Im Original heißt der Film bloß JUICE (2018), was etwas über den Stellenwert des
Musikers, Sängers, Liederschreibers Juice Leskinen (1950-2006) in
Finnland sagt. Im Film wird sein Erfolg zwar durch vermehrt
auftauchende Fans mit Autogrammwünschen, größere Säle und einen
deutlich gestiegenen gutbürgerlichen Lebensstandard anschaulich
gemacht, aber die Verankerung in der Volksseele verdeutlicht die
kleine Tochter, als sie ihm erzählt, dass sie ein Lied von ihm in
der Schule gesungen hätten. Wegen einer natürlichen Sprachgrenze
ist Leskinen außerhalb Finnlands wohl vorwiegend Rockmusikexperten
bekannt, was vielleicht ein bisschen anders wäre, wenn die erste
Regiearbeit von Aki Kaurismäki – in Zusammenarbeit mit Bruder
Mika – etwas verbreiteter wäre. Die beiden stellten 1981 die
Doku SAIMAA-ILMIÖ, auf Englisch THE SAIMAA GESTURE, her und als
natürliches Zentrum der präsentierten Rockmusiker Anfang der
80er erscheint Juice Leskinen. Aber JUICE hat ansonsten nichts mit
dem Kino von Kaurismäki gemeinsam, es ist im Ganzen ein klassisches,
flott erzähltes und äußerst unterhaltsames Biopic von Regisseur
Teppo Airaksinen, sehr direkt, immer dicht an den Figuren. Und im
Mittelpunkt steht der bemerkenswert überzeugende Hauptdarsteller
Riku Nieminen.
THE RAGGED LIFE OF JUICE
LESKINEN ist der internationale Titel, der jetzt auch auf dem
Filmfest Hamburg 2019 benutzt wurde. Und wenn ich meiner
Stichwortsuche auf IMDb trauen kann, ist es sogar das erste Mal, dass
der Ausdruck „ragged life“ für einen Filmtitel benutzt wurde. Es
klingt auch seltsam, etwas altertümlich, aber dann auch wieder ganz
passend für jemanden vom Lande, der seine Musik im Film einmal
ironisch „Hillbilly“ nennt. Es erinnert ganz nebenbei an den
mehrfach gecoverten Country-Song „Ragged but Right“. Das Lied
handelt von jemandem, der ein wildes Leben geführt hat, aber durch
Frau und Kind gezähmt wird. Nur dass es in JUICE kein
Familien-Happy-End gibt. Er selbst bezeichnet sich als „guten
Vater, aber schlechten Familienmenschen“. Und auf die Beziehung zu
seiner Frau konzentriert sich der Film und vernachlässigt dabei die
Musik für meinen Geschmack ein wenig. Aber so haben es im Grunde
schon James Mangolds Johnny-Cash-Film I WALK THE LINE (2005) und auch
Ole Bornedals JOHN MOGENSEN (2017) gemacht, die allesamt Ehen
inmitten einer Musikerkrise aus Alkohol, Drogen oder Pillen zeigen.
Eine Art Privatisierung der Legende, die sich ja gerne selbstständig
macht und vor allem die kreative Selbstzerstörung mythologisiert.
Aber da sind fast immer Menschen, die es privat und ganz konkret
ertragen müssen. Was übrigens nichts daran ändert, dass JUICE auch
ungeheuer komisch ist.
Aber erst einmal beginnt
JUICE in der Kindheit. Da ist der etwas verrückte Womanizer-Papa,
die nicht ohne Grund wütende Mama, die Juice sein Leben lang
erzählen wird, dass er nicht wie der früh verstorbene Vater werden
soll, was bei unsicheren Menschen ja oft genau das Gegenteil bewirkt.
Der Kindheit gehören also einige wenige, prägende Szenen. Dann ein
Zeitsprung in seine Studentenzeit, wo er inmitten einer stark
politisierten Atmosphäre ganz persönliche Texte schreibt und in
eine Band hineinrutscht, in der er singen muss und tatsächlich
Erfolg hat. Juice kann provokant, obszön sein, ist aber ansonsten
unpolitisch. Über den Bandnahmen „Coitus int“ – für
„interruptus“ – ist er trotzdem zunächst nicht
begeistert. Juice ist ganz in seinem eigenen Ego verankert, und kann
äußerst irrlichternd sein, aber eigentlich ist er ein braver,
netter junger Mann, der mit seiner neuen Freundin auf einen schön
altmodischen Tango-Abend geht, was diese noch nie erlebt hat.
Was an der Beziehung im
Film interessant ist, ist, dass die Frau es ist, die ihn direkt in
die Karriere hineinschiebt. Er will eigentlich nicht, ist schüchtern
und trinkt prinzipiell keinen Alkohol. Dann lebt er sich in der Rolle
des singenden, saufenden Genies aus, bekommt ein seltsam
aufgeblasenes Ich und benimmt sich arrogant, was ihn aber nicht daran
hindert, weiter brillante Lieder zu schreiben. Viel später im Leben
beklagt sie sich, dass sie nicht selbst weiter Gedichte geschrieben
habe. Inzwischen ist Juice ein emotionales Pulverfass ohne Boden
geworden, weshalb sie ihn am Ende auch aufgibt. Sie wirft ihm vor,
nur noch dazusitzen und die eigene Seele zu erforschen, was
tatsächlich eine Spirale nach unten sein kann. Man kann sich seine
düstere Seele künstlerisch gut selbst basteln und vertiefen, wenn
man nur kräftig genug bohrt. Das ist jedenfalls das, was der Film
zeigt, und man muss es so hinnehmen. Vermutlich gibt es auch andere
Interpretationen so mancher Geschehnisse. Aber zumindest ist der Film
so gemacht, dass nicht nur das Dekor, sondern auch das Menschliche
sehr authentisch wirkt.
Die schönste Szene aber
kommt am Schluss. Hier bekommt die Figur Juice Leskinen eine echte
Ambivalenz. Das ist erschreckend, faszinierend und amüsant
gleichzeitig. Nachdem seine Beziehung endgültig zerbrochen ist und
er einen Krankenhausaufenthalt wegen Leberschaden erst einmal
überlebt hat, sitzt er im Tourbus mit Musikerkollegen. Einer fragt
ihn, ob er ein Bier wolle. Er sagt nein, als wäre er vernünftig
geworden. Eine längere Pause. Dann sagt er, er wolle Wein. Dunkle
Schatten von den Bäumen an der Straße fallen auf sein Gesicht. Zum
ersten Mal taucht hinter all dem pointierten, anekdotischen Erzählen
eine wirklich düstere Seite in ihm auf. Als hätte er sich endgültig
entschieden und befreit zu sich selbst gefunden. Vorher hat man zwar
seiner Arschloch-Persönlichkeit beim Ausleben zusehen können, aber
hier ist plötzlich noch etwas anderes. Eine fatalistische
Notwendigkeit der stillen Selbstzerstörung. Diese letzte Szene wirkt
wie ein offenes Ende, obwohl es der Anfang vom Ende ist, auch wenn er
erst 2006 an „akutem Nierenversagen, Leberzirrhose und Diabetes“
gestorben ist, wie Wikipedia weiß. Und es ist wie die Anfangsszene
für einen anderen, innerlicheren Film, der sich von diesem
handlungsreichen Werk gänzlich unterscheidet. Und während des
Nachspanns ruht die Kamera auf der vorbeiziehenden weiten und
einsamen Landschaft Finnlands. Todessehnsüchtig ist Leskinens
Lied, das dazu zu hören ist.