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Freitag, 11. Oktober 2019

THE RAGGED LIFE OF JUICE LESKINEN – Finnischer Hillbilly-Folkrock


Im Original heißt der Film bloß JUICE (2018), was etwas über den Stellenwert des Musikers, Sängers, Liederschreibers Juice Leskinen (1950-2006) in Finnland sagt. Im Film wird sein Erfolg zwar durch vermehrt auftauchende Fans mit Autogrammwünschen, größere Säle und einen deutlich gestiegenen gutbürgerlichen Lebensstandard anschaulich gemacht, aber die Verankerung in der Volksseele verdeutlicht die kleine Tochter, als sie ihm erzählt, dass sie ein Lied von ihm in der Schule gesungen hätten. Wegen einer natürlichen Sprachgrenze ist Leskinen außerhalb Finnlands wohl vorwiegend Rockmusikexperten bekannt, was vielleicht ein bisschen anders wäre, wenn die erste Regiearbeit von Aki Kaurismäki – in Zusammenarbeit mit Bruder Mika – etwas verbreiteter wäre. Die beiden stellten 1981 die Doku SAIMAA-ILMIÖ, auf Englisch THE SAIMAA GESTURE, her und als natürliches Zentrum der präsentierten Rockmusiker Anfang der 80er erscheint Juice Leskinen. Aber JUICE hat ansonsten nichts mit dem Kino von Kaurismäki gemeinsam, es ist im Ganzen ein klassisches, flott erzähltes und äußerst unterhaltsames Biopic von Regisseur Teppo Airaksinen, sehr direkt, immer dicht an den Figuren. Und im Mittelpunkt steht der bemerkenswert überzeugende Hauptdarsteller Riku Nieminen.

THE RAGGED LIFE OF JUICE LESKINEN ist der internationale Titel, der jetzt auch auf dem Filmfest Hamburg 2019 benutzt wurde. Und wenn ich meiner Stichwortsuche auf IMDb trauen kann, ist es sogar das erste Mal, dass der Ausdruck „ragged life“ für einen Filmtitel benutzt wurde. Es klingt auch seltsam, etwas altertümlich, aber dann auch wieder ganz passend für jemanden vom Lande, der seine Musik im Film einmal ironisch „Hillbilly“ nennt. Es erinnert ganz nebenbei an den mehrfach gecoverten Country-Song „Ragged but Right“. Das Lied handelt von jemandem, der ein wildes Leben geführt hat, aber durch Frau und Kind gezähmt wird. Nur dass es in JUICE kein Familien-Happy-End gibt. Er selbst bezeichnet sich als „guten Vater, aber schlechten Familienmenschen“. Und auf die Beziehung zu seiner Frau konzentriert sich der Film und vernachlässigt dabei die Musik für meinen Geschmack ein wenig. Aber so haben es im Grunde schon James Mangolds Johnny-Cash-Film I WALK THE LINE (2005) und auch Ole Bornedals JOHN MOGENSEN (2017) gemacht, die allesamt Ehen inmitten einer Musikerkrise aus Alkohol, Drogen oder Pillen zeigen. Eine Art Privatisierung der Legende, die sich ja gerne selbstständig macht und vor allem die kreative Selbstzerstörung mythologisiert. Aber da sind fast immer Menschen, die es privat und ganz konkret ertragen müssen. Was übrigens nichts daran ändert, dass JUICE auch ungeheuer komisch ist.

Aber erst einmal beginnt JUICE in der Kindheit. Da ist der etwas verrückte Womanizer-Papa, die nicht ohne Grund wütende Mama, die Juice sein Leben lang erzählen wird, dass er nicht wie der früh verstorbene Vater werden soll, was bei unsicheren Menschen ja oft genau das Gegenteil bewirkt. Der Kindheit gehören also einige wenige, prägende Szenen. Dann ein Zeitsprung in seine Studentenzeit, wo er inmitten einer stark politisierten Atmosphäre ganz persönliche Texte schreibt und in eine Band hineinrutscht, in der er singen muss und tatsächlich Erfolg hat. Juice kann provokant, obszön sein, ist aber ansonsten unpolitisch. Über den Bandnahmen „Coitus int“ – für „interruptus“ – ist er trotzdem zunächst nicht begeistert. Juice ist ganz in seinem eigenen Ego verankert, und kann äußerst irrlichternd sein, aber eigentlich ist er ein braver, netter junger Mann, der mit seiner neuen Freundin auf einen schön altmodischen Tango-Abend geht, was diese noch nie erlebt hat.

Was an der Beziehung im Film interessant ist, ist, dass die Frau es ist, die ihn direkt in die Karriere hineinschiebt. Er will eigentlich nicht, ist schüchtern und trinkt prinzipiell keinen Alkohol. Dann lebt er sich in der Rolle des singenden, saufenden Genies aus, bekommt ein seltsam aufgeblasenes Ich und benimmt sich arrogant, was ihn aber nicht daran hindert, weiter brillante Lieder zu schreiben. Viel später im Leben beklagt sie sich, dass sie nicht selbst weiter Gedichte geschrieben habe. Inzwischen ist Juice ein emotionales Pulverfass ohne Boden geworden, weshalb sie ihn am Ende auch aufgibt. Sie wirft ihm vor, nur noch dazusitzen und die eigene Seele zu erforschen, was tatsächlich eine Spirale nach unten sein kann. Man kann sich seine düstere Seele künstlerisch gut selbst basteln und vertiefen, wenn man nur kräftig genug bohrt. Das ist jedenfalls das, was der Film zeigt, und man muss es so hinnehmen. Vermutlich gibt es auch andere Interpretationen so mancher Geschehnisse. Aber zumindest ist der Film so gemacht, dass nicht nur das Dekor, sondern auch das Menschliche sehr authentisch wirkt.

Die schönste Szene aber kommt am Schluss. Hier bekommt die Figur Juice Leskinen eine echte Ambivalenz. Das ist erschreckend, faszinierend und amüsant gleichzeitig. Nachdem seine Beziehung endgültig zerbrochen ist und er einen Krankenhausaufenthalt wegen Leberschaden erst einmal überlebt hat, sitzt er im Tourbus mit Musikerkollegen. Einer fragt ihn, ob er ein Bier wolle. Er sagt nein, als wäre er vernünftig geworden. Eine längere Pause. Dann sagt er, er wolle Wein. Dunkle Schatten von den Bäumen an der Straße fallen auf sein Gesicht. Zum ersten Mal taucht hinter all dem pointierten, anekdotischen Erzählen eine wirklich düstere Seite in ihm auf. Als hätte er sich endgültig entschieden und befreit zu sich selbst gefunden. Vorher hat man zwar seiner Arschloch-Persönlichkeit beim Ausleben zusehen können, aber hier ist plötzlich noch etwas anderes. Eine fatalistische Notwendigkeit der stillen Selbstzerstörung. Diese letzte Szene wirkt wie ein offenes Ende, obwohl es der Anfang vom Ende ist, auch wenn er erst 2006 an „akutem Nierenversagen, Leberzirrhose und Diabetes“ gestorben ist, wie Wikipedia weiß. Und es ist wie die Anfangsszene für einen anderen, innerlicheren Film, der sich von diesem handlungsreichen Werk gänzlich unterscheidet. Und während des Nachspanns ruht die Kamera auf der vorbeiziehenden weiten und einsamen Landschaft Finnlands. Todessehnsüchtig ist Leskinens Lied, das dazu zu hören ist.


© The Finnish Film Foundation (Quelle: Filmfest Hamburg)