Dabei
ist gerade die Bodenständigkeit die Grundlage für die Schönheit
des Films. Und die ist notwendig, da die Story den Kontakt zur
Wirklichkeit nicht verlieren durfte, weil es sich um die
Fiktionalisierung konkreter politisch-wirtschaftlicher Schwierigkeiten und Fakten handelt. Die geschilderten Probleme rund um eine
Genossenschaft beruhen im Prinzip auf Berichten, die Hákonarson
bei Recherchen ohne Kamera erzählt bekam. Allerdings wollte niemand
damit an die Öffentlichkeit, was insofern ein Glück ist, als dass
ein Doku-Film es wegen des Randthemas dann vermutlich nicht über ein
paar Festivals hinaus gebracht hätte. Aber so wurde eine kleine
große Geschichte daraus, wobei der Regisseur den Widerstand und eine
Lösung hinzuerfand, die es als Idee zwar auch in der Realität gab,
die sich aber nicht durchgesetzt hat. Zumindest fiktiv gibt es hier
also eine Rückgewinnung der individuellen Freiheit.
Zu den rein fiktionalen
Teilen des Films gehört vermutlich die Milch-Szene, die eine der
lustigsten, absurdesten, wütendsten und anarchistischsten Szenen des
Films ist. Es ist kein Amoklauf mit Knarre, aber einer mit Traktor
und Milchanhänger, während die Milch als Waffe das Gebäude des
Feindes bespritzt, an den Fenstern hinunterläuft, aber auch die
parkenden Autos erwischt, die gesamte Straße einfärbt und nur
langsam in der Kanalisation verschwindet. Erst einmal ist alles weiß,
rein, unschuldig gewaschen. Aber die Polizei findet das nicht lustig
und verhaftet die Täterin erst einmal. Daher ist es äußerst
passend, dass der Film auf Isländisch MJÓLK heißt, also „Milch“.
Da ist jemand so wütend, dass die Milch lieber bedeutungsvoll
weggeschmissen, als an den Falschen verkauft werden soll. Die Szene
ist zwar auch lustig, wirkt aber nicht skurril oder schräg.
Tatsächlich hat das Ganze sogar ein gewisses tragisches Pathos, weil
man sich leicht vorstellen kann, dass es der Bäuerin im Herzen weh
tut, die Milch zu vergeuden. Gar nicht so sehr vielleicht wegen des
Einnahmeverlustes, sondern weil sie schließlich das Ergebnis der
täglichen aufopfernden Arbeit von morgens früh bis abends spät
ist.
Eigentlich erzählt THE
COUNTY eine sehr spezielle Geschichte in einer speziellen isländischen Region, was aber ganz allgemeine
Dimensionen annimmt. Im Kern geht es darum, dass eine Genossenschaft
sich zu einem seine Mitglieder ausbeutenden Betrieb entwickelt hat,
wo er ihnen doch eigentlich in einer schwierigen kapitalistischen
Konkurrenzsituation helfen sollte. Ganz im Gegenteil hält man durch
Druck ein Monopol aufrecht und verkauft beispielsweise Dünger zu
weit überhöhten Preisen und straft diejenigen ab, die woanders billiger kaufen. Und wenn nach und nach verschuldete Höfe
aufgekauft werden, kann so direkt ein landwirtschaftlicher Konzern
entstehen. Aber niemand wagt es, sich zu wehren. Die Verwandlung
eines klassisch linken Projekts in puren Kapitalismus, auf dem Weg
zum Bonzentum. Man kennt das in Deutschland ja von den Gewerkschaften
und der Neuen Heimat. Oder, um ein Beispiel aus einem anderen, dem
künstlerischen Bereich zu nehmen: „Die Avantgarde von heute ist
die Tapete von morgen.“ So, oder so ähnlich, hat David Bowie es
einmal ausgedrückt.
Verdeutlicht werden die
Missstände anhand eines Bauernehepaars, deren zwei Kinder schon aus
dem Haus sind. Er liebt den Familienhof. Sie hingegen hätte keine
Probleme damit, alles aufzugeben und in die Stadt zu ziehen. Als er,
höchst wahrscheinlich, durch Selbstmord stirbt, kommt heraus, dass
er für die Genossenschaftsleitung gespitzelt hat, da er wegen der
Verschuldung des Hofes erpressbar war. Die Frau beginnt nach der
Trauerphase eine Politik des Widerstands, aber erst einmal ohne festes
Ziel, ohne Methode. Es ist ein sehr intuitives Aufbegehren, sehr
individuell und zunächst ohne genau zu benennendes Motiv, auch wenn
die Geschichte um ihren von der Genossenschaftsleitung erpressten Mann
der Auslöser ist. Teils ist es Trauerbewältigung, teils Rache,
teils Wut, die zunächst nicht weiß, wie sie sich durch Taten oder Worte
artikulieren soll. Teils ist es ein moralischer Kampf, einer aus
Liebe, im Namen des Mannes, und auch für ihn, um den Namen
vielleicht reinzuwaschen, als sollte dessen Leben nicht einfach mit
Verrat und Selbstmord enden. In ihrem Kampf hat sie einen Vorteil,
den auch ihr Mann in seiner Angst, den verschuldeten Hof entweder
verlassen oder weiterhin spitzeln zu müssen, nicht hatte. Sie hat
nichts mehr zu verlieren. Da kämpft man immer freier. Es ist ein
Kampf, der eigentlich nicht ihrer ist. Aber irgendwann zieht sie die
anderen Bauern mit, die mit konkreten Ideen alles in langfristige Bahnen
lenken. Hauptdarstellerin Arndís Hrönn Egilsdóttir schafft es
perfekt, dieser ganzen so emotionalen wie politischen Entwicklung
eine glaubwürdige Einheit zu geben.
Einmal kommen wütende
Rowdys besoffen auf ihre Terrasse und sie greift zu einem Gewehr, um
sie notfalls zu vertreiben oder sich zu schützen. Das ist dann wie
in einem Western, wo ein einzelner kleiner Farmer gegen den großen
Grundbesitzer kämpft, von dem alle abhängig sind und der die
Revolvermänner hat, und dem vielleicht auch der einzige Laden in der
kleinen nahe gelegenen Stadt gehört. Und die anderen Farmer haben
Angst um ihre Existenz, was sie lähmt. Am Ende reitet die Heldin zwar
nicht, aber fährt mit ihrem Auto in den frühlingshaften Horizont
hinein. Wenn auch nicht in die weite Prärie, sondern vermutlich
Richtung Großstadt.
Hákonarson
pflegt einen subtilen Stil der Andeutung mit kleinen scheinbar
unbedeutenden Dingen, die gleichzeitig so viel sagen. In einer schönen
Szene gegen Anfang des Films, abends im Schlafzimmer, spricht das
Ehepaar über eine Kuh. Sie nennt ihren Namen, er die geschäftsmäßige
Nummer. Da versteht man zwei Zugangsweisen zur Arbeit auf einem
Bauernhof. Und es reicht ein kleines Ankuscheln von ihm an sie, die
gerade etwas am Laptop schreibt, um die Nähe der beiden zu
verdeutlichen, die nicht vieler Worte bedarf. Dann wieder wird eine
Spannung, eine Unsicherheit wie in einem Thriller geschaffen. Der
Ehemann sitzt mit Freunden und Kollegen zusammen und sie reden über
einen Anstreicher, der keine Aufträge mehr bekommt, weil er seine
Farbe billiger woanders gekauft hat. Da hält er inne darin, das Glas
an den Mund zu setzen und hört erstarrt zu. Wenn ein Mann, der gerne
trinkt, plötzlich nicht trinkt, ist es etwas Wichtiges. Man denkt,
er wäre empört. Dann sieht man ihn mit jemandem diskutieren, und er
sagt, dass er nicht mehr will. Genaueres erfährt man nicht. Da ahnt
man noch nicht, wie tief verstrickt er in die monopolistische
Geschäftspolitik der Genossenschaft ist.
Ihr innerer Zustand nach
seinem Tod wird am deutlichsten in einer einzigen Einstellung: Wie
sie in ihrer Trauer da im kalten Wind steht, während ein paar
einsame Schneeflocken durch die Luft wirbeln. Sie ist eingesperrt,
erstarrt in viele widerstreitende Gefühle, was sich ja am Anfang in
ihrem richtungslosen Widerstand zeigt. Später wird sie in einem
entscheidenden Moment fähig sein, ihr Innerstes bloß zu legen und
gerade dadurch die Abstimmung um die Gründung einer neuen
Vereinigung der Milchbauern in positive Bahnen lenken: Nach ihrer
zweiten Rede, in der sie von der Spitzelei erzählt, sitzt sie dann
da, das Gesicht in Großaufnahme, der Hintergrund unscharf, völlig
abgeschaltet und erschöpft. Zufällig habe ich gerade einen Film
gesehen, der eine ähnliche Dramaturgie nutzt. Nachdem ihn der
feindlich gesinnte Richter um seine einzige wichtige Zeugin gebracht hat,
hält Paul Newman als Anwalt in Sidney Lumets THE VERDICT – DIE
WAHRHEIT UND NICHTS ALS DIE WAHRHEIT (1982) ein allgemeines, religiös
angehauchtes Schlussplädoyer über den Wunsch nach und die Liebe zur
Gerechtigkeit. Und gewinnt gegen alle rein juristischen Erwartungen
den Prozess.
Die größte und
mächtigste Waffe der Frau in THE COUNTY ist aber das Wort. Bisher
schrieb sie kleine Erinnerungen, Geschichten auf ihrem
Facebook-Konto. Bis sie dann anfängt, echte Geschichten, also ihre
eigene aktuelle Geschichte, aufzuschreiben. Und das schlägt
treffender ein als jede Kugel. Ein bisschen wie ein Selbstporträt
des Regisseurs, der zwischen Doku und Fiktion hin- und herwandert.
Sein neuer Doku-Film KLEIN
MOSKAU (IS/SK/CZ
2018) über ein paar Jahrzehnte Kommunismus in der
isländischen Provinz ist jetzt für die Nordischen Filmtage 2019
angekündigt. Und vielleicht kann man über THE COUNTY gar nicht
schreiben, ohne mit Benedikt Erlingsson GEGEN DEN STROM (Kona fer í
stríð, Woman at War, 2018) den politischen Frau-im-Widerstand-Film
des letzten Jahres zu erwähnen, der übrigens 2018 auch auf dem
Filmfest Hamburg und, ich glaube, ebenfalls den Nordischen Filmtagen
zu sehen war. Der erzählt eine große Geschichte um eine
Staatsfeindin Nr.1 im Kampf gegen internationale Großinvestoren mit
Hilfe von Öko-Terrorismus gegen Dinge, angereichert mit ein wenig
skurril-musikalischer Verfremdung durch eine kleine, das Geschehen
begleitende Band. Nicht, dass ich den Film nicht gerne geguckt hätte,
Hauptdarstellerin Halldóra Geirharðsdóttir war bemerkenswert, aber
irgendwie bediente der Film mir im Endeffekt zu sehr die
Revolutions-Romantik einer bürgerlichen Elite-Linken. Die Gefahr
besteht bei THE COUNTRY mit seiner absolut authentischen, genau
beobachtenden Einbettung in das bäuerliche Alltagsleben nicht.
Übrigens mein Lieblingsfilm der drei von mir gesehenen nordischen Filme dieses Jahres
auf dem Filmfest Hamburg.
© Netop Films (Quelle: Filmfest Hamburg)