Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 14. März 2021

Martin Lunds PSYCHOBITCH – Die perfekt Angepassten

 

Ein etwa 15-jähriger Junge ist auf dem Unisex-Schulklo mit Tür zum Gang. Verspielt pinkelt er – im Stehen – ein paar kleine Kackreste von irgendeinem Vorbenutzer weg. Da klopft eine Mitschülerin ungeduldig an die Tür, weil sie rein will. Er wird urplötzlich nervös, denn sie wird ja jetzt denken, die Restbröckel wären von ihm. Welch eine Schande! Er sucht verzweifelt die Klobürste, bloß: Da ist keine. Und dann wird es qualvoll, auch für den Zuschauer. Er hockt sich hin und macht es eigenhändig mit Klopapier weg. Das ist ihm sein Ruf wert. Bloß nicht auffallen, nicht zum Ziel des Spottes werden. Man spürt direkt seine Panik. Dahinter scheint eine ganze bürgerliche Jugendgeneration und ihre Angst durch, ihre äußere Perfektion zu verlieren und auch nur ein Stückchen asozial zu wirken. Dass das mächtig anstrengend ist und an die Substanz geht, auch das zeigt Martin Lunds PSYCHOBITCH.

PSYCHOBITCH (2019) ist ein norwegischer Film über Schüler, ein Schulfilm zwischen Ernst, Komik, Ironie. Hauptfigur ist der erwähnte Junge mit den Kloproblemen. Marius heißt er, der Musterschüler seines Jahrgangs, und auf alle Fälle der ganze Stolz seiner Eltern. Sie loben ihn unentwegt. Er ist ihr Vorzeigekind. In einer späteren Szene, wo er zu Hause in einen Abend seiner Eltern mit Bekannten hereinplatzt, muss er für seine Englischkenntnisse wie bei einer Freak-Show büßen.

Und wer den im Netz frei zugänglichen Kurzfilm OSLO'S ROSE (2015) von Regisseur Martin Lund kennt, der weiß, was dieser für einen amüsanten, aber auch entlarvend-schmerzhaften Sinn für das inhärent Peinliche in zwischenmenschlichen Situationen hat. Und oft sind diese auch noch ungeheuer aussagekräftig. Der Film spielt in einer sehr homogenen norwegischen Kleinstadt, was vermutlich repräsentativer ist für Norwegen als eine heterogenere, größere Stadt wie Oslo. Denn wenn vieles auch global gültig ist, so wird doch nicht überall in Europa zum Schuljahresabschluss von den Kindern, zum Entzücken der Eltern, eine barocke Polonäse in Abendgarderobe getanzt. Mit Anwesenheitspflicht.

Hinter dem Titel PSYCHOBITCH selbst versteckt sich aber, wie man es ahnen kann, eine weibliche Figur, das Mädchen Frida. Doch Regisseur und Drehbuchautor Martin Lund hat sie nicht zur direkten Hauptfigur gemacht. Lund interessiert sich nicht so sehr für das Innenleben der Außenseiterin, sondern für das von Marius und der anderen Schüler. Der erste Blick auf Frida, die neu an der Schule ist, geschieht aus der Ferne, von unten aufs Schuldach hinauf. Martin kommt auf den Hof und sieht mit anderen zu, wie sie Unsinn macht da oben und zur Vernunft gebracht werden muss. Da werden schon Gerüchte getuschelt, sie habe einen Selbstmordversuch hinter sich. Frida will nicht und sie kann sich nicht einordnen, hat sich ein aggressives Abwehrverhalten, eine wilde Vorwärtsverteidigung angewöhnt.

Dann appelliert ein Lehrer in einem Gespräch an Marius' Perfektion und Vorbildfunktion. Er sei doch eine „Ressourcenperson“. Ist das tatsächlich die Sprache von heute? Ich hätte in dem Alter gedacht, dass ich was falsch mache, wenn ein Erwachsener so etwas Grässliches zu mir sagt. Im Endeffekt ist es ein ziemlich unter Druck setzendes Kompliment, dem Marius sich schlecht entziehen kann. Also bilden der perfekte Schüler und die Unerwünschte eine Lerngruppe. Frida provoziert ihn bewusst, weil er der ist, der immer tut, was man tun soll. Es beginnt mit einem Duell mit Wurst und Cola. Aber so kommen sie sich näher, machen sogar deftigen Unsinn zusammen. Jonas Tidemann als Marius lässt immer mehr die Unsicherheit unter der perfekten Fassade durchscheinen und Elli Rhiannon Müller Osborne, die auch in HOFFNUNG (2019) und dem UTØYA-Film von 2018 zu sehen ist, spielt Frida mit authentischer, verletzlicher Energie. 

Ohne die anderen kann Marius er selbst sein. Und Frida zwingt ihn auch dazu, er selbst zu sein. Es kommt zu befreiender Poesie auf dem zugeschneiten Schuldach. PSYCHOBITCH ist an sich ein wunderschöner Schneefilm, mit einer verschneiten Stadt, eingebettet und bedeckt von Schneehalden, mit schönen Totalen auch im Dunkeln. Mit Schnee verbindet sich auch der treffendste Symbolismus in Marius' Lebens: ständiger Langlauf mit Freunden und Familie. Immer in der Gruppe in der Loipe fahren, eingesperrt in engem Anzug. Das ununterscheidbare Kollektiv.

Dann bekommt er Panik, beendet abrupt den Kontakt mit Frida. Per Handy, obwohl sie sich in der Turnhalle gegenüberstehen. Sie ist wie vor den Kopf geschlagen. Von da an steht Marius neben sich, und das gerade als sein lang gehegter Traum, mit seinem weiblichen Ebenbild, der Miss Perfect, zusammenzukommen. Lund ist dabei immer auf der Höhe der Jugendlichen, ohne sich restlos zu identifizieren. Er legt, mit komplizenhafter Ironie, die Gruppenmechanismen und die Folgen des konformen Verhaltens frei. Und er inszeniert es nicht als betroffenen Sozialrealismus, sondern als Tragikomödie der Peinlichkeit. Marius heuchelt Gefühle und Gedanken, und wie das eine zum anderen führt, ist eine Art statischer Screwball eines Lebens an der Oberfläche der Unaufrichtigkeit. Er kommt mit dem Mädchen seiner früheren Wahl zusammen und seine Verlogenheit und Angepasstheit führen zu einer Ansammlung von Peinlichkeiten, dass es teilweise schwer mit anzusehen ist.

Marius' Feigheit ist geboren aus Angst. Angst, ein Außenseiter zu sein, aufzufallen. Er versteckt sich dahinter, dass er die Gefühle von Miss Perfect nicht verletzen will, was natürlich nur eine Ausrede ist. Fridas Gefühle haben ihn ja auch nicht gekümmert. Frida jedenfalls fühlt sich in allem bestätigt, was sie über das Leben und die Menschen schon immer dachte, und es kommt fast zur Katastrophe. Wenn der Film mit seiner heiteren Grundnote nicht echte Tragik ausschließen würde. Jedenfalls folgen die Schüler auf beängstigende Weise schon rein sprachlich dem normierten Diskurs der Erwachsenen mit seiner Pädagogik, Soziologie, Psychologie, was heutzutage als authentische Gefühlsäußerung gilt, aber so authentisch ist wie digitale Popmusik mit Computerstimme. Es ist eine Ansammlung hohler Parolen. Plötzlich redet man betroffen über „die arme Frida“, weil man es sagen muss. Und vielleicht glaubt man es auch. Das hält selbst Marius nicht aus.

Freitag, 12. März 2021

Frelle Petersens ONKEL – Leben auf dem Hof

Ort der Handlung des dänischen Films ONKEL (2019) – nach HUNDELIV (2016) die zweite Spielfilmregie von Frelle Petersen – ist Südjütland, in der Gegend von Tondern. Ein Bauernhof ist der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt der zwei Hauptfiguren, eines Onkels und seiner Nichte, die nach dem Schlaganfall des alten Mannes fast die ganze Arbeit allein machen muss. Die beiden sind ein seltsames, aber auch eingespieltes Paar, das sich ohne Worte versteht. Morgens sitzen sie stumm am Essenstisch. Jeder Handgriff ist eingespielt, eingeübt, wie in einem Ritual. Sie liest beim Essen, hat also noch andere Interessen. Und sie bevormundet ihn, macht alles Schwierige selbst. Wenn sie mal länger weggeht, zählt sie auf, was er nicht machen soll, als wäre er ein Kind. Sie weckt ihn, hilft ihm beim Anziehen. Als er einmal selbst aufsteht und vor ihr am Frühstückstisch sitzt, fragt sie ihn: „Wie bist du aufgestanden?“ Antwort: „Erst das eine Bein, dann das andere.“ Das ist der kleine stille Humor von ONKEL, eine feine Ironie ohne spöttisch-derbem Bauernschwank, wobei Bauernschwänke selbstverständlich etwas Schönes sein können. Wenn sie, weil das Auto kaputt ist, mit dem Trecker zum Bäcker und zur Kirche fährt, dann ist das keine gezielte Pointe, sondern einfach sanft amüsante Wirklichkeit.

Jette Søndergaard und Peter Hansen Tygesen spielen die Hauptrollen. Die beiden sind ein reales Nichte-Onkel-Gespann. Wer Tygesen im Netz sucht, wird auf die Adresse des Bauernhofes des Films stoßen. Nichte Jette ist aber nicht auf dem Hof geblieben, sondern nach Kopenhagen gegangen, um Tierärztin zu werden. Doch in Wirklichkeit lockte die Schauspielerei. Und so erzählt der Film ein bisschen das, was eben nicht passiert ist, aber hätte passieren können. Frelle Petersen schrieb übrigens sein Drehbuch im Campingwagen auf dem Hof und konnte so die tägliche Arbeit verfolgen. Zur praktischen, visuellen, atmosphärischen Authentizität kommt noch die sprachliche: ONKEL ist ein Film, für den auch manche Dänen Untertitel brauchen können, denn hier wird Sønderjysk, der südjütländische Dialekt, gesprochen. Auch der Tierarzt des Films ist real, ein Amateur.

ONKEL ist ein faszinierender Film, der mit den formalen Mitteln des Sozialrealismus, wo es äußerlich um Themen wie Familienbetrieb und Hofnachfolge geht, eine sehr innerliche Geschichte erzählt, aber den Figuren ihre Geheimnisse lässt und sie nicht soziologisch determiniert. Stilistisch herrschen feste Einstellungen vor. Ständig ist der Betrieb im Bild. Oft sieht man Nichte und Onkel, aber vor allem sie, eingeengt durch zwei Wände oder eine Türöffnung. Das, was man Freiheit nennt, hat man nicht mit solch einem Hof, und weil sie allein sind, werden sie noch mehr als andere in Anspruch genommen. Aber es gibt auch eine Montagesequenz der Arbeit mit schöner, heiter-feierlicher Musik. Und immer wieder sieht man Bilder von der Landschaft, vom Himmel, eingebettet in Regelmäßigkeit. Da sind die Krähenschwärme über der Marsch.

Dann erhält sie wohlmeinenden Antrieb von außen, etwas Eigenes zu machen, endlich herauszukommen. Auch der Onkel unterstützt das. Zum einen ein Tierarzt, zum anderen ein Verehrer wollen, dass sie ein selbstständiges Leben führt. Der Hof müsse doch sowieso verkauft werden. Und sie will ja Tierärztin werden. Eigentlich. Und will auch nicht. Bei einer Fahrt nach Kopenhagen, da werden ihre Befürchtungen wahr, dass der Onkel allein nicht klarkommt. Man kann fast das Gefühl bekommen, dass das ihr innerster Wunsch war, bloß, um zurückfahren zu dürfen. Als hätte sie es heraufbeschworen. ONKEL geht nicht in die psychologische Tiefe und bemüht keine Theorien und ihre Begriffe. Dieser Bereich, wo die Klischees und die geistigen Verarmungen lauern, wird geschickt vermieden. Die kann man selbst hinein interpretieren, mit Stichworten wie Verlustangst, Verlassensangst, Bindung, Verantwortungsgefühl, Heimat, die letzte familiäre Konstante, vor allem, wo ihre Eltern tot sind. Man kann spekulieren, vielleicht von allem ein bisschen. Man kann es aber auch bleiben lassen. Die Bilder geben nur Hinweise, es bleiben diese Unsicherheiten, Leerstellen. Und die machen den Film so spannend.

Frelle Petersen bedient sich sparsamer Ausdrucksmittel, ohne skurril oder komisch zu sein, um dieses Hin- und Hergerissensein wortlos zu zeigen. Der Zuschauer ist angewiesen auf Blicke, Körperhaltungen. Da sind bestimmte Szenen und ihre Wiederholungen, Variationen, Veränderungen: Aufstehen, Frühstück, Arbeit, Einkauf im Supermarkt, das abendliche Scrabble-Spiel, Fernsehen, wenn eine dänische Komödienserie der 70er läuft. Sie ist plötzlich mit den Gedanken woanders, verliert ihre Konstanz, durchlebt Stimmungswechsel. Sie wird auch mal ruppig, und da verändern sich die eingespielten Rituale am Esstisch. Man sieht sie ungeduldig, vergesslich, sie deckt den Tisch nicht richtig. Niedlich-absurd sind ihre Dates. Denn zum Verehrer ist sie nicht nur still abweisend, sie nimmt zur Sicherheit auch immer den Onkel mit. Nur einmal springt sie aus dem Auto und gibt dem jungen Mann einen Kuss.

Aber sie wagt sich nicht hinaus, und selbst der Zuschauer ist hin- und hergerissen. Man hat einerseits, wie die Menschen um sie herum, das Gefühl, dass das eigentlich keine Zukunft für sie allein hat. Andererseits hat es auch etwas Schönes, wie sie an dem Ganzen festhält. Auch wenn man leider am Ende nicht mehr das Gefühl hat, dass es sie wirklich noch glücklich oder zumindest zufrieden macht. ONKEL hat ein offenes Ende, aber das Leben ist nicht mehr so selbstverständlich in sich ruhend wie am Anfang. Da ist ein Bruch. Das TV-Gerät ist kaputt gegangen. Der Onkel schaut aus Gewohnheit nach oben auf den Schrank, wo es steht und wo nichts mehr zu sehen ist und gibt dann auf. Etwas ratlos gucken Onkel und Nichte sich an.