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Donnerstag, 1. Oktober 2020

Roy Anderssons ÜBER DIE UNENDLICHKEIT – Bedeutungsballast in Banalgrau

Mehrere Jahre liegen immer zwischen den eigentlich so minimalistisch wirkenden Filmen des schwedischen Regisseurs Roy Andersson. Diesmal waren es fünf Jahre. Und jetzt konnte man also auch hierzulande das letzte Werk ÜBER DIE UNENDLICHKEIT (2019) regulär in den Kinos sehen. Meine Haltung zu Andersson hat in den letzten Jahren eine Kehrtwende erfahren. Ich mochte damals seine Filme von 2000 und 2007. Es war ja 2000, pünktlich zur Jahrtausendwende, dass Andersson nach langjähriger Arbeit als erfolgreicher und sehr individueller und höchst origineller Werbefilmer aus der Spielfilm-Versenkung auftauchte, in die er nach seinem Misserfolg mit GILIAP (1975) leider gerutscht war, und SONGS FROM THE SECOND FLOOR (2000) präsentierte. Danach kam DAS JÜNGSTE GEWITTER (2007). Ich sah zu der Zeit dann auch zum ersten Mal EN KÄRLEKSHISTORIA / EINE LIEBESGESCHICHTE (1970), einer der schönsten schwedischen Filme aller Zeiten. Sieben Jahre später kam dann EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH (2014) in die Kinos und ich empfand das alles nur noch als unerträgliche, bedeutungsschwere, prätentiöse Masche. Und entsprechend denke ich auch über sein neues Werk. Da ich die Filme von 2000 und 2007 seitdem nicht mehr gesehen habe, kann ich leider nicht sagen, ob da eine Veränderung bei Andersson statt gefunden hat oder ob mein Blick sich verändert hat. Ich könnte mir vorstellen, beides.

Diesmal hat Andersson sich gleich des „Unendlichen“ angenommen. So heißt der Film korrekt übersetzt: „Über das Unendliche“, was doch eine abstraktere Bedeutung hat als ÜBER DIE UNENDLICHKEIT. Einerseits präsentiert er uns wie gewöhnlich einfache Alltagsszenen, wie einen Mann, dem sein gesellschaftlicher Status nicht passt. Oder einen Pfarrer, der seinen Glauben verloren hat. Origineller gewesen wäre übrigens ein westeuropäischer protestantischer Pfarrer, der nicht den Glauben verloren hat. Da ist ein Krokodilstränen weinender Ehrenmördervater. Und diesmal wird Andersson schier prophetisch, denn da ist eine weibliche Off-Stimme, die uns erzählt, was sie sieht, also genau das, was wir auch sehen: „Ich sah ...“ Das ist so fürchterlich. Zum Weglaufen. Und immer wieder die ermüdende Besessenheit mit Nazi-Deutschland. Hitler im Bunker, ein Soldat, der erschossen wird, Kriegsgefangene auf dem Weg nach Sibirien. Und immer wieder „Ich sah ...“.

Andersson präsentiert gewöhnlich eine graue Welt, irgendwo aus den Tiefen des Wohlfahrtsstaates. Immer wieder die eine lange Einstellung, die statische Bildkomposition, meist ein, zwei Personen im Mittelpunkt, eine kleine Geste, ein Satz, ins Leere gehend, viel Schweigen. In demütiger Bescheidenheit liegt hier Weisheit wie graue Patina über allem. Und alles ist bis ins Kleinste visuell durchkomponiert. Man schaue sich einmal den Nachspann an. Der ist in seiner Länge fast blockbusterwürdig. Für die sorgfältige Herstellung gibt es sogar von mir einen Fleißpreis. Zentral im Film ist das Bild einer zerstörten Ruinenstadt mit einem fliegenden umschlungenen Pärchen darüber, das auch auf dem Plakat zu sehen ist. Dennoch ist Andersson kein poetischer Visionär, auch wenn er sich ein wenig dazu stilisiert. Roy Anderssons Universum ist bloß hässlich und banal, leblos und tot. Aber man kann in die Leere bekanntlich sehr viel hineininterpretieren, und in einer Kritik und in Lobreden das eigene ach so tiefsinnige Innere ausbreiten.

Lobreden auf Andersson sind eben oft genug auch Lobreden auf die eigene Sensibilität, das eigene Gutsein, auf den eigenen ehrenwerten moralischen Kompass, auf die eigene schöne Seele, die so viel Mitleid mit all den armen Menschen und sich selbst hat. In einem kirchlichen Filmblatt bin ich auf ein paar allgemein gebräuchliche Schlüsselbegriffe gestoßen. Das erste ist „humanistisch“, längst ein verschwommenes Allerweltswort und sowieso keine ästhetische Kategorie. Aber Humanismus ist wohl so etwas wie „Streben nach Menschlichkeit oder der Würde des Menschen“. Andersson zeigt die Menschen aber als elende, kaputte, verzweifelte Gestalten. Er gibt den Menschen keine Würde zurück. Das hier ist kein Country-Song, ganz im Gegenteil. Er entkleidet die Menschen und erweist ihnen dann die Gnade, sie in ihrer Jämmerlichkeit zu zeigen. Das wird dann „voller Verständnis“ genannt. Und dann soll im Film „unverwüstlicher Humor“ zu finden sein. Wer das geschrieben hat, lacht auch über das Telefonbuch. Roy Andersson wirkt manchmal wie ein kleines Kind, das stolz seine neuesten Bastelarbeiten zeigt, und egal, ob gut oder schlecht, klopfen ihm Kritik und Festivals auf den Rücken und sagen: „Gut gemacht, weiter so“. Ob man ihm damit einen Gefallen getan hat, ist eine andere Frage.