Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 22. Oktober 2020

SHORTA – Die Abwesenheit des Staates

Der actionreiche dänische Polizeifilm SHORTA (2020) wirkt spontan wie eine Kreuzung aus Ladj Lys französischem Film LES MISERABLES (2019) und den inzwischen klassischen, fantasievollen Wie-komm-ich-aus-dem-Ghetto-raus-Filmen wie STRASSEN IN FLAMMEN (1984), DIE WARRIORS (1979) oder auch DIE KLAPPERSCHLANGE (1981). Nur dass es sich hier in SHORTA um Polizisten als Hauptfiguren handelt. Das Konzept jedenfalls ist einfach: Trotz sich andeutender Unruhen wegen der ungeklärten Misshandlung eines sich im Koma befindlichen jungen Schwarzen, verfolgen zwei Polizisten mit ihrem Streifenfahrzeug mutmaßliche Dealer in ein fiktives dänisches Ghetto-Viertel. Dort demütigt einer der Polizisten einen jungen Araber auf offener Straße, danach fliegt ein Milchshake auf die Windschutzscheibe, eins kommt zum anderen und plötzlich sind die beiden Polizisten die Gejagten und müssen zusehen, dass sie rauskommen aus dem feindlichen, labyrinthischen Betondschungel. Der verhaftete junge Araber muss ihnen helfen, den Weg zu finden. Aber dann gehen die Beamten auch noch selbst aufeinander los.

Die Verbindung mit dem französischen Film LES MISERABLES ist allerdings wohl eher eine zufällig thematische, wenn man die langen Jahre der Planung und Finanzierung eines solchen Projekts wie SHORTA miteinkalkuliert. Und LES MISERABLES will ja bewusst eine reale Schilderung eines realen Ortes sein, der Ort, aus dem der Regisseur selbst stammt. Bei den beiden SHORTA-Regisseuren Anders Ølholm und Frederik Louis Hviid zeigt sich vor allem das geistige Zuhause des erwähnten klassischen Hollywood-Actionkinos. Bei ihnen herrscht das Genre-Prinzip der Zusammenfügung von Standardelementen vor. Der Gegensatz der zwei Polizisten wird bis zum Äußersten ausgespielt. Da ist das aktive, durchsetzungsfähige Großmaul, dargestellt mit bulliger Energie, scharf an der Grenze zum Overacting, von Jacob Lohman. Auf der anderen Seite der stille, nachdenkliche Polizist, gespielt von Simon Sears, der sich nach der Pfarrersfamilie-Serie DIE WEGE DES HERRN (2017-2018) schon wieder mit Gewissenskonflikten herumschlagen muss. Und der tödliche Gegner im Ghetto erscheint zum großen Teil als das anonym Böse, das fast gesichtslos im Hinterhalt lauert. Der Anführer hat eine markante Frisur, wie sie zu einem Vorzeigebösen gehört.

Aber leider hat man sich nur bei den Grundelementen der großen Vorbilder bedient und es führt keine gerade Linie hierhin von, sagen wir, Howard Hawks und John Carpenter. Denn gearbeitet wird hier, auf Kosten von Stil und Inszenierung, ausschließlich mit dem Starkstrom-Adrenalin-Prinzip, das aus jeder Szene das Höchstmögliche an Intensität und Spannung herausholen will und so zu einer großen Übersteigerung wird, auch wenn nie der realistische Boden verlassen wird. Die Dinge passieren nicht einfach, sondern man lässt sie auf extremst möglichem Weg passieren und lässt kein erzählerisches Mittel aus. Da wird der verletzte Polizist ausgerechnet gerettet und verbunden von der Mutter des Jungen, den er gerade noch gedemütigt hat. Eine Prügelei zwischen Polizisten ist nicht einfach eine Prügelei, sondern die eine apokalyptische Männer-Schlacht. Die Schüsse auf einen Polizisten von einem Rassisten, die blutig-groteske Auseinandersetzung mit dem Kampfhund im Fahrstuhl. Alles in SHORTA ist darauf programmiert, das Publikum nicht denken zu lassen und auch echte Emotionen gibt es hier nicht, sondern nur eine forcierte Immersions-Spannung. Man ist Teil des Ganzen. Der schwer durchschaubare Weg durch ein teilweise digital erzeugtes, irreal wirkendes Labyrinth hat etwas von einem Videospiel, so wie übrigens auch Sam Mendes' maßlos überschätzter Erste-Weltkriegs-Film 1917 (2019).

Symptomatisch hierfür ist denn auch die Rezension auf der Homepage des Fernsehsenders Danmarks Radio (DR), die an sich zwar eine echte Schande für die Literaturforum der „Kritik“ ist, aber doch auf eine interessante Weise aufschlussreich. Es wird im Grunde nur nacherzählt und jeweils begeistert betont, wo der Film einen so richtig mit dem schweißdurchnässten Popo am Sitz kleben lässt. Und selbst die ideologisch korrekt kritische EKKO-Rezensentin bekam "Atemnot" beim Gucken. Man muss also durchaus anerkennen, dass SHORTA mit seiner durchkalkulierten Dramaturgie und seiner, trotz begrenztem Budget, technischen Sicherheit sehr gut funktioniert als einmaliges Erlebnis. Selbst wenn man die Struktur und Methode durchschaut und eher unwillig darauf reagiert, hat der Film einen die meiste Zeit im Griff. Er ist visuell ausgezeichnet, besonders in den dunklen Szenen mit seinem gelb-orangen, feuerartigen Licht oder dem Schwarz in der abschließenden Baustellenszene, dem düsteren Finale.

Und daher tut es dem Film eigentlich gar nicht gut, dass er durch Videos von US-amerikanischer Polizeibrutalität und dem marxistischem BLM-Terror mit seinen verwüsteten und gangsterartig geplünderten Städten eine ungewollte Aktualität bekommen hat, die vielleicht für mehr Medien-Echo sorgt, aber ins Leere geht. Denn zu dem Thema hat der Film nichts beizutragen. Aber eine politische Seite hat der Film, wenn auch nur ganz nebenbei. Und zwar ist das die symptomatische Abwesenheit des Staates in SHORTA, denn die Polizeiführung schafft es nicht, ihren Beamten in der Not echte Hilfe zu leisten. Das ist natürlich auch ein dramaturgischer Kunstgriff, aber es wirkt authentisch. Einerseits wird die Ghettogegend der Kriminalität überlassen. Andererseits werden auch die Polizisten in ihrer Arbeit oft allein gelassen und wenn etwas schief geht, fallen ihnen verlogene Politiker gerne in den Rücken. Wenn man so will, dann ist SHORTA kein Film über Ghettos, aber indirekt der über eine Kapitulation.

Freitag, 16. Oktober 2020

Óskar Jónassons IN FRONT OF OTHERS – Zwangsnachahmung

 

© Nordlichter Film

Wenn in einem Vorort Kiels die Kinovorstellung wegen „der allgemeinen Infektionslage“ ausfällt, dann stellt man sich voll Grausen vor, wie sich in den Hinterhöfen und Gärten versteckt die Leichen stapeln und die ehrenamtlichen Kinomitarbeiter entweder mit dem Tode ringen oder ihre Überreste sich tragischerweise schon in den leblosen Haufen befinden. Nur stärkste Desinfektionsmittel können vermutlich verhindern, dass Verwesungsgeruch wie erstickender Bleistaub über den Straßen liegt. Vielleicht aber bleiben auch einfach nur die Zuschauer aus, weil sie sich vom Gesundheitsregime echte Angst haben machen lassen. Aber Scherz beiseite, der Killervirus ist unerbittlich. Die Lage ist ernst. Gemeinsam schaffen wir das!  Wer wollte das alles bezweifeln? Da ist es nur gut, dass man nicht lange auf den Zug für die Heimfahrt nach Kiel warten muss und sich zu Hause trockenen Fußes vor den Schrecken der zweiten Welle zurückziehen kann und bei Vimeo auf der Seite von „Nordlichter Film“ Óskar Jónassons IN FRONT OF OTHERS / FYRIR FRAMAN ANNAÐ FÓLK (2016) als Streaming zu sehen bekommt. Schließlich hatte man sich jetzt schon drauf eingestellt, diesen Film zu gucken. Alles andere wäre seelisch verstörend.

Ein bisschen verstört, und verstörend für seine Freundin, ist übrigens auch die von Snorri Engilbertsson mit wunderbar ausdrucksstarker Zurückhaltung gespielte Hauptfigur dieses isländischen Films. Schon sein so ausgeprägt altisländisch klingender Name „Hubert“ weist ihn als seltsame, etwas außen vor stehende Persönlichkeit aus. Ich habe übrigens irgendwo das Wort „Feelgood Film“ als Beschreibung gelesen, aber das passt nicht, dafür ist alles viel zu präzise und pointiert erzählt. Höchstens am Schluss könnte man solch eine kleine Parallele ziehen, wenn alles sich versöhnt unter dem Zeichen der netten Weisheit, dass Probleme nur Probleme sind, wenn man sie nicht löst. So ungefähr jedenfalls. Aber tatsächlich ist IN FRONT OF OTHERS ganz einfach eine wirklich hübsche, witzige romantische Komödie über einen PR-Grafiker, der nicht nur krankhaft schüchtern ist, vor allem gegenüber der Damenwelt, sondern der ganz und gar in seiner eigenen, sehr visuellen Welt lebt. Am Anfang sieht man, wie er beim einsamen Frühstück mit seinem Müsli in Milch spielt und komische Versuche anstellt. Das wirkt seltsam, etwas gestört auf den ersten kühlen Blick, aber später begreift man, dass er tatsächlich gezielt visuelle Versuche für seine Arbeit gemacht hat.

Huberts Problem ist seine Persönlichkeit. Mit seiner eigenen wagt er sich nicht nach vorne. Bei einem Meeting, wo der Chef versucht, eine seltsame Süßigkeiten-Kampagne an zwei Kundinnen zu bringen, die ihm skeptisch zuhören, sagt Hubert nicht ein Wort, sodass er hinterher gefragt wird, ob er als Ausländer denn Isländisch spreche. Dann ist da eine junge Frau, die ihn interessiert. Aber er ist hilflos. Also arbeitet er mit der Sprache, dem Sprechen. Zuerst imitiert er die erotischen verbalen Manierismen seines Möchtegern-Latin-Lover-Chefs, um die Angebetete zu beeindrucken. Es kommt aber bloß komisch rüber und bringt sie zum Lachen. Aber es ist erfolgreich. Nur das zählt. Als er das begreift, macht er es öfter, äfft den isländischen Präsidenten nach, dann den Vater und die Oma seiner Freundin. Bis er den Knopf im Kopf nicht mehr willentlich umlegen kann. Es hat sich verselbstständigt. Das Imitieren wird zur unkontrollierbaren Zwangshandlung. Sogar die Freundin macht er nach, was das Fass zum Überlaufen bringt.

Das Schöne an IN FRONT OF OTHERS ist, dass alles durchgehend realistisch, glaubwürdig bleibt. Nie dreht der Film ab in Richtung überdrehter Schrullen-Komödie. Ein sparsam instrumentierter Soundtrack gibt den ruhigen Rhythmus vor. Huberts leicht psychotisches Problem wird als ganz einfaches, zu überwindendes Problem gezeigt, nicht anders als das Trinken des Vaters der Freundin, den die Scheidung in eine kurze, aber heftige Krise stürzt. Gleichzeitig wird man verschont von der oftmals ziemlich verlogenen Pychotisch-macht-frei-Nummer. Das Drehbuch sorgt für eine fließende natürliche Verbindung der Haupthandlung mit den Nebenpersonen. Im Ganzen gibt es drei Paare und der Film enthält eine Hochzeit, eine Scheidung und eine Trennung inklusive eines erneuten Zusammenkommens. Alles nette Menschen, mit Ausnahme der Kinder im Film, denn die sind zwei fürchterlich unausstehliche Geschwister, die sich ständig zanken und prügeln. Aber es ist schließlich die Aufgabe von Kindern, unausstehlich zu sein. Sonst würden die Eltern sie vielleicht gar nicht bemerken.

Óskar Jónassons allererste Regiearbeit war übrigens das Video „The Sugarcubes: Live Zabor“ (1989), das ich seinerzeit immer und immer wieder geguckt habe. Meine nächste Begegnung mit einem seiner Arbeiten war dann auf dem Filmfest der universitären Nordistik-Lektoren, wo Isländisch-Lehrbeauftragter Gylfi uns im Kommunalen Kino den musikalischen Reykjavik-Film SODOMA REYKJAVIK / REMOTE CONTROL (1992) präsentierte und uns erklärte, dass Reykjavik und Kiel sich sehr ähnlich seien. Ich habe mich da gefragt, ob er das sagt, weil er sich wie zu Hause fühlt oder weil er das doch irgendwie langweilig findet. Später entdeckte ich bei meinem Neuisländisch-Anfängerkurs das Plakat des Films in seinem Büro und lieh es mir für eine Farbkopie aus, die jahrelang an einer Zimmertür bei mir klebte. Jónassons bekanntester Film aber ist natürlich der Thriller REYKJAVIK-ROTTERDAM: TÖDLICHE LIEFERUNG (2008). In dem Zusammenhang habe ich jetzt auch Jónassons ideenreiche Animations-Regie nachgeholt, die mir aus unerfindlichen Gründen bis jetzt entgangen war: THOR – EIN HAMMERMÄSSIGES ABENTEUER (2011), ein wirklich spaßiger und skurriler Film für alle Altersklassen.

 

Sonntag, 4. Oktober 2020

Niels Arden Oplevs SER DU MÅNEN, DANIEL – Familie und Würde

© Toolbox Film

Niels Arden Oplevs Film SER DU MÅNEN, DANIEL (2019, Siehst du den Mond, Daniel”) entstand nach dem gleichnamigen internationalen Bestseller von Puk Damsgård von 2015, der 2017 auf Deutsch unter dem Titel ”Geisel des IS: Die wahre Geschichte einer 13-monatigen Gefangenschaft“ erschien. Oplev ist einerseits ein international bekannter, routinierter Thriller-Regisseur, der mit MÄNNER, DIE FRAUEN HASSEN (2009) den ersten der skandinavischen Millennium-Filme über Lisbeth Salander drehte, aber auch die wenig überzeugende Neuverfilmung des Hollywood-Films FLATLINERS (2017). Wie bei vielen der international tätigen dänischen Regisseure sind dann eben doch die dänischen Filme die intimerem, die besten und überzeugendsten. In TO VERDENER / ZWEI WELTEN (2008) beschäftigte er sich mit religiösem Dogmatismus anhand einer wahren Geschichte um die Zeugen Jehovas. Und KAPGANG (2014) ist ein schöner 70er-Jahre-Familienfilm, an den ich mich übrigens auch deshalb gut erinnern, da ich ihn damals noch schnell vor einer Bahn-Rückfahrt aus Kopenhagen in Dreyers altem Dagmar-Kino sehen konnte.

SER DU MÅNEN, DANIEL beginnt erst einmal als Porträt des jungen Daniel Rye, eines jungen Mannes aus dem jütländischen Hedegård bei Give, etwa zwischen Vejle und Herning. Daniel hat sein Leben fest geplant. Die ersten Bilder sind verschwommen, um sich dann scharf zu stellen auf eine Turnergruppe, die vor dem Einmarsch in eine Turnhalle mit Zuschauern auf den vollbesetzten Rängen steht. Dieser kleine Kunstgriff wirkt wie ein Vorgriff auf Daniels späteren Verlust seiner Brille, die die Entführer gleich zu Beginn ihrer vielen Folterungen zertreten werden. Es folgt eine Turnvorstellung, die das Leben von Daniel durch eine Knöchel-Verletzung von einem Augenblick auf den anderen in vorher ungedachte Bahnen wirft. Er entscheidet sich sehr intuitiv für die Laufbahn eines Fotografen, und gleich bei seinem ersten Assistenz-Auftrag in Mogadischu fühlt er sich ganz in seinem Element. Es ist für ihn wie eine Mission, um auf Dinge aufmerksam zu machen. Bei einem Job im kriegsverwüsteten Syrien sind dann auf einmal IS-Leute da, wo sie nicht sein sollten, und so wird er Mitte 2013 entführt und kontinuierlich grausam gequält durch diese Religionsfaschisten, die als eine Bande ganz gewöhnlicher perverser Krimineller, Mörder, Folterer und Sadisten in die Geschichte eingegangen sind.

Und ab da bekommt die Handlung zwei weitere Stränge, die mit den heimlichen Bemühungen um Daniels Freilassung zu tun haben. Einmal die Anstrengungen der Familie, das Geld zusammenzubekommen durch Spenden, Kredite, alles ohne jede Hilfe vom dänischen Staat, der grundsätzlich jede Verhandlung mit Terroristen ablehnt. Und als Bindeglied ist da Anders W. Berthelsen als Vermittler, ein Ex-Militär. Das alles ist sehr flüssig erzählt und über die immerhin 135 Minuten geschickt ineinander verwoben. Der Film lässt sich Zeit, arbeitet zwar mit dramaturgisch gelenkter Spannung, behält aber im Ganzen die Ruhe. Die Wirklichkeit ist spannend genug, da braucht es keine stilistischen Kunstgriffe und Effekte. Visuelle Unterschiede gibt es vor allem durch das Licht. Da ist das klare Licht in Dänemark, wo die Welt irgendwie aussieht, wie sie aussehen soll. Da ist das grelle, mitunter fahlgelbe Sonnenlicht der Wüstengegenden. Und dann ist da das dunkle, hässliche Grün des Gefängnisraums. Es werden keine Daten eingeblendet, sodass man keinen Überblick über den zeitlichen Verlauf bekommt. Erst hinterher erfährt man, dass 13 Monate vergangen sind.

Es ist ganz sicher kein Film für die ganze Familie, sondern einer über eine Familie und einer über eine Zwangsgemeinschaft, in der trotz allem solidarisches Verhalten und Mitmenschlichkeit möglich sind. Und deshalb gewinnen die schrecklichen Szenen nicht die geistige Oberhand. Oplev hat keinen Gefängnis-Horrorthriller gedreht, in dem er versucht, den Zuschauer pausenlos mit dem Grauen des Erlebten zu terrorisieren. Rye entstammt einer Familie, ohne deren Mühen er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht lebend nach Hause gekommen wäre. Die Eltern sind LKW-Fahrer und Verkäuferin im Spielwarengeschäft. Dieser Kampf bis zur Selbstaufgabe um Geld, und das von Menschen, die gar nicht viel haben und jetzt bitten und betteln müssen, hat etwas sehr Heroisches.

Und dann gibt es die Gemeinschaft der Geiseln und deren Solidarität untereinander. Rye ist hier Teil einer Gruppe von Gefangenen, zu der auch der später vor laufender Kamera ermordete US-Journalist James Foley kommt. Ein Denkmal wird hier nicht Rye gesetzt, dessen Schwächen und Ängste sehr ehrlich gezeigt werden. Aber Foley wird hier ein Denkmal gesetzt. Er ist ein Beispiel für die anderen, wie man angesichts von Folter, Hunger, ständiger Todesgefahr seine Würde behält, wie man es schafft, sich nicht erniedrigen zu lassen und sich trotzdem nicht vom Hass anstecken zu lassen. Der Film endet mit der Trauerfeier für James Foley in den USA, wo Rye den von ihm auswendig gelernten letzten Brief des Journalisten vorträgt. Da geht es beispielsweise ganz einfach um Kindheitserinnerungen an die Geschwister, um Familie eben.

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Roy Anderssons ÜBER DIE UNENDLICHKEIT – Bedeutungsballast in Banalgrau

Mehrere Jahre liegen immer zwischen den eigentlich so minimalistisch wirkenden Filmen des schwedischen Regisseurs Roy Andersson. Diesmal waren es fünf Jahre. Und jetzt konnte man also auch hierzulande das letzte Werk ÜBER DIE UNENDLICHKEIT (2019) regulär in den Kinos sehen. Meine Haltung zu Andersson hat in den letzten Jahren eine Kehrtwende erfahren. Ich mochte damals seine Filme von 2000 und 2007. Es war ja 2000, pünktlich zur Jahrtausendwende, dass Andersson nach langjähriger Arbeit als erfolgreicher und sehr individueller und höchst origineller Werbefilmer aus der Spielfilm-Versenkung auftauchte, in die er nach seinem Misserfolg mit GILIAP (1975) leider gerutscht war, und SONGS FROM THE SECOND FLOOR (2000) präsentierte. Danach kam DAS JÜNGSTE GEWITTER (2007). Ich sah zu der Zeit dann auch zum ersten Mal EN KÄRLEKSHISTORIA / EINE LIEBESGESCHICHTE (1970), einer der schönsten schwedischen Filme aller Zeiten. Sieben Jahre später kam dann EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH (2014) in die Kinos und ich empfand das alles nur noch als unerträgliche, bedeutungsschwere, prätentiöse Masche. Und entsprechend denke ich auch über sein neues Werk. Da ich die Filme von 2000 und 2007 seitdem nicht mehr gesehen habe, kann ich leider nicht sagen, ob da eine Veränderung bei Andersson statt gefunden hat oder ob mein Blick sich verändert hat. Ich könnte mir vorstellen, beides.

Diesmal hat Andersson sich gleich des „Unendlichen“ angenommen. So heißt der Film korrekt übersetzt: „Über das Unendliche“, was doch eine abstraktere Bedeutung hat als ÜBER DIE UNENDLICHKEIT. Einerseits präsentiert er uns wie gewöhnlich einfache Alltagsszenen, wie einen Mann, dem sein gesellschaftlicher Status nicht passt. Oder einen Pfarrer, der seinen Glauben verloren hat. Origineller gewesen wäre übrigens ein westeuropäischer protestantischer Pfarrer, der nicht den Glauben verloren hat. Da ist ein Krokodilstränen weinender Ehrenmördervater. Und diesmal wird Andersson schier prophetisch, denn da ist eine weibliche Off-Stimme, die uns erzählt, was sie sieht, also genau das, was wir auch sehen: „Ich sah ...“ Das ist so fürchterlich. Zum Weglaufen. Und immer wieder die ermüdende Besessenheit mit Nazi-Deutschland. Hitler im Bunker, ein Soldat, der erschossen wird, Kriegsgefangene auf dem Weg nach Sibirien. Und immer wieder „Ich sah ...“.

Andersson präsentiert gewöhnlich eine graue Welt, irgendwo aus den Tiefen des Wohlfahrtsstaates. Immer wieder die eine lange Einstellung, die statische Bildkomposition, meist ein, zwei Personen im Mittelpunkt, eine kleine Geste, ein Satz, ins Leere gehend, viel Schweigen. In demütiger Bescheidenheit liegt hier Weisheit wie graue Patina über allem. Und alles ist bis ins Kleinste visuell durchkomponiert. Man schaue sich einmal den Nachspann an. Der ist in seiner Länge fast blockbusterwürdig. Für die sorgfältige Herstellung gibt es sogar von mir einen Fleißpreis. Zentral im Film ist das Bild einer zerstörten Ruinenstadt mit einem fliegenden umschlungenen Pärchen darüber, das auch auf dem Plakat zu sehen ist. Dennoch ist Andersson kein poetischer Visionär, auch wenn er sich ein wenig dazu stilisiert. Roy Anderssons Universum ist bloß hässlich und banal, leblos und tot. Aber man kann in die Leere bekanntlich sehr viel hineininterpretieren, und in einer Kritik und in Lobreden das eigene ach so tiefsinnige Innere ausbreiten.

Lobreden auf Andersson sind eben oft genug auch Lobreden auf die eigene Sensibilität, das eigene Gutsein, auf den eigenen ehrenwerten moralischen Kompass, auf die eigene schöne Seele, die so viel Mitleid mit all den armen Menschen und sich selbst hat. In einem kirchlichen Filmblatt bin ich auf ein paar allgemein gebräuchliche Schlüsselbegriffe gestoßen. Das erste ist „humanistisch“, längst ein verschwommenes Allerweltswort und sowieso keine ästhetische Kategorie. Aber Humanismus ist wohl so etwas wie „Streben nach Menschlichkeit oder der Würde des Menschen“. Andersson zeigt die Menschen aber als elende, kaputte, verzweifelte Gestalten. Er gibt den Menschen keine Würde zurück. Das hier ist kein Country-Song, ganz im Gegenteil. Er entkleidet die Menschen und erweist ihnen dann die Gnade, sie in ihrer Jämmerlichkeit zu zeigen. Das wird dann „voller Verständnis“ genannt. Und dann soll im Film „unverwüstlicher Humor“ zu finden sein. Wer das geschrieben hat, lacht auch über das Telefonbuch. Roy Andersson wirkt manchmal wie ein kleines Kind, das stolz seine neuesten Bastelarbeiten zeigt, und egal, ob gut oder schlecht, klopfen ihm Kritik und Festivals auf den Rücken und sagen: „Gut gemacht, weiter so“. Ob man ihm damit einen Gefallen getan hat, ist eine andere Frage.