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Freitag, 18. Dezember 2020

Künstlerfilme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020

 

© Sjonhending-Axfilms
 
Der isländische Maler Eggert Pétursson (*1956), die finnische Malerin Helene Schjerfbeck (1862-1946), der finnische Architekt Alvar Aalto (1898-1976) und die schwedische Opernsängerin Jenny Lind (1820-1887). Zwei Dokumentationen, ein Spielfilm und ein dokumentarischer Animationsfilm. Vier grundverschiedene Filme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020, die zunächst einmal außer dem Thema nur gemeinsam haben, dass ich sie mir angesehen habe. Und dennoch gibt es, ohne künstlich etwas zu konstruieren, eine unterirdische Verbindungslinie. Trotz aller Moderne herrscht hier ein im Grunde klassisches Kunstverständnis vor, ein Streben nach Perfektion und Schönheit, ohne ins L'Art pour l'Art zu verfallen. Gleichzeitig keine Kunst, die eine vermeintliche Bedeutung durch komplizierte Theorien oder ideologische Botschaften erhält.

Sei es der Betrachter eines Bildes, sei es der Benutzer eines Gebäudes, sie sind eingeplant, mitgedacht. Und zwar auf eine individuelle Weise, wenn etwa Malerin Schjerfbeck das Licht ihrer Ausstellung genauestens kontrolliert oder wenn Architekt und Renaissance-Mensch Aalto bei einem Krankenhausbau ganz besonders den einzelnen Patienten mit einplant oder die Individualisierung standardisierten Bauens für die Masse praktiziert. Und Jenny Lind entzieht sich schon mit 32 Jahren der ungeheuren Massenverehrung und der Medienaufmerksamkeit und tritt als verheiratete Frau nur noch vereinzelt auf, vor allem mit religiöser klassischer Musik und für die Wohltätigkeit.

 
 

WIE EIN GEMÄLDE VON EGGERT PÉTURSSON

Gunnlaugur Thór Pálssons WIE EIN GEMÄLDE VON EGGURT PÉTURSSON / EINS OG MÁLVERK EFTIR EGGERT PÉTURSSON (Island 2020) ist eine Dokumentation, die sich nicht nur visuell auf die Schönheit der Bilder von Eggert Péturssons Bilder einlässt, sondern gleichzeitig mit ihrer Entstehung und ihren Prinzipien vertraut macht. Pétursson malt, einfach gesagt, Bilder über die isländische Flora und Fauna, vor allem die Blumen. Man sieht die frühen großen Werke, beispielsweise sich scheinbar in die Unendlichkeit ausdehnende einzelne Heideblumen, interessant, aber dann auch wieder monomanisch. Es folgt der Weg hin zu subtileren, komplexeren, schöneren, ebenso realistisch wie psychedelisch-traumhaften Arrangements. Die Bilder werden trotz der anhaltenden Detailfreude rauer, abstrakter.

Dass der Film so tief in die malerische Praxis hineintauchen kann, wird ermöglicht einmal durch die Zusammenarbeit mit dem Maler selbst, aber dann eben auch durch die Tatsache, dass es sich um sehr durchdachte, in ihrer Wirkung detailliert geplante Bilder handelt. Denn Pétursson macht überhaupt kein Geheimnis aus den Grundlagen der Entstehung und zeigt vor der Kamera ganz offen seine Skizzenbücher, die für sich schon wieder faszinierende Kunstwerke sind, die in vielem einem Drehbuch ähneln, wo die einzelnen Bildteile und ihre Anordnung innerhalb des großen Ganzen genau beschrieben sind.

Grundlagen und Biografisches werden auch geliefert. Pétursson war dem linken anarchistischen Kunstmilieu der 1970er verbunden, verschrieb sich der Konzeptkunst, bei der man im Allgemeinen weiß, was man tut. Und so ist er nebenbei auch ein ausgezeichneter Kurator für die Ausstellungen der Kunst anderer. Pétursson ist blumenbesessen seit seiner Kindheit. Wenn die Familie mit dem Auto unterwegs war und er „Blume!“ rief, hielt man an und er botanisierte. Und so wollte er ursprünglich Botaniker werden, und durch die Illustrationen für ein Botanik-Buch verbanden sich dann später auf einmal doch seine beiden Interessen. Die offizielle Anerkennung für seine Arbeit hat etwas gedauert: Im Film ist eine Museumsleiterin, die seine Kunst jetzt inzwischen mag, weil er es, so sagt sie, schon so lange macht und weil ein Konzept dahintersteckt. Was für eine deprimierende Logik: Mit den Argumenten wird auch seelenloser Modernemüll gerechtfertigt.

In Péturssons Bildern steckt nicht nur viel und oft jahrelange Arbeit, es liegt auch eine ausführliche Feldforschung zugrunde. Man sieht ihn bei der Recherche, dem Skizzieren in der Natur. Mit einer Botanikerin durchstreift er die Gegend im Skaftafell-Nationalpark und beim Hofsjökull-Gletscher. Die Wissenschaftlerin macht ihn auf seltene, versteckte Pflanzen, auf Besonderheiten aufmerksam, die ihm sonst vielleicht entgangen wären. Fotos, Notizen, Zeichnungen sind das Ergebnis dieser präzise beobachtenden Exkursionen. „Es ist schön, im Lavafeld zu verschwinden“, sagt er. Das Lavafeld ist für Pétursson die Entsprechung zur Wälder-Mystik anderer Länder. Schnee und Lava sind essentieller Bestandteil der Bilder. Bei diesen Spaziergängen am Gletscher verbindet sich die Arbeit des Malers mit der des Regisseurs der Dokumentation. Denn Gunnlaugur Thór Pálsson hat als Regiedebüt einen Film über die isländischen Gletscher gedreht, über deren Schönheit und deren langsames Verschwinden. Péturssons Bilder bewahren auf ihre Art auch etwas, das verloren geht.

All diese genannten Elemente bilden die Grundlage für die besondere Wirkung der Bilder, den Dualismus ihrer Rezeption. Die abstrakte Buntheit lädt zum meditativen Betrachten aus der Ferne ein. Man wird also einerseits für die Wirkung des Ganzen gewissermaßen weggeschoben, um das Geheimnisvolle, Mystische auf abstrakte Art zu sehen. Der Detailreichtum der einzelnen Pflanzen aber saugt den Betrachter dann wiederum in das Bild hinein: Gefühl und Verstand werden in einer Art unaufhörlicher Wellenbewegung gleichzeitig angesprochen. Und das sorgt dafür, dass selbst die seltsam buntesten Bilder nicht kitschig wirken können.

 
© Sjonhending-Axfilms 
 
 

HELENE

HELENE (Finnland 2020) ist ein biografischer Film, eine Romanverfilmung, die sich auf eine begrenzte, stark emotional aufgeladene Zeit im Leben der finnlandschwedischen Malerin Helene Schjerfbeck konzentriert: Mit Anfang 40 erlebte sie eine relativ kurze, aber heftige Liebesgeschichte mit einem fast 20 Jahre jüngeren Mann. Eine Liebe, aber vor allem eine Besessenheit, die sich ihr so sehr in den Körper frisst, dass sie nach dem unglücklichen Ende, nach der Verlobung des Mannes mit einer jungen Frau, lange Zeit mit Schock im Krankenbett liegt. Diese Besessenheit lebt sie auch in ihrem künstlerischen Leben aus, und das nicht nur beim Akt des Malens. Drei Stunden lang sucht sie auf einem Markt den perfekten Apfel für ein Bild. Dass ihr unerbittlicher, präziser ästhetischer Wille nicht mit dem Malen endet, kommt zum Ausdruck, wenn sie bei einer Ausstellung sehr viel Zeit damit verbringt, die Vorhänge vor einer Fensterschrägung ideal zu platzieren, um die perfekte Lichtsetzung zu erzeugen.

Man spürt in HELENE einen Willen zum Stil, zur quasi-malerischen Komposition. Die vorherrschenden Farben in vielen Szenen sind braun, beige, ocker, wie in vielen von Schjerfbecks Bildern. Und wenn der Film sich in dieser unbunten Welt bewegt, vor allem in den kammerspielartigen Szenen in dem bescheidenen Holzhaus auf dem Land, wo Schjerfbeck mit ihrer Mutter lebt und kämpft, dann ist der Film am besten. Die Arbeit, das Essen, das Streiten, das hat eine Intimität, die auch die Bilder haben. Visuell banal hingegen wird es, wenn ein pittoresk malerischer Effekt gesucht wird, den Schjerfbeck eben nicht sucht. Einmal werden Pusteblumen auf einer Wiese in einer Totalen im Vordergrund ins Bild genommen, eine kindische Ästhetisierung als Selbstzweck.

Es sind am Ende die weiblichen Figuren und die sie darstellenden Schauspielerinnen, die besonders in Erinnerung bleiben. Vor allem Hauptdarstellerin Laura Birn vermittelt eine stille Intensität und Klarsicht. Sie spielt mit sparsamen Mitteln, macht Schjerfbeck verstehbar. Ständig zuckt es unter der hart wirkenden Oberfläche, als wollte die unflexible Schale durchbrochen werden, oder, anders herum, als müsste sie ständig stabilisiert werden. Auf Letzteres trifft die Szene beim inzwischen verlobten Ex-Geliebten zu, wo die niedliche junge Braut in spe mehr schlecht als recht, aber ständig kichernd und abbrechend, Geige spielt.

Dann Pirkko Saisio als Mutter, mit der die Tochter sich biestrige Duelle liefert. Beim Familienleben taucht der Film in unangenehme Abgründe. Dies wird ausgeglichen durch Krisa Kosonens Darstellung der sehr praktischen Freundin Helena Westermarck, neben einem Galeristen Schjerfbecks unentbehrliche Stütze. Seltsam blass bleibt Johannes Holopainen als Liebhaber Einar Reuter. Aber das soll wohl so sein, denn eigentlich gehört er nicht direkt in diese Künstlerwelt, auch wenn sie ihn fasziniert. Man fragt sich, was das eigentlich für eine Liebe ist. Deutlich wird vor allem die physische Anziehung, Schjerfbecks sowohl malerische wie private erotische Besessenheit von Reuters Körper.

Nach dem Überwinden ihrer Krise steht Schjerfbeck an der Staffelei und denkt, in Form eines inneren Monologs aus dem Off , über die Flüchtigkeit besessener Träume nach und wie sie mit der Zeit hinter dem Horizont verschwinden. Dann bleibe nur ein weißes Blatt und Entzücken. Dann lächelt sie einem Vogel zu, der durch das offene Fenster auf ihren Schreibtisch gehüpft ist. Es folgt eine Überblendung in Weiß, wie eine Überbelichtung, wie eine Auflösung aller Probleme. Und das ist ein sehr schönes, still zufriedenes Ende für einen mitunter etwas trockenen, emotional statischen Film. Oder, besser gesagt, es wäre ein schönes Ende, wenn denn jetzt der Nachspann oder, wie heute oft üblich, der nachgeholte Vorspann einsetzte. Aber hier macht der Film etwas Fürchterliches, etwas Unverzeihliches. Denn jetzt wird es bildungsbürgerlich museal. Hat man gerade die geistige Freiheit der Künstlerin in dieser schönen Szene zu spüren bekommen, wird sie dann in Museumsmauern eingesperrt. Es gibt eine Kamerafahrt in eine Museumswerkstatt. Und zu gepflegtem Klavier bekommen wir originale Gemälde von Schjerfbeck serviert. Wer da nicht vor Ehrfurcht erzittert. Wie als Beweis ihres anhaltenden Wertes. Das bestätigt nur, was man während des Films immer wieder denken und fühlen konnte. Das Akademische, das übermäßig Gepflegte ist kein Zufall, kein Missgriff. Es ist wohl doch Programm.

 
Helene Schjerfbeck (Laura Birn) / © Finland Cinematic


AALTO

Bei Virpi Suutaris Dokumentation AALTO (Finnland 2020) stehen Leben und Arbeit des finnischen Architekten Alvar Aalto (1898-1976) im Mittelpunkt. Dadurch allerdings, dass der Filmtitel ganz bewusst nur den Nachnamen, wie eine international bekannte Marke, im Programm hat, sind aber auch die für Alvar unverzichtbar und gleichberechtigt neben ihm arbeitenden Ehefrauen mit eingeschlossen. Die erste Ehefrau Aino Aalto (1894-1949) und die zweite Elissa (1922-1994). Alle liegen übrigens zu dritt in einer Grabstelle beerdigt. Arbeit und Privates sind untrennbar in diesen Lebens- und Liebesgeschichten. Dabei wird es im Zusammenhang mit der Ehe von Alvar und Aino sehr intim durch die vielen Zitate aus Briefen, was unleugbar interessant ist, es manchmal aber auch etwas Unangenehmes hat, dabei zuzuhören. Aber die Worte bringen uns die Menschen tatsächlich sehr nahe. Es folgte eine zweite Ehe, wieder eine Arbeitsbeziehung, mit einem ähnlichen Typ Frau.

AALTO vermischt also den psychologischen, biografisch-chronologischen Zugang mit einer genauen Betrachtung des frühen Möbeldesigns und dann der wichtigsten weltweiten Bauwerke, die sämtlich bereist wurden für die Dokumentation. Die kontinuierliche Darstellung dieser Untrennbarkeit ist die schönste Leistung des Films. Alvar Aalto bewegt sich zwischen individuellem Stilwillen, Kunst, Schönheit und Funktionalismus. Mit Aino produziert er Möbel zu einem erschwinglichen Preis. Er legt viel Sorgfalt auf die praktischen Details, den Zweck und die Lage des Gebäudes, sei es Krankenhaus, Uni oder Kirche. Gezeigt wird die große Bandbreite: vom standardisierten Wohnen bis zum individuellen und auch innen frei gestalteten Haus-Gesamtkunstwerk.


© Euphoria FIlm
 
 
  

THE ANIMATED STORY OF JENNY LIND

THE ANIMATED STORY OF JENNY LIND (Schweden 2020), Regie und Drehbuch Ditte Feuk, ist von seiner Struktur her eine biografische Darstellung des Lebens der legendären schwedischen Sopranistin des 19.Jahrhunderts in Form der wichtigsten, in einzelnen Szenen dargestellten Stationen. Deutschen Cinephilen ist Jenny Lind am besten bekannt in der Gestalt von Ilse Werner in einer traurig-fiktiven Liebesgeschichte mit Joachim Gottschalk als H.C. Andersen, betitelt nach ihrem Spitznamen DIE SCHWEDISCHE NACHTIGALL (1941). Da sieht man, wie sehr sie noch in den 1930ern, 1940ern im kollektiven Gedächtnis war, und das, wo doch eigentlich da schon kaum noch einer wusste, wie sie eigentlich wirklich gesungen hat. Ihr wirkliches Erbe ist ja vor allem ihre Lebensgeschichte.

Von Jessica Laurén sind die ebenso realen wie stilisierten Animationen, in denen sich echte Schauspieler bewegen. Das hat etwas von alten Postkarten. Oder auch von künstlichen Stummfilmdekors, in die sich die überdeutliche, stilisierte Spielweise der Darsteller einfügt. Dazu gibt es noch die passende Klavierbegleitung. Zeichnungen, Computeranimation, das gesamte Arsenal kommt sehr abwechslungsreich, beweglich und fließend zum Einsatz.

Und dann gibt es mit der Stimme des berühmten Opernsängers Thomas Hampson einen Erzähler, der einerseits passend ist wie ein alter Stummfilm-Erzähler. Aber die Bilder zu unterbrechen, um den Erzähler ins Bild zu nehmen, erzeugt jedes mal einen deprimierenden Bruch und wirkt durch die allzu sichere, leicht selbstverliebte Künstlerattitüde des Maestro zu übermächtig. Regelmäßig wird die schöne, mitunter zarte Wirkung der Animationen durch diesen gemütlich an einem Tisch sitzenden Mann zerstört. Aber vielleicht ist es ja Absicht, wollte man ja wirklich mehr plauderndes Schulfernsehen als Emotion und Poesie. Oder Regisseurin Feuk hatte Angst, dass die Animationen von Jessica Laurén zu sehr das Übergewicht bekommen. Ob Absicht oder nicht, sie hat es erfolgreich verhindert.

 
© SVT Sales
 
 

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Ásdís Thoroddsens Filme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020

 

© Gjóla Films
 

Mit zwei Filmen bei der Retrospektive „Fishermen's Films“ und einem neuen Werk in der Dokumentarfilmsektion war die isländische Regisseurin Ásdís Thoroddsen gleich dreifach bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 vertreten. Da ja bekanntlich die Filmtage wegen Grippe gänzlich in den virtuellen Raum verlegt worden sind, sind den Zuschauern vermutlich interessante Nach-dem-Film-Gespräche mit Throroddsen entgangen, die als Spielfilmregisseurin begann, dann eine alleinerziehende Mutterpause vom Film einlegte und jetzt seit zehn Jahren spannende und detailreiche Dokumentarfilme über die isländische Gegenwart und Vergangenheit dreht. 

 

 INGALO IM GRÜNEN MEER
 
Hauptfigur von Throroddsens Lang- und Spielfilmdebüt INGALO IM GRÜNEN MEER / INGALÓ (1992) ist eine junge Frau, die man aus der Ferne mit Fug und Recht und voller Sympathie rebellisch nennen kann. Wer allerdings mit ihr zu tun, dem kann sie als energischer Satansbraten durchaus das Fürchten lernen. Aber sie lebt ja auch in einer rauen, nicht allzu zartbesaiteten Welt. Das erfährt sie täglich, wenn sie mit dem wenig heiteren Vater zur Fjordfischerei herausfährt. Zur Verteidigung hat sie sich einen ziemlich düsteren, wilden, wütenden Blick zugelegt, der deutlich macht, dass sie sich nichts gefallen lässt. So wird sie denn auch konsequenterweise handgreiflich gegenüber ein paar ihr zu nahe gehenden Seeleuten auf einem Tanzabend. Bei der Prügelei, die zwei Polizisten schlichten wollen, beißt sie einem der Beamten in den Arm. Das ist allerdings auch in Island verboten. Jugendknast oder psychiatrische Untersuchung – da fällt ihr die Wahl nicht schwer, wenn man aus dem öden Heimatkaff in den Süden kommen kann. Aber selbst die Ärztin dort muss leise lächeln bei ihren Geschichten. Hauptdarstellerin Solveig Arnardóttir schafft es, hinter der rauen Schale von Ingalo eine große Sensibilität und Intelligenz hervorscheinen zu lassen.

Dann verfolgt der Film Ingalos Weg nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, denn sie ist ganz sicher nicht verrückt, allenfalls frustriert und unterfordert. Sie verbringt eine Nacht mit einem begüterten Mitpatienten. Sie wird Schiffsköchin und kommt in die etwas größere Provinzstadt, wo sie in einem schmierigen überfüllten Wohnheim für Saisonarbeiter schläft. Dort zettelt sie eine Hygienerevolution an, bei der sich die Gewerkschaften einschalten müssen.

Thoroddsen zeigt in INGALÓ hinter dem Einzelschicksal, der individuellen Emanzipationsgeschichte, eine gesellschaftlich und politisch ausweglose Situation, in der Gut und Böse weniger deutlich verteilt sind, als man es vielleicht gerne möchte. Da ist zwar die korrupt erscheinende Haltung des Gewerkschaftsbosses, der zur Beruhigung der erhitzten Gemüter ein kritisches Papier ausarbeiten lässt, das nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken soll. Da ist also eine treffende Kritik an pseudolinker Tarifpolitik, aber andererseits steht hier tatsächlich ein Arbeitgeber, von dem alle abhängig sind, kurz vor der Pleite. Zur Not wird mit Hilfe des Kapitäns sogar ein Trawler versenkt, um die Versicherungssumme zu kassieren, wobei Ingalos Bruder zu Tode kommt. Ganz einfach, weil keiner ihn bemerkt hat auf dem Schiff. Der stille, introvertierte Bruder ist sowieso der wahre Verlorene dieser Geschichte, einer, der weich, poetisch und sensibel ist. Die, die nie etwas sagen, sind meist die, die am stärksten leiden. Nicht die, die wie Ingalo jedes Gefühl in einem Akt der erleichternden Befreiung herauslassen.

Und auch wenn Ingalo durchgehend im Mittelpunkt steht, Träger und auch Antreiber der Handlung ist, verlagert sich der Film immer mehr hin zu einer großen sozialen Milieuschilderung: über die Fischerei auf dem Wasser, über die prekäre Situation der kleinen Betriebe, über das unerträglich vermadete Wohnheim, über eine kleine Gemeinde. Daher hat INGALÓ in vielen Szenen eine fast dokumentarische Qualität. Dass es tatsächlich das ist, was Thoroddsen im Kern interessiert, sieht man auch daran, wie der Untergang des Schiffes, der immerhin zu einem Todesfall führt, dramaturgisch ins Leere läuft. In anderen Filmen hätte es staatliche Ermittlungen, Verdächtigungen, künstliche Spannung und Aufregung gegeben. Das aber interessiert hier überhaupt nicht. Was INGALÓ übrigens sofort in seiner Entstehungszeit positioniert, ist der Saxophon-Synthie-Sountrack mit seinem Spät-80er-Charme. 1996 dann hatte Thoroddsens zweiter Spielfilm TRAUMLAND / DRAUMADISIR Premiere.

 
 
Sólveig Arnarsdóttir © Gjóla Films

 

WETTERWECHSEL

Vor zehn Jahren begann Throroddsen wieder mit der Arbeit an längeren, aber jetzt rein dokumentarischen Filmen. A TECHNICAL GUIDE TO CLINK BOAT BUILDING / BJÖRG - LEIÐARVÍSIR Í BÁTASMÍÐI (2010), ist eine 4-h-DVD zum Saga-Bootbau, Ergebnis einer Kamerabeobachtung von Herbst 2006 bis August 2007, als das fertige Boot zur See gesetzt wurde. SÚÐBYRÐINGUR SAGA BÁTS / ON NORTHERN WATERS – THE STORY OF A BOAT (2011) ist die Kurzform dieses Baus, ergänzt durch eine breitere historische Darstellung. 

WETTERWECHSEL / VEĐRABRIGĐI (2015) dann ist in gewisser Weise die dokumentarische Fortsetzung von INGALÓ, wo ja ein verschuldeter Fischerei-Mittelständler kurz vor dem Ruin gezeigt wird. Denn diese unaufgeregte, aber inhaltlich sehr dichte Doku zeigt am Beispiel der kleinen Gemeinde Flateyri den Untergang der kleinen fischverarbeitenden Betriebe, die typischerweise der ökonomische Dreh- und Angelpunkt eines Dorfes waren. Es ist die Geschichte eines andauernden Überlebenskampfes. In Flateyri begannen die großen Probleme mit der Schließung der Fischfabrik im Jahre 2007.

Das Schlüsselwort lautet „Quoten“. Das Prinzip an sich stellt, angesichts der Tatsache, dass Ende der 1980er fast alles leergefischt war, niemand in Frage, aber seit der Einführung im Jahre 1990 hat nach und nach eine monopolistische Konzentration dieser Fangerlaubnisse in die Hände weniger stattgefunden. Aus finanzieller Not, aus reiner Gier oder auch Bequemlichkeit wurden die Quoten nach und nach verkauft, aber die kleinen Gemeinden brauchen Boote, die ihnen Fische zum Verarbeiten bringen. Einige Jahre hat eine ortsansässige Familie versucht, die Fabrik in Eigenregie zu führen, aber auch das scheiterte langfristig. Es gibt in WETTERWECHSEL eine ausführliche Quoten-Diskussion, deren Details man als mit dem Thema nicht Vertrauter zwischendurch nur schwer folgen kann.

Der Film ist an sich sehr detailreich, zeigt die vielen Abhängigkeiten verschiedener Faktoren untereinander. Eine Menge Archiv-Aufnahmen von Nachrichten werden eingespielt. WETTERWECHSEL (2015) tut sich keinen Zwang an und dient dem sehr praktischen und didaktischen Zweck der reinen Informationsvermittlung. Und das gelingt ganz ausgezeichnet. Das wird verbunden mit einer Reihe privater, intimer Porträts von Menschen, die in dieser Situation kämpfen müssen, die im Rahmen der knappen Möglichkeiten einer kleinen Gemeinde anpassungsfähig sein müssen. Es sind Menschen, die an die Gemeinde, an diese Gemeinschaft glauben und sie erhalten wollen. Und es gibt auch das praktische Argument: Was wäre das für ein Island, wenn am Ende nur noch ein paar Zentren vor allem im Süden überleben würden?

Besonders im Mittelpunkt steht die junge Polin Janina, eine alleinerziehende Mutter. Dann gibt es einen polnischen Fischer. So ist es nebenbei auch ein Film über Gastarbeiter, die aber bleiben. Ein isländischer Toningenieur, der vor der Finanzkrise ein gut gehendes Tonstudio hatte, muss jetzt die Schulden als LKW-Fahrer abarbeiten. Sommerhäuser sind dazugekommen, die neue Bürger bringen. Eine Familie versucht, mehrere Eisen im Feuer zu haben, darunter auch die Forellenzucht. Traurig-ironisch sind einige Aufnahmen von einem Fischerei-Festival, bei dem ehemalige Fischer Modell-Fischerboote als museales Erinnerungsspielzeug zu Wasser lassen. Es sieht tatsächlich so aus, als ob es in diesen Gemeinden auf lange Sicht gar keinen Fischfang mehr geben wird.

 

© Gjóla Films

  

REICHES LAND – TRADITION UND GESCHICHTE DES ESSENS IN ISLAND

Wie die Bootbaufilme machen Thoroddsens nächste Filme die alte Vergangenheit für die Gegenwart lebendig und verbinden beide miteinander. Einmal der Film über Volkstrachten FORM AND FUNCTION – HANDICRAFT AND HISTORY OF THE ICELANDIC NATIONAL COSTUMES / SKJÓL OG SKART (2017) und dann der auf den Nordischen Filmtagen gezeigte Film über isländisches Essen REICHES LAND – TRADITION UND GESCHICHTE DES ESSENS IN ISLAND / GÓSENDLANDIĐ – ÍSLENSK MATARHEFĐ OG MATARSAGA (2019).

Und da geht es ans Eingemachte und andere Mahlzeiten. REICHES LAND ist ein Spaziergang sowohl vertikal durch die Zeit als auch horizontal durch all die verschiedenen Arten von Essbarem. Und so ist der Film eine ungeheuer informative und anschauliche filmische Enzyklopädie über alle möglichen Aspekte der isländischen Esskultur. Am ausführlichsten geht es um die zwei wichtigsten Traditionen: Milch und das Milchprodukt Styr sowie Fleisch, also Tiersorten, Zucht, Schlachten, Verarbeitung. Am schönsten ist die Darstellung der traditionellen Methoden. Es gibt viele Gesprächspartner, aber eine Frau ist gewissermaßen die Seele des Films: Die Bäuerin Elin Methusalemsdóttir (1933-2019) kann nicht nur über reiche eigene Haushaltserfahrung berichten, sondern durch die Einbeziehung ihrer Eltern geht es mehr als hundert Jahre zurück. Durch regelmäßigen Verweis auf die Sagas wird im Film der Bogen der Geschichte sogar noch weiter geschlagen.

Und es geht um Gemüse, Kräuter, Beeren, um Fisch, den man lange in Island gar nicht so geschätzt hat, den aber die Touristen wollten. Es herrschte lange praktisch bedingter Salzmangel, den man durch Produkte wie saure Butter ausglich, sodass später salzige Butter aus Skandinavien als fürchterlich empfunden wurde. Man kam auch auf Salzgewinnung durch Thermalverdampfung. Überhaupt gibt es viele spannende Entdeckungen, Anekdoten, wie die des Schweinezüchters mit der selbst produzierten Pizza und dem eigenen Pizzawagen. Und als Freund von Blutwurst fand ich die vielen Verarbeitungsmöglichkeiten von Innereien spannend.

Um möglichst viel unterzubringen, wird es gegen Ende vielleicht etwas gehetzt, wenn noch schnell Weihnachtstraditionen eingeflochten werden und es mal eben auch noch um modernes Öko-Kulinarisches geht. Und bei einer Laufzeit von fast zwei Stunden kann es dann durchaus sein, dass einem am Ende der Kopf schwirrt angesichts so vieler Informationen und Zusammenhänge, was aber nichts daran ändert, dass der Film eine sehr schöne und informative Essensreise darstellt. Ob der Film allerdings grundsätzlich ein „appetitlicher Rundgang“ ist, wie es im Katalog der Filmtage steht, ist aber sicher Geschmackssache. Ich stimme dem dazu. Doch so manchem zarten Vegetarierpflänzchen könnte der Appetit bei der einen oder anderen Schlachthaus- oder Innereiensequenz durchaus vergehen.

Thoroddsens nächster Film WOODS GREW HERE ONCE behandelt laut Homepage ihrer Produktionsfirma Gjola das uralte Island, das mal zu einem großen Teil von Bäumen bewachsen war. Und es wird um die moderne Frage der Wiederaufforstung gehen, bei der man vorsichtig aufpassen muss, nicht mehr Schaden als Nutzen anzurichten.

 
 
© Gjóla Films