Mit zwei Filmen bei der Retrospektive „Fishermen's Films“ und einem neuen Werk in der Dokumentarfilmsektion war die isländische Regisseurin Ásdís Thoroddsen gleich dreifach bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 vertreten. Da ja bekanntlich die Filmtage wegen Grippe gänzlich in den virtuellen Raum verlegt worden sind, sind den Zuschauern vermutlich interessante Nach-dem-Film-Gespräche mit Throroddsen entgangen, die als Spielfilmregisseurin begann, dann eine alleinerziehende Mutterpause vom Film einlegte und jetzt seit zehn Jahren spannende und detailreiche Dokumentarfilme über die isländische Gegenwart und Vergangenheit dreht.
Dann verfolgt der Film Ingalos Weg nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, denn sie ist ganz sicher nicht verrückt, allenfalls frustriert und unterfordert. Sie verbringt eine Nacht mit einem begüterten Mitpatienten. Sie wird Schiffsköchin und kommt in die etwas größere Provinzstadt, wo sie in einem schmierigen überfüllten Wohnheim für Saisonarbeiter schläft. Dort zettelt sie eine Hygienerevolution an, bei der sich die Gewerkschaften einschalten müssen.
Thoroddsen zeigt in INGALÓ hinter dem Einzelschicksal, der individuellen Emanzipationsgeschichte, eine gesellschaftlich und politisch ausweglose Situation, in der Gut und Böse weniger deutlich verteilt sind, als man es vielleicht gerne möchte. Da ist zwar die korrupt erscheinende Haltung des Gewerkschaftsbosses, der zur Beruhigung der erhitzten Gemüter ein kritisches Papier ausarbeiten lässt, das nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken soll. Da ist also eine treffende Kritik an pseudolinker Tarifpolitik, aber andererseits steht hier tatsächlich ein Arbeitgeber, von dem alle abhängig sind, kurz vor der Pleite. Zur Not wird mit Hilfe des Kapitäns sogar ein Trawler versenkt, um die Versicherungssumme zu kassieren, wobei Ingalos Bruder zu Tode kommt. Ganz einfach, weil keiner ihn bemerkt hat auf dem Schiff. Der stille, introvertierte Bruder ist sowieso der wahre Verlorene dieser Geschichte, einer, der weich, poetisch und sensibel ist. Die, die nie etwas sagen, sind meist die, die am stärksten leiden. Nicht die, die wie Ingalo jedes Gefühl in einem Akt der erleichternden Befreiung herauslassen.
Und auch wenn Ingalo
durchgehend im Mittelpunkt steht, Träger und auch Antreiber der
Handlung ist, verlagert sich der Film immer mehr hin zu einer großen
sozialen Milieuschilderung: über die Fischerei auf dem Wasser, über
die prekäre Situation der kleinen Betriebe, über das unerträglich
vermadete Wohnheim, über eine kleine Gemeinde. Daher hat INGALÓ in
vielen Szenen eine fast dokumentarische Qualität. Dass es
tatsächlich das ist, was Thoroddsen im Kern interessiert, sieht man
auch daran, wie der Untergang des Schiffes, der immerhin zu einem
Todesfall führt, dramaturgisch ins Leere läuft. In anderen
Filmen hätte es staatliche Ermittlungen, Verdächtigungen,
künstliche Spannung und Aufregung gegeben. Das aber interessiert
hier überhaupt nicht. Was INGALÓ übrigens sofort in seiner
Entstehungszeit positioniert, ist der Saxophon-Synthie-Sountrack mit
seinem Spät-80er-Charme. 1996 dann hatte Thoroddsens zweiter
Spielfilm TRAUMLAND / DRAUMADISIR Premiere.
WETTERWECHSEL
Vor zehn Jahren begann Throroddsen wieder mit der Arbeit an längeren, aber jetzt rein dokumentarischen Filmen. A TECHNICAL GUIDE TO CLINK BOAT BUILDING / BJÖRG - LEIÐARVÍSIR Í BÁTASMÍÐI (2010), ist eine 4-h-DVD zum Saga-Bootbau, Ergebnis einer Kamerabeobachtung von Herbst 2006 bis August 2007, als das fertige Boot zur See gesetzt wurde. SÚÐBYRÐINGUR SAGA BÁTS / ON NORTHERN WATERS – THE STORY OF A BOAT (2011) ist die Kurzform dieses Baus, ergänzt durch eine breitere historische Darstellung.
WETTERWECHSEL / VEĐRABRIGĐI (2015) dann ist in gewisser Weise die dokumentarische Fortsetzung von INGALÓ, wo ja ein verschuldeter Fischerei-Mittelständler kurz vor dem Ruin gezeigt wird. Denn diese unaufgeregte, aber inhaltlich sehr dichte Doku zeigt am Beispiel der kleinen Gemeinde Flateyri den Untergang der kleinen fischverarbeitenden Betriebe, die typischerweise der ökonomische Dreh- und Angelpunkt eines Dorfes waren. Es ist die Geschichte eines andauernden Überlebenskampfes. In Flateyri begannen die großen Probleme mit der Schließung der Fischfabrik im Jahre 2007.
Das Schlüsselwort lautet „Quoten“. Das Prinzip an sich stellt, angesichts der Tatsache, dass Ende der 1980er fast alles leergefischt war, niemand in Frage, aber seit der Einführung im Jahre 1990 hat nach und nach eine monopolistische Konzentration dieser Fangerlaubnisse in die Hände weniger stattgefunden. Aus finanzieller Not, aus reiner Gier oder auch Bequemlichkeit wurden die Quoten nach und nach verkauft, aber die kleinen Gemeinden brauchen Boote, die ihnen Fische zum Verarbeiten bringen. Einige Jahre hat eine ortsansässige Familie versucht, die Fabrik in Eigenregie zu führen, aber auch das scheiterte langfristig. Es gibt in WETTERWECHSEL eine ausführliche Quoten-Diskussion, deren Details man als mit dem Thema nicht Vertrauter zwischendurch nur schwer folgen kann.
Der Film ist an sich sehr detailreich, zeigt die vielen Abhängigkeiten verschiedener Faktoren untereinander. Eine Menge Archiv-Aufnahmen von Nachrichten werden eingespielt. WETTERWECHSEL (2015) tut sich keinen Zwang an und dient dem sehr praktischen und didaktischen Zweck der reinen Informationsvermittlung. Und das gelingt ganz ausgezeichnet. Das wird verbunden mit einer Reihe privater, intimer Porträts von Menschen, die in dieser Situation kämpfen müssen, die im Rahmen der knappen Möglichkeiten einer kleinen Gemeinde anpassungsfähig sein müssen. Es sind Menschen, die an die Gemeinde, an diese Gemeinschaft glauben und sie erhalten wollen. Und es gibt auch das praktische Argument: Was wäre das für ein Island, wenn am Ende nur noch ein paar Zentren vor allem im Süden überleben würden?
Besonders im Mittelpunkt steht die junge Polin Janina, eine alleinerziehende Mutter. Dann gibt es einen polnischen Fischer. So ist es nebenbei auch ein Film über Gastarbeiter, die aber bleiben. Ein isländischer Toningenieur, der vor der Finanzkrise ein gut gehendes Tonstudio hatte, muss jetzt die Schulden als LKW-Fahrer abarbeiten. Sommerhäuser sind dazugekommen, die neue Bürger bringen. Eine Familie versucht, mehrere Eisen im Feuer zu haben, darunter auch die Forellenzucht. Traurig-ironisch sind einige Aufnahmen von einem Fischerei-Festival, bei dem ehemalige Fischer Modell-Fischerboote als museales Erinnerungsspielzeug zu Wasser lassen. Es sieht tatsächlich so aus, als ob es in diesen Gemeinden auf lange Sicht gar keinen Fischfang mehr geben wird.
REICHES LAND – TRADITION UND GESCHICHTE DES ESSENS IN ISLAND
Wie die Bootbaufilme machen Thoroddsens nächste Filme die alte Vergangenheit für die Gegenwart lebendig und verbinden beide miteinander. Einmal der Film über Volkstrachten FORM AND FUNCTION – HANDICRAFT AND HISTORY OF THE ICELANDIC NATIONAL COSTUMES / SKJÓL OG SKART (2017) und dann der auf den Nordischen Filmtagen gezeigte Film über isländisches Essen REICHES LAND – TRADITION UND GESCHICHTE DES ESSENS IN ISLAND / GÓSENDLANDIĐ – ÍSLENSK MATARHEFĐ OG MATARSAGA (2019).
Und da geht es ans Eingemachte und andere Mahlzeiten. REICHES LAND ist ein Spaziergang sowohl vertikal durch die Zeit als auch horizontal durch all die verschiedenen Arten von Essbarem. Und so ist der Film eine ungeheuer informative und anschauliche filmische Enzyklopädie über alle möglichen Aspekte der isländischen Esskultur. Am ausführlichsten geht es um die zwei wichtigsten Traditionen: Milch und das Milchprodukt Styr sowie Fleisch, also Tiersorten, Zucht, Schlachten, Verarbeitung. Am schönsten ist die Darstellung der traditionellen Methoden. Es gibt viele Gesprächspartner, aber eine Frau ist gewissermaßen die Seele des Films: Die Bäuerin Elin Methusalemsdóttir (1933-2019) kann nicht nur über reiche eigene Haushaltserfahrung berichten, sondern durch die Einbeziehung ihrer Eltern geht es mehr als hundert Jahre zurück. Durch regelmäßigen Verweis auf die Sagas wird im Film der Bogen der Geschichte sogar noch weiter geschlagen.
Und es geht um Gemüse, Kräuter, Beeren, um Fisch, den man lange in Island gar nicht so geschätzt hat, den aber die Touristen wollten. Es herrschte lange praktisch bedingter Salzmangel, den man durch Produkte wie saure Butter ausglich, sodass später salzige Butter aus Skandinavien als fürchterlich empfunden wurde. Man kam auch auf Salzgewinnung durch Thermalverdampfung. Überhaupt gibt es viele spannende Entdeckungen, Anekdoten, wie die des Schweinezüchters mit der selbst produzierten Pizza und dem eigenen Pizzawagen. Und als Freund von Blutwurst fand ich die vielen Verarbeitungsmöglichkeiten von Innereien spannend.
Um möglichst viel unterzubringen, wird es gegen Ende vielleicht etwas gehetzt, wenn noch schnell Weihnachtstraditionen eingeflochten werden und es mal eben auch noch um modernes Öko-Kulinarisches geht. Und bei einer Laufzeit von fast zwei Stunden kann es dann durchaus sein, dass einem am Ende der Kopf schwirrt angesichts so vieler Informationen und Zusammenhänge, was aber nichts daran ändert, dass der Film eine sehr schöne und informative Essensreise darstellt. Ob der Film allerdings grundsätzlich ein „appetitlicher Rundgang“ ist, wie es im Katalog der Filmtage steht, ist aber sicher Geschmackssache. Ich stimme dem dazu. Doch so manchem zarten Vegetarierpflänzchen könnte der Appetit bei der einen oder anderen Schlachthaus- oder Innereiensequenz durchaus vergehen.
Thoroddsens nächster
Film WOODS GREW HERE ONCE behandelt laut Homepage ihrer
Produktionsfirma Gjola das uralte Island, das mal zu einem
großen Teil von Bäumen bewachsen war. Und es wird um die moderne
Frage der Wiederaufforstung gehen, bei der man vorsichtig aufpassen
muss, nicht mehr Schaden als Nutzen anzurichten.