem Weg zum Bonzentum. Man kennt das in Deutschland ja von den Gewerkschaften und der Neuen Heimat. Oder, um ein Beispiel aus einem anderen, dem künstlerischen Bereich zu nehmen: „Die Avantgarde von heute ist die Tapete von morgen.“ So, oder so ähnlich, hat David Bowie es einmal ausgedrückt.

Verdeutlicht werden die Missstände anhand eines Bauernehepaars, deren zwei Kinder schon aus dem Haus sind. Er liebt den Familienhof. Sie hingegen hätte keine Probleme damit, alles aufzugeben und in die Stadt zu ziehen. Als er, höchst wahrscheinlich, durch Selbstmord stirbt, kommt heraus, dass er für die Genossenschaftsleitung gespitzelt hat, da er wegen der Verschuldung des Hofes erpressbar war. Die Frau beginnt nach der Trauerphase eine Politik des Widerstands, aber erst einmal ohne festes Ziel, ohne Methode. Es ist ein sehr intuitives Aufbegehren, sehr individuell und zunächst ohne genau zu benennendes Motiv, auch wenn die Geschichte um ihren von der Genossenschaftsleitung erpressten Mann der Auslöser ist. Teils ist es Trauerbewältigung, teils Rache, teils Wut, die zunächst nicht weiß, wie sie sich durch Taten oder Worte artikulieren soll. Teils ist es ein moralischer Kampf, einer aus Liebe, im Namen des Mannes, und auch für ihn, um den Namen vielleicht reinzuwaschen, als sollte dessen Leben nicht einfach mit Verrat und Selbstmord enden. In ihrem Kampf hat sie einen Vorteil, den auch ihr Mann in seiner Angst, den verschuldeten Hof entweder verlassen oder weiterhin spitzeln zu müssen, nicht hatte. Sie hat nichts mehr zu verlieren. Da kämpft man immer freier. Es ist ein Kampf, der eigentlich nicht ihrer ist. Aber irgendwann zieht sie die anderen Bauern mit, die mit konkreten Ideen alles in langfristige Bahnen lenken. Hauptdarstellerin Arndís Hrönn Egilsdóttir schafft es perfekt, dieser ganzen so emotionalen wie politischen Entwicklung eine glaubwürdige Einheit zu geben.

Einmal kommen wütende Rowdys besoffen auf ihre Terrasse und sie greift zu einem Gewehr, um sie notfalls zu vertreiben oder sich zu schützen. Das ist dann wie in einem Western, wo ein einzelner kleiner Farmer gegen den großen Grundbesitzer kämpft, von dem alle abhängig sind und der die Revolvermänner hat, und dem vielleicht auch der einzige Laden in der kleinen nahe gelegenen Stadt gehört. Und die anderen Farmer haben Angst um ihre Existenz, was sie lähmt. Am Ende reitet die Heldin zwar nicht, aber fährt mit ihrem Auto in den frühlingshaften Horizont hinein. Wenn auch nicht in die weite Prärie, sondern vermutlich Richtung Großstadt.

Hákonarson pflegt einen subtilen Stil der Andeutung mit kleinen scheinbar unbedeutenden Dingen, die gleichzeitig so viel sagen. In einer schönen Szene gegen Anfang des Films, abends im Schlafzimmer, spricht das Ehepaar über eine Kuh. Sie nennt ihren Namen, er die geschäftsmäßige Nummer. Da versteht man zwei Zugangsweisen zur Arbeit auf einem Bauernhof. Und es reicht ein kleines Ankuscheln von ihm an sie, die gerade etwas am Laptop schreibt, um die Nähe der beiden zu verdeutlichen, die nicht vieler Worte bedarf. Dann wieder wird eine Spannung, eine Unsicherheit wie in einem Thriller geschaffen. Der Ehemann sitzt mit Freunden und Kollegen zusammen und sie reden über einen Anstreicher, der keine Aufträge mehr bekommt, weil er seine Farbe billiger woanders gekauft hat. Da hält er inne darin, das Glas an den Mund zu setzen und hört erstarrt zu. Wenn ein Mann, der gerne trinkt, plötzlich nicht trinkt, ist es etwas Wichtiges. Man denkt, er wäre empört. Dann sieht man ihn mit jemandem diskutieren, und er sagt, dass er nicht mehr will. Genaueres erfährt man nicht. Da ahnt man noch nicht, wie tief verstrickt er in die monopolistische Geschäftspolitik der Genossenschaft ist.

Ihr innerer Zustand nach seinem Tod wird am deutlichsten in einer einzigen Einstellung: Wie sie in ihrer Trauer da im kalten Wind steht, während ein paar einsame Schneeflocken durch die Luft wirbeln. Sie ist eingesperrt, erstarrt in viele widerstreitende Gefühle, was sich ja am Anfang in ihrem richtungslosen Widerstand zeigt. Später wird sie in einem entscheidenden Moment fähig sein, ihr Innerstes bloß zu legen und gerade dadurch die Abstimmung um die Gründung einer neuen Vereinigung der Milchbauern in positive Bahnen lenken: Nach ihrer zweiten Rede, in der sie von der Spitzelei erzählt, sitzt sie dann da, das Gesicht in Großaufnahme, der Hintergrund unscharf, völlig abgeschaltet und erschöpft. Zufällig habe ich gerade einen Film gesehen, der eine ähnliche Dramaturgie nutzt. Nachdem ihn der feindlich gesinnte Richter um seine einzige wichtige Zeugin gebracht hat, hält Paul Newman als Anwalt in Sidney Lumets THE VERDICT – DIE WAHRHEIT UND NICHTS ALS DIE WAHRHEIT (1982) ein allgemeines, religiös angehauchtes Schlussplädoyer über den Wunsch nach und die Liebe zur Gerechtigkeit. Und gewinnt gegen alle rein juristischen Erwartungen den Prozess.

Die größte und mächtigste Waffe der Frau in THE COUNTY ist aber das Wort. Bisher schrieb sie kleine Erinnerungen, Geschichten auf ihrem Facebook-Konto. Bis sie dann anfängt, echte Geschichten, also ihre eigene aktuelle Geschichte, aufzuschreiben. Und das schlägt treffender ein als jede Kugel. Ein bisschen wie ein Selbstporträt des Regisseurs, der zwischen Doku und Fiktion hin- und herwandert. Sein neuer Doku-Film KLEIN MOSKAU (IS/SK/CZ 2018) über ein paar Jahrzehnte Kommunismus in der isländischen Provinz ist jetzt für die Nordischen Filmtage 2019 angekündigt. Und vielleicht kann man über THE COUNTY gar nicht schreiben, ohne mit Benedikt Erlingsson GEGEN DEN STROM (Kona fer í stríð, Woman at War, 2018) den politischen Frau-im-Widerstand-Film des letzten Jahres zu erwähnen, der übrigens 2018 auch auf dem Filmfest Hamburg und, ich glaube, ebenfalls den Nordischen Filmtagen zu sehen war. Der erzählt eine große Geschichte um eine Staatsfeindin Nr.1 im Kampf gegen internationale Großinvestoren mit Hilfe von Öko-Terrorismus gegen Dinge, angereichert mit ein wenig skurril-musikalischer Verfremdung durch eine kleine, das Geschehen begleitende Band. Nicht, dass ich den Film nicht gerne geguckt hätte, Hauptdarstellerin Halldóra Geirharðsdóttir war bemerkenswert, aber irgendwie bediente der Film mir im Endeffekt zu sehr die Revolutions-Romantik einer bürgerlichen Elite-Linken. Die Gefahr besteht bei THE COUNTRY mit seiner absolut authentischen, genau beobachtenden Einbettung in das bäuerliche Alltagsleben nicht. Übrigens mein Lieblingsfilm der drei von mir gesehenen nordischen Filme dieses Jahres auf dem Filmfest Hamburg.


© Netop Films (Quelle: Filmfest Hamburg)