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Freitag, 18. Dezember 2020

Künstlerfilme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020

 

© Sjonhending-Axfilms
 
Der isländische Maler Eggert Pétursson (*1956), die finnische Malerin Helene Schjerfbeck (1862-1946), der finnische Architekt Alvar Aalto (1898-1976) und die schwedische Opernsängerin Jenny Lind (1820-1887). Zwei Dokumentationen, ein Spielfilm und ein dokumentarischer Animationsfilm. Vier grundverschiedene Filme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020, die zunächst einmal außer dem Thema nur gemeinsam haben, dass ich sie mir angesehen habe. Und dennoch gibt es, ohne künstlich etwas zu konstruieren, eine unterirdische Verbindungslinie. Trotz aller Moderne herrscht hier ein im Grunde klassisches Kunstverständnis vor, ein Streben nach Perfektion und Schönheit, ohne ins L'Art pour l'Art zu verfallen. Gleichzeitig keine Kunst, die eine vermeintliche Bedeutung durch komplizierte Theorien oder ideologische Botschaften erhält.

Sei es der Betrachter eines Bildes, sei es der Benutzer eines Gebäudes, sie sind eingeplant, mitgedacht. Und zwar auf eine individuelle Weise, wenn etwa Malerin Schjerfbeck das Licht ihrer Ausstellung genauestens kontrolliert oder wenn Architekt und Renaissance-Mensch Aalto bei einem Krankenhausbau ganz besonders den einzelnen Patienten mit einplant oder die Individualisierung standardisierten Bauens für die Masse praktiziert. Und Jenny Lind entzieht sich schon mit 32 Jahren der ungeheuren Massenverehrung und der Medienaufmerksamkeit und tritt als verheiratete Frau nur noch vereinzelt auf, vor allem mit religiöser klassischer Musik und für die Wohltätigkeit.

 
 

WIE EIN GEMÄLDE VON EGGERT PÉTURSSON

Gunnlaugur Thór Pálssons WIE EIN GEMÄLDE VON EGGURT PÉTURSSON / EINS OG MÁLVERK EFTIR EGGERT PÉTURSSON (Island 2020) ist eine Dokumentation, die sich nicht nur visuell auf die Schönheit der Bilder von Eggert Péturssons Bilder einlässt, sondern gleichzeitig mit ihrer Entstehung und ihren Prinzipien vertraut macht. Pétursson malt, einfach gesagt, Bilder über die isländische Flora und Fauna, vor allem die Blumen. Man sieht die frühen großen Werke, beispielsweise sich scheinbar in die Unendlichkeit ausdehnende einzelne Heideblumen, interessant, aber dann auch wieder monomanisch. Es folgt der Weg hin zu subtileren, komplexeren, schöneren, ebenso realistisch wie psychedelisch-traumhaften Arrangements. Die Bilder werden trotz der anhaltenden Detailfreude rauer, abstrakter.

Dass der Film so tief in die malerische Praxis hineintauchen kann, wird ermöglicht einmal durch die Zusammenarbeit mit dem Maler selbst, aber dann eben auch durch die Tatsache, dass es sich um sehr durchdachte, in ihrer Wirkung detailliert geplante Bilder handelt. Denn Pétursson macht überhaupt kein Geheimnis aus den Grundlagen der Entstehung und zeigt vor der Kamera ganz offen seine Skizzenbücher, die für sich schon wieder faszinierende Kunstwerke sind, die in vielem einem Drehbuch ähneln, wo die einzelnen Bildteile und ihre Anordnung innerhalb des großen Ganzen genau beschrieben sind.

Grundlagen und Biografisches werden auch geliefert. Pétursson war dem linken anarchistischen Kunstmilieu der 1970er verbunden, verschrieb sich der Konzeptkunst, bei der man im Allgemeinen weiß, was man tut. Und so ist er nebenbei auch ein ausgezeichneter Kurator für die Ausstellungen der Kunst anderer. Pétursson ist blumenbesessen seit seiner Kindheit. Wenn die Familie mit dem Auto unterwegs war und er „Blume!“ rief, hielt man an und er botanisierte. Und so wollte er ursprünglich Botaniker werden, und durch die Illustrationen für ein Botanik-Buch verbanden sich dann später auf einmal doch seine beiden Interessen. Die offizielle Anerkennung für seine Arbeit hat etwas gedauert: Im Film ist eine Museumsleiterin, die seine Kunst jetzt inzwischen mag, weil er es, so sagt sie, schon so lange macht und weil ein Konzept dahintersteckt. Was für eine deprimierende Logik: Mit den Argumenten wird auch seelenloser Modernemüll gerechtfertigt.

In Péturssons Bildern steckt nicht nur viel und oft jahrelange Arbeit, es liegt auch eine ausführliche Feldforschung zugrunde. Man sieht ihn bei der Recherche, dem Skizzieren in der Natur. Mit einer Botanikerin durchstreift er die Gegend im Skaftafell-Nationalpark und beim Hofsjökull-Gletscher. Die Wissenschaftlerin macht ihn auf seltene, versteckte Pflanzen, auf Besonderheiten aufmerksam, die ihm sonst vielleicht entgangen wären. Fotos, Notizen, Zeichnungen sind das Ergebnis dieser präzise beobachtenden Exkursionen. „Es ist schön, im Lavafeld zu verschwinden“, sagt er. Das Lavafeld ist für Pétursson die Entsprechung zur Wälder-Mystik anderer Länder. Schnee und Lava sind essentieller Bestandteil der Bilder. Bei diesen Spaziergängen am Gletscher verbindet sich die Arbeit des Malers mit der des Regisseurs der Dokumentation. Denn Gunnlaugur Thór Pálsson hat als Regiedebüt einen Film über die isländischen Gletscher gedreht, über deren Schönheit und deren langsames Verschwinden. Péturssons Bilder bewahren auf ihre Art auch etwas, das verloren geht.

All diese genannten Elemente bilden die Grundlage für die besondere Wirkung der Bilder, den Dualismus ihrer Rezeption. Die abstrakte Buntheit lädt zum meditativen Betrachten aus der Ferne ein. Man wird also einerseits für die Wirkung des Ganzen gewissermaßen weggeschoben, um das Geheimnisvolle, Mystische auf abstrakte Art zu sehen. Der Detailreichtum der einzelnen Pflanzen aber saugt den Betrachter dann wiederum in das Bild hinein: Gefühl und Verstand werden in einer Art unaufhörlicher Wellenbewegung gleichzeitig angesprochen. Und das sorgt dafür, dass selbst die seltsam buntesten Bilder nicht kitschig wirken können.

 
© Sjonhending-Axfilms 
 
 

HELENE

HELENE (Finnland 2020) ist ein biografischer Film, eine Romanverfilmung, die sich auf eine begrenzte, stark emotional aufgeladene Zeit im Leben der finnlandschwedischen Malerin Helene Schjerfbeck konzentriert: Mit Anfang 40 erlebte sie eine relativ kurze, aber heftige Liebesgeschichte mit einem fast 20 Jahre jüngeren Mann. Eine Liebe, aber vor allem eine Besessenheit, die sich ihr so sehr in den Körper frisst, dass sie nach dem unglücklichen Ende, nach der Verlobung des Mannes mit einer jungen Frau, lange Zeit mit Schock im Krankenbett liegt. Diese Besessenheit lebt sie auch in ihrem künstlerischen Leben aus, und das nicht nur beim Akt des Malens. Drei Stunden lang sucht sie auf einem Markt den perfekten Apfel für ein Bild. Dass ihr unerbittlicher, präziser ästhetischer Wille nicht mit dem Malen endet, kommt zum Ausdruck, wenn sie bei einer Ausstellung sehr viel Zeit damit verbringt, die Vorhänge vor einer Fensterschrägung ideal zu platzieren, um die perfekte Lichtsetzung zu erzeugen.

Man spürt in HELENE einen Willen zum Stil, zur quasi-malerischen Komposition. Die vorherrschenden Farben in vielen Szenen sind braun, beige, ocker, wie in vielen von Schjerfbecks Bildern. Und wenn der Film sich in dieser unbunten Welt bewegt, vor allem in den kammerspielartigen Szenen in dem bescheidenen Holzhaus auf dem Land, wo Schjerfbeck mit ihrer Mutter lebt und kämpft, dann ist der Film am besten. Die Arbeit, das Essen, das Streiten, das hat eine Intimität, die auch die Bilder haben. Visuell banal hingegen wird es, wenn ein pittoresk malerischer Effekt gesucht wird, den Schjerfbeck eben nicht sucht. Einmal werden Pusteblumen auf einer Wiese in einer Totalen im Vordergrund ins Bild genommen, eine kindische Ästhetisierung als Selbstzweck.

Es sind am Ende die weiblichen Figuren und die sie darstellenden Schauspielerinnen, die besonders in Erinnerung bleiben. Vor allem Hauptdarstellerin Laura Birn vermittelt eine stille Intensität und Klarsicht. Sie spielt mit sparsamen Mitteln, macht Schjerfbeck verstehbar. Ständig zuckt es unter der hart wirkenden Oberfläche, als wollte die unflexible Schale durchbrochen werden, oder, anders herum, als müsste sie ständig stabilisiert werden. Auf Letzteres trifft die Szene beim inzwischen verlobten Ex-Geliebten zu, wo die niedliche junge Braut in spe mehr schlecht als recht, aber ständig kichernd und abbrechend, Geige spielt.

Dann Pirkko Saisio als Mutter, mit der die Tochter sich biestrige Duelle liefert. Beim Familienleben taucht der Film in unangenehme Abgründe. Dies wird ausgeglichen durch Krisa Kosonens Darstellung der sehr praktischen Freundin Helena Westermarck, neben einem Galeristen Schjerfbecks unentbehrliche Stütze. Seltsam blass bleibt Johannes Holopainen als Liebhaber Einar Reuter. Aber das soll wohl so sein, denn eigentlich gehört er nicht direkt in diese Künstlerwelt, auch wenn sie ihn fasziniert. Man fragt sich, was das eigentlich für eine Liebe ist. Deutlich wird vor allem die physische Anziehung, Schjerfbecks sowohl malerische wie private erotische Besessenheit von Reuters Körper.

Nach dem Überwinden ihrer Krise steht Schjerfbeck an der Staffelei und denkt, in Form eines inneren Monologs aus dem Off , über die Flüchtigkeit besessener Träume nach und wie sie mit der Zeit hinter dem Horizont verschwinden. Dann bleibe nur ein weißes Blatt und Entzücken. Dann lächelt sie einem Vogel zu, der durch das offene Fenster auf ihren Schreibtisch gehüpft ist. Es folgt eine Überblendung in Weiß, wie eine Überbelichtung, wie eine Auflösung aller Probleme. Und das ist ein sehr schönes, still zufriedenes Ende für einen mitunter etwas trockenen, emotional statischen Film. Oder, besser gesagt, es wäre ein schönes Ende, wenn denn jetzt der Nachspann oder, wie heute oft üblich, der nachgeholte Vorspann einsetzte. Aber hier macht der Film etwas Fürchterliches, etwas Unverzeihliches. Denn jetzt wird es bildungsbürgerlich museal. Hat man gerade die geistige Freiheit der Künstlerin in dieser schönen Szene zu spüren bekommen, wird sie dann in Museumsmauern eingesperrt. Es gibt eine Kamerafahrt in eine Museumswerkstatt. Und zu gepflegtem Klavier bekommen wir originale Gemälde von Schjerfbeck serviert. Wer da nicht vor Ehrfurcht erzittert. Wie als Beweis ihres anhaltenden Wertes. Das bestätigt nur, was man während des Films immer wieder denken und fühlen konnte. Das Akademische, das übermäßig Gepflegte ist kein Zufall, kein Missgriff. Es ist wohl doch Programm.

 
Helene Schjerfbeck (Laura Birn) / © Finland Cinematic


AALTO

Bei Virpi Suutaris Dokumentation AALTO (Finnland 2020) stehen Leben und Arbeit des finnischen Architekten Alvar Aalto (1898-1976) im Mittelpunkt. Dadurch allerdings, dass der Filmtitel ganz bewusst nur den Nachnamen, wie eine international bekannte Marke, im Programm hat, sind aber auch die für Alvar unverzichtbar und gleichberechtigt neben ihm arbeitenden Ehefrauen mit eingeschlossen. Die erste Ehefrau Aino Aalto (1894-1949) und die zweite Elissa (1922-1994). Alle liegen übrigens zu dritt in einer Grabstelle beerdigt. Arbeit und Privates sind untrennbar in diesen Lebens- und Liebesgeschichten. Dabei wird es im Zusammenhang mit der Ehe von Alvar und Aino sehr intim durch die vielen Zitate aus Briefen, was unleugbar interessant ist, es manchmal aber auch etwas Unangenehmes hat, dabei zuzuhören. Aber die Worte bringen uns die Menschen tatsächlich sehr nahe. Es folgte eine zweite Ehe, wieder eine Arbeitsbeziehung, mit einem ähnlichen Typ Frau.

AALTO vermischt also den psychologischen, biografisch-chronologischen Zugang mit einer genauen Betrachtung des frühen Möbeldesigns und dann der wichtigsten weltweiten Bauwerke, die sämtlich bereist wurden für die Dokumentation. Die kontinuierliche Darstellung dieser Untrennbarkeit ist die schönste Leistung des Films. Alvar Aalto bewegt sich zwischen individuellem Stilwillen, Kunst, Schönheit und Funktionalismus. Mit Aino produziert er Möbel zu einem erschwinglichen Preis. Er legt viel Sorgfalt auf die praktischen Details, den Zweck und die Lage des Gebäudes, sei es Krankenhaus, Uni oder Kirche. Gezeigt wird die große Bandbreite: vom standardisierten Wohnen bis zum individuellen und auch innen frei gestalteten Haus-Gesamtkunstwerk.


© Euphoria FIlm
 
 
  

THE ANIMATED STORY OF JENNY LIND

THE ANIMATED STORY OF JENNY LIND (Schweden 2020), Regie und Drehbuch Ditte Feuk, ist von seiner Struktur her eine biografische Darstellung des Lebens der legendären schwedischen Sopranistin des 19.Jahrhunderts in Form der wichtigsten, in einzelnen Szenen dargestellten Stationen. Deutschen Cinephilen ist Jenny Lind am besten bekannt in der Gestalt von Ilse Werner in einer traurig-fiktiven Liebesgeschichte mit Joachim Gottschalk als H.C. Andersen, betitelt nach ihrem Spitznamen DIE SCHWEDISCHE NACHTIGALL (1941). Da sieht man, wie sehr sie noch in den 1930ern, 1940ern im kollektiven Gedächtnis war, und das, wo doch eigentlich da schon kaum noch einer wusste, wie sie eigentlich wirklich gesungen hat. Ihr wirkliches Erbe ist ja vor allem ihre Lebensgeschichte.

Von Jessica Laurén sind die ebenso realen wie stilisierten Animationen, in denen sich echte Schauspieler bewegen. Das hat etwas von alten Postkarten. Oder auch von künstlichen Stummfilmdekors, in die sich die überdeutliche, stilisierte Spielweise der Darsteller einfügt. Dazu gibt es noch die passende Klavierbegleitung. Zeichnungen, Computeranimation, das gesamte Arsenal kommt sehr abwechslungsreich, beweglich und fließend zum Einsatz.

Und dann gibt es mit der Stimme des berühmten Opernsängers Thomas Hampson einen Erzähler, der einerseits passend ist wie ein alter Stummfilm-Erzähler. Aber die Bilder zu unterbrechen, um den Erzähler ins Bild zu nehmen, erzeugt jedes mal einen deprimierenden Bruch und wirkt durch die allzu sichere, leicht selbstverliebte Künstlerattitüde des Maestro zu übermächtig. Regelmäßig wird die schöne, mitunter zarte Wirkung der Animationen durch diesen gemütlich an einem Tisch sitzenden Mann zerstört. Aber vielleicht ist es ja Absicht, wollte man ja wirklich mehr plauderndes Schulfernsehen als Emotion und Poesie. Oder Regisseurin Feuk hatte Angst, dass die Animationen von Jessica Laurén zu sehr das Übergewicht bekommen. Ob Absicht oder nicht, sie hat es erfolgreich verhindert.

 
© SVT Sales
 
 

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Ásdís Thoroddsens Filme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020

 

© Gjóla Films
 

Mit zwei Filmen bei der Retrospektive „Fishermen's Films“ und einem neuen Werk in der Dokumentarfilmsektion war die isländische Regisseurin Ásdís Thoroddsen gleich dreifach bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 vertreten. Da ja bekanntlich die Filmtage wegen Grippe gänzlich in den virtuellen Raum verlegt worden sind, sind den Zuschauern vermutlich interessante Nach-dem-Film-Gespräche mit Throroddsen entgangen, die als Spielfilmregisseurin begann, dann eine alleinerziehende Mutterpause vom Film einlegte und jetzt seit zehn Jahren spannende und detailreiche Dokumentarfilme über die isländische Gegenwart und Vergangenheit dreht. 

 

 INGALO IM GRÜNEN MEER
 
Hauptfigur von Throroddsens Lang- und Spielfilmdebüt INGALO IM GRÜNEN MEER / INGALÓ (1992) ist eine junge Frau, die man aus der Ferne mit Fug und Recht und voller Sympathie rebellisch nennen kann. Wer allerdings mit ihr zu tun, dem kann sie als energischer Satansbraten durchaus das Fürchten lernen. Aber sie lebt ja auch in einer rauen, nicht allzu zartbesaiteten Welt. Das erfährt sie täglich, wenn sie mit dem wenig heiteren Vater zur Fjordfischerei herausfährt. Zur Verteidigung hat sie sich einen ziemlich düsteren, wilden, wütenden Blick zugelegt, der deutlich macht, dass sie sich nichts gefallen lässt. So wird sie denn auch konsequenterweise handgreiflich gegenüber ein paar ihr zu nahe gehenden Seeleuten auf einem Tanzabend. Bei der Prügelei, die zwei Polizisten schlichten wollen, beißt sie einem der Beamten in den Arm. Das ist allerdings auch in Island verboten. Jugendknast oder psychiatrische Untersuchung – da fällt ihr die Wahl nicht schwer, wenn man aus dem öden Heimatkaff in den Süden kommen kann. Aber selbst die Ärztin dort muss leise lächeln bei ihren Geschichten. Hauptdarstellerin Solveig Arnardóttir schafft es, hinter der rauen Schale von Ingalo eine große Sensibilität und Intelligenz hervorscheinen zu lassen.

Dann verfolgt der Film Ingalos Weg nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, denn sie ist ganz sicher nicht verrückt, allenfalls frustriert und unterfordert. Sie verbringt eine Nacht mit einem begüterten Mitpatienten. Sie wird Schiffsköchin und kommt in die etwas größere Provinzstadt, wo sie in einem schmierigen überfüllten Wohnheim für Saisonarbeiter schläft. Dort zettelt sie eine Hygienerevolution an, bei der sich die Gewerkschaften einschalten müssen.

Thoroddsen zeigt in INGALÓ hinter dem Einzelschicksal, der individuellen Emanzipationsgeschichte, eine gesellschaftlich und politisch ausweglose Situation, in der Gut und Böse weniger deutlich verteilt sind, als man es vielleicht gerne möchte. Da ist zwar die korrupt erscheinende Haltung des Gewerkschaftsbosses, der zur Beruhigung der erhitzten Gemüter ein kritisches Papier ausarbeiten lässt, das nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken soll. Da ist also eine treffende Kritik an pseudolinker Tarifpolitik, aber andererseits steht hier tatsächlich ein Arbeitgeber, von dem alle abhängig sind, kurz vor der Pleite. Zur Not wird mit Hilfe des Kapitäns sogar ein Trawler versenkt, um die Versicherungssumme zu kassieren, wobei Ingalos Bruder zu Tode kommt. Ganz einfach, weil keiner ihn bemerkt hat auf dem Schiff. Der stille, introvertierte Bruder ist sowieso der wahre Verlorene dieser Geschichte, einer, der weich, poetisch und sensibel ist. Die, die nie etwas sagen, sind meist die, die am stärksten leiden. Nicht die, die wie Ingalo jedes Gefühl in einem Akt der erleichternden Befreiung herauslassen.

Und auch wenn Ingalo durchgehend im Mittelpunkt steht, Träger und auch Antreiber der Handlung ist, verlagert sich der Film immer mehr hin zu einer großen sozialen Milieuschilderung: über die Fischerei auf dem Wasser, über die prekäre Situation der kleinen Betriebe, über das unerträglich vermadete Wohnheim, über eine kleine Gemeinde. Daher hat INGALÓ in vielen Szenen eine fast dokumentarische Qualität. Dass es tatsächlich das ist, was Thoroddsen im Kern interessiert, sieht man auch daran, wie der Untergang des Schiffes, der immerhin zu einem Todesfall führt, dramaturgisch ins Leere läuft. In anderen Filmen hätte es staatliche Ermittlungen, Verdächtigungen, künstliche Spannung und Aufregung gegeben. Das aber interessiert hier überhaupt nicht. Was INGALÓ übrigens sofort in seiner Entstehungszeit positioniert, ist der Saxophon-Synthie-Sountrack mit seinem Spät-80er-Charme. 1996 dann hatte Thoroddsens zweiter Spielfilm TRAUMLAND / DRAUMADISIR Premiere.

 
 
Sólveig Arnarsdóttir © Gjóla Films

 

WETTERWECHSEL

Vor zehn Jahren begann Throroddsen wieder mit der Arbeit an längeren, aber jetzt rein dokumentarischen Filmen. A TECHNICAL GUIDE TO CLINK BOAT BUILDING / BJÖRG - LEIÐARVÍSIR Í BÁTASMÍÐI (2010), ist eine 4-h-DVD zum Saga-Bootbau, Ergebnis einer Kamerabeobachtung von Herbst 2006 bis August 2007, als das fertige Boot zur See gesetzt wurde. SÚÐBYRÐINGUR SAGA BÁTS / ON NORTHERN WATERS – THE STORY OF A BOAT (2011) ist die Kurzform dieses Baus, ergänzt durch eine breitere historische Darstellung. 

WETTERWECHSEL / VEĐRABRIGĐI (2015) dann ist in gewisser Weise die dokumentarische Fortsetzung von INGALÓ, wo ja ein verschuldeter Fischerei-Mittelständler kurz vor dem Ruin gezeigt wird. Denn diese unaufgeregte, aber inhaltlich sehr dichte Doku zeigt am Beispiel der kleinen Gemeinde Flateyri den Untergang der kleinen fischverarbeitenden Betriebe, die typischerweise der ökonomische Dreh- und Angelpunkt eines Dorfes waren. Es ist die Geschichte eines andauernden Überlebenskampfes. In Flateyri begannen die großen Probleme mit der Schließung der Fischfabrik im Jahre 2007.

Das Schlüsselwort lautet „Quoten“. Das Prinzip an sich stellt, angesichts der Tatsache, dass Ende der 1980er fast alles leergefischt war, niemand in Frage, aber seit der Einführung im Jahre 1990 hat nach und nach eine monopolistische Konzentration dieser Fangerlaubnisse in die Hände weniger stattgefunden. Aus finanzieller Not, aus reiner Gier oder auch Bequemlichkeit wurden die Quoten nach und nach verkauft, aber die kleinen Gemeinden brauchen Boote, die ihnen Fische zum Verarbeiten bringen. Einige Jahre hat eine ortsansässige Familie versucht, die Fabrik in Eigenregie zu führen, aber auch das scheiterte langfristig. Es gibt in WETTERWECHSEL eine ausführliche Quoten-Diskussion, deren Details man als mit dem Thema nicht Vertrauter zwischendurch nur schwer folgen kann.

Der Film ist an sich sehr detailreich, zeigt die vielen Abhängigkeiten verschiedener Faktoren untereinander. Eine Menge Archiv-Aufnahmen von Nachrichten werden eingespielt. WETTERWECHSEL (2015) tut sich keinen Zwang an und dient dem sehr praktischen und didaktischen Zweck der reinen Informationsvermittlung. Und das gelingt ganz ausgezeichnet. Das wird verbunden mit einer Reihe privater, intimer Porträts von Menschen, die in dieser Situation kämpfen müssen, die im Rahmen der knappen Möglichkeiten einer kleinen Gemeinde anpassungsfähig sein müssen. Es sind Menschen, die an die Gemeinde, an diese Gemeinschaft glauben und sie erhalten wollen. Und es gibt auch das praktische Argument: Was wäre das für ein Island, wenn am Ende nur noch ein paar Zentren vor allem im Süden überleben würden?

Besonders im Mittelpunkt steht die junge Polin Janina, eine alleinerziehende Mutter. Dann gibt es einen polnischen Fischer. So ist es nebenbei auch ein Film über Gastarbeiter, die aber bleiben. Ein isländischer Toningenieur, der vor der Finanzkrise ein gut gehendes Tonstudio hatte, muss jetzt die Schulden als LKW-Fahrer abarbeiten. Sommerhäuser sind dazugekommen, die neue Bürger bringen. Eine Familie versucht, mehrere Eisen im Feuer zu haben, darunter auch die Forellenzucht. Traurig-ironisch sind einige Aufnahmen von einem Fischerei-Festival, bei dem ehemalige Fischer Modell-Fischerboote als museales Erinnerungsspielzeug zu Wasser lassen. Es sieht tatsächlich so aus, als ob es in diesen Gemeinden auf lange Sicht gar keinen Fischfang mehr geben wird.

 

© Gjóla Films

  

REICHES LAND – TRADITION UND GESCHICHTE DES ESSENS IN ISLAND

Wie die Bootbaufilme machen Thoroddsens nächste Filme die alte Vergangenheit für die Gegenwart lebendig und verbinden beide miteinander. Einmal der Film über Volkstrachten FORM AND FUNCTION – HANDICRAFT AND HISTORY OF THE ICELANDIC NATIONAL COSTUMES / SKJÓL OG SKART (2017) und dann der auf den Nordischen Filmtagen gezeigte Film über isländisches Essen REICHES LAND – TRADITION UND GESCHICHTE DES ESSENS IN ISLAND / GÓSENDLANDIĐ – ÍSLENSK MATARHEFĐ OG MATARSAGA (2019).

Und da geht es ans Eingemachte und andere Mahlzeiten. REICHES LAND ist ein Spaziergang sowohl vertikal durch die Zeit als auch horizontal durch all die verschiedenen Arten von Essbarem. Und so ist der Film eine ungeheuer informative und anschauliche filmische Enzyklopädie über alle möglichen Aspekte der isländischen Esskultur. Am ausführlichsten geht es um die zwei wichtigsten Traditionen: Milch und das Milchprodukt Styr sowie Fleisch, also Tiersorten, Zucht, Schlachten, Verarbeitung. Am schönsten ist die Darstellung der traditionellen Methoden. Es gibt viele Gesprächspartner, aber eine Frau ist gewissermaßen die Seele des Films: Die Bäuerin Elin Methusalemsdóttir (1933-2019) kann nicht nur über reiche eigene Haushaltserfahrung berichten, sondern durch die Einbeziehung ihrer Eltern geht es mehr als hundert Jahre zurück. Durch regelmäßigen Verweis auf die Sagas wird im Film der Bogen der Geschichte sogar noch weiter geschlagen.

Und es geht um Gemüse, Kräuter, Beeren, um Fisch, den man lange in Island gar nicht so geschätzt hat, den aber die Touristen wollten. Es herrschte lange praktisch bedingter Salzmangel, den man durch Produkte wie saure Butter ausglich, sodass später salzige Butter aus Skandinavien als fürchterlich empfunden wurde. Man kam auch auf Salzgewinnung durch Thermalverdampfung. Überhaupt gibt es viele spannende Entdeckungen, Anekdoten, wie die des Schweinezüchters mit der selbst produzierten Pizza und dem eigenen Pizzawagen. Und als Freund von Blutwurst fand ich die vielen Verarbeitungsmöglichkeiten von Innereien spannend.

Um möglichst viel unterzubringen, wird es gegen Ende vielleicht etwas gehetzt, wenn noch schnell Weihnachtstraditionen eingeflochten werden und es mal eben auch noch um modernes Öko-Kulinarisches geht. Und bei einer Laufzeit von fast zwei Stunden kann es dann durchaus sein, dass einem am Ende der Kopf schwirrt angesichts so vieler Informationen und Zusammenhänge, was aber nichts daran ändert, dass der Film eine sehr schöne und informative Essensreise darstellt. Ob der Film allerdings grundsätzlich ein „appetitlicher Rundgang“ ist, wie es im Katalog der Filmtage steht, ist aber sicher Geschmackssache. Ich stimme dem dazu. Doch so manchem zarten Vegetarierpflänzchen könnte der Appetit bei der einen oder anderen Schlachthaus- oder Innereiensequenz durchaus vergehen.

Thoroddsens nächster Film WOODS GREW HERE ONCE behandelt laut Homepage ihrer Produktionsfirma Gjola das uralte Island, das mal zu einem großen Teil von Bäumen bewachsen war. Und es wird um die moderne Frage der Wiederaufforstung gehen, bei der man vorsichtig aufpassen muss, nicht mehr Schaden als Nutzen anzurichten.

 
 
© Gjóla Films

Sonntag, 22. November 2020

Baltische Filme bei der Retrospektive der Nordischen Filmtage Lübeck 2020

Die Retrospektive der Nordischen Filmtage Lübeck 2020 bot unter dem Wortspieltitel „Fishermen's Films“ dieses Jahr Filme über die Fischerei, vom Fischen selbst bis zur daran hängenden Fischwirtschaft. Und zum dritten Mal in Folge waren erfreulicherweise einige baltische Filme aus der Sowjetzeit, aus den Jahren 1959-1983, darunter. Vier der fünf vorgesehenen Werke überlebten die Umstellung des Festivals auf eine reine Corona-Online-Version. Mit TRAWLER AUF FREMDEM KURS / KAPTEINIS NULLE (Lettland 1964) schied dabei mein baltischer Lieblingsfilm der 2018-Retrospektive aus, der mit seiner deutsch synchronisierten DDR-Kopie noch einmal zum Einsatz hätte kommen sollen. Diese schöne Mischung aus Arbeitswirklichkeit, Poesie, Modernisierungsdiskussion und einem damit verbundenen Schuss romantischer Geschlechterkriegskomödie hätte ruhig noch einige Zuschauer mehr haben sollen. Es ist aber auch deshalb bedauerlich, als dass interessanterweise die anderen vier Filme natürlich auch Szenen auf dem Meer enthalten, aber der Vorgang des Fischens nirgendwo so sehr im Mittelpunkt steht wie in TRAWLER AUF FREMDEM KURS.

 

RIFFE UNTER WASSER

Allerdings gibt es eine interessante Überschneidung mit RIFFE UNTER WASSER / VEEALUSED KARID (Estland 1959) von Viktor Nevežin. Auch hier verbindet sich die Modernisierungsthematik mit einem Geschlechterkrieg, nur dass es nicht einmal ansatzweise lustig, sondern ernst melodramatisch wird. Verschärfend kommt hinzu, dass die beiden Hauptkontrahenten miteinander verheiratet sind. Konfliktthema ist die Diskussion in einem Dorfkollektiv um die Frage des Erhalts der Küstenfischerei angesichts der Hochseefischerei mit dem Trawler.

Erzählt wird die Geschichte in einem einfachen, funktionellen, sich auf Menschen und Story konzentrierenden Stil, weshalb es auch nicht erstaunt, wenn man im Filmtage-Katalog entdeckt, dass das Ganze auf einem Bühnenstück von Aadu Hindi beruht. Dorf und Meer haben kein Eigenleben. Sie sind vor allem der Hintergrund, die Kulisse für die zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen und Konflikte. Nur hin und wieder wird ein lyrisches Bild eingestreut. Die lyrische Rolle wird eher von gesungenen Volksliedern übernommen.

Der Film beginnt eigentlich als harmonischer Heimatfilm. Ein Trawler fährt auf eine Ortschaft an der explizit als „schön“ bezeichneten Küstenlinie der estnischen Insel Saarema zu. Gerade findet die gesellige Hochzeit des Fischereikollektiv-Vorsitzenden Tönis statt. Da fällt ein bitterer Tropfen in die heitere Eintracht: Der Bräutigam bekommt ein Zigarettenetui geschenkt, das ihm offensichtlich wenig Freude bereitet, weil es die Vergangenheit wiederaufleben lässt, die später in einigen Rückblenden aufgerollt wird. Tönis arbeitete in seiner Kindheit und Jugend für den alles bestimmenden und beherrschenden Bootsbesitzer des Dorfes. Bis es zwei einschneidende Erlebnisse gab: Einmal die Weigerung dieses Kapitäns, Schiffbrüchigen zu helfen aus Angst um sein eigenes Boot und die Besatzung. Und die Weigerung, den mittellosen Tönis als Schwiegersohn zu akzeptieren.

Parallel zu diesen Rückblenden verwandelt Tönis selbst sich in einen kommunikationsunwilligen, düsteren Diktator, der keinen Widersprich duldet bei seinen Plänen, alles auf reine Hochseefischerei umzustellen. Und Opposition darf schon gar nicht von seiner Frau, einer gut ausgebildeten Fischerei-Ingenieurin, kommen, die einen klugen und klaren Kopf hat und die die Küstenfischer aktiv unterstützt. Als Reaktion auf diese doppelte, als Demütigung empfundene Autoritätskrise beginnt er eine Affäre mit einer leichtlebebigen Frau, die ihn mit einer Art erotischer Fürsorglichkeit geschickt bemuttert und umsorgt. Da fühlt sich seine Männlichkeit nicht bedroht, sondern bestärkt.

Einerseits arbeitet der Film mit sehr eindeutigen Symbolen wie dem Feuerzeug und dem von der Geliebten und ihrem Bruder, dem Finanzverwalter des Kollektivs, renovierten und bezogenen Haus des herrischen Kapitäns. Und am Ende sagt Tönis wörtlich etwas, was der Tyrann seiner Jugend gesagt hat. Das weist zwar auf ein warnendes Musterbeispiel für einen Rückfall in alte, kapitalistische Zeiten und die Willkürherrschaft eines besitzenden Monopolisten hin. Dazu kommt die westliche geprägte Dekadenz aus Ausschweifung und Spekulantentum, in die Tönis hineingezogen werden soll. Und dennoch liegt in diesen Konflikten eine spannende Ambivalenz, und das nicht nur durch die zusätzliche Geschlechterthematik. Da ist eben mehr. Denn sechs Jahre nach Stalins Tod hat diese Verachtung des Kollektivwillens und vor allem auch Tönis' totalitäre, den einzelnen Menschen missachtende Gigantomanie, die die bescheidenere, aber trotz allem ertragreiche Küstenfischerei sinnlos abschaffen will, stark stalinistische Züge. Es gibt hier eben zwei Vergangenheiten, in die man nicht zurückfallen will.

 
© Estonian Film Institute & Film Archive
 

 

MÄNNER AUS DEM FISCHERDORF

MÄNNER AUS DEM FISCHERDORF / ÜHE KÜLA MEHED (Estland 1961) von Jüri Müür wird bestimmt von den Problemen der Exil- und Heimatfrage, die wiederum eng mit der unruhigen estnischen Geschichte der wechselnden Besatzer seit Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammenhängt. Das ist eine Thematik, die auch schon in anderen baltischen Filmen der vorherigen beiden Filmtage auftauchte, etwa in DAS WEISSE SCHIFF (1970).

In Müürs Film landen fünf estnische Fischer mit ihrem Boot aufgrund eines Motorschadens in Finnland, wo ein freundlicher Fischerkollege sie aufnimmt. Es dauert etwas, bis jemand von der sowjetischen Botschaft auftaucht und sie wieder zurückkönnen. In der Zwischenzeit entsteht bei zwei Fischern kurzfristig die Versuchung zu bleiben. Treibende Kraft dahinter ist ein Exilant, der natürlich ein ehemaliger Kollaborateur ist und zu einer geheimdienstlichen Verschwörung mit dem Ziel eines baltischen Umsturzes gehört, und der versucht, vor allem einen älteren Mann zum Bleiben zu bewegen. Doch am Ende obsiegt die Zugehörigkeit zur Heimat, die man wohl immer doppelt verstehen muss als UdSSR und die jeweilige baltische Republik.

Die Stärke des Films liegt aber primär gar nicht in der verbalen Diskussion dieser Themen, sondern darin, wie Müür sehr präzise und abwechslungsreich und ohne leere Rhetorik Atmosphäre und Menschen schildert. Er beginnt mit einer langen Kamerafahrt an vertäuten Fischerbooten entlang und ein Sprecher führt uns in die Geschichte ein und betont, dass es so passiert sein kann, aber Fischer redeten ja nicht viel. Und dieses Prinzip macht sich der Film in einigen seiner schönsten Szenen zunutze, die neugierig machen auf andere Arbeiten des Regisseurs, aber auch der verantwortlichen Kameraleute Jüri Garšnek und Harri Rehe.

Da ist vor allem der äußerst bemerkenswerte, ausdrucksstarke Anfang, der uns drei der Fischer mit ihren Alltagsproblemen näher vorstellt. Es ist ein Anfang mit drei grundverschiedenen Stimmungen und auch Stilen, die wie drei getrennte Filmanfänge in einem Episodenfilm wirken, aber übergangslos nebeneinander gestellt werden: Ein Mann geht an einem einsamen steinigen Strand entlang, während eine Frau hinterherstolpert und kommunizieren will, aber für ihn gibt es nichts mehr zu sagen. Dann steht sie auf einem großen Felsbrocken und streckt die Hand nach ihm aus, die er nicht ergreift. Ein physisches Symbol ihrer vergeblichen Bemühungen. Eine moderne, fast antonionihafte kalte Einsamkeit liegt über der Szene. Dann sieht man ein mittelaltes Paar eine Hütte betreten, die fürchterlich heruntergekommen ist und von der Frau treffend als „Schweinestall“ bezeichnet wird. Sie setzen sich gegenüber an einen Tisch. „Ich bin alt geworden beim Warten auf dich“, sagt er ihr. Aber sie wartet auch, nur auf jemand anderen, der vor längerer Zeit ins Exil gegangen ist. In nur ein paar Einstellungen und Sätzen wird hier ein Melodrama nach dem Muster A liebt B liebt C entworfen. Die Filmmusik dazu ist hemmungslos emotional. Eine unendliche Melancholie verlorener Zeit liegt über dem Ganzen. Der dritte Teil ist purer Sozialrealismus, der wirkt, als lägen die goldenen Zeit des Sozialismus noch in weitester Ferne. Man erlebt einen alten verkniffenen geizigen Patriarchen, eine still schweigende Frau und eine junge Tochter, die am liebsten explodieren möchte vor Wut.

Und gerade dieser Alte kommt der Versuchung, nicht zurückzukehren, am nächsten. Und auch hier wird nicht auf Worte, Argumente oder ideologische Belehrung zurückgegriffen, sondern auf die Sichtbarmachung innerer Vorgänge. Es ist eine teilweise rein stumme Szene, in der er auf einer engen Bank im Wartesaal eines finnischen Provinzbahnhofs sitzt, sich unwohl fühlt und ihn ein einschüchterndes Fremdheitsgefühl überwältigt. Langsam wandert sein Blick, in einem ständigen Schnitt-Gegenschnitt, in der Umgebung umher, fällt auf unverständliche Beschriftungen. Die paar Sätze, die andere Wartende an ihn richten, kann er nicht verstehen. Er spürt, wie seine einfache Kleidung auffällt. Diese Erfahrung genügt ihm und er kehrt zurück zu den anderen, wo zunächst eine gewisse Anspannung herrscht, weil ja alle Bescheid wissen. Aber dann fallen ein paar erlösende Worte und es ist wieder harmonisch. Die Sache selbst wird nicht erwähnt. Auf der Rückfahrt spricht der Alte, in den Himmel schauend, ein Gebet und die anderen gucken ihn wieder etwas gespannt an. Dann hört er auf, sagt locker etwas über das Wetter und alles ist wieder entspannt. Müür erfasst die jeweiligen Stimmungen und ihren plötzlichen Wechsel sehr präzise und versteht es, sie zu vermitteln. Müür filmt gewissermaßen zwischen den Zeilen, aber auch zwischen dem Schweigen.

Eine der schönsten Szenen gegen Ende des Films gehört übrigens einer tragikomischen Nebenfigur, einem Trinker, der durch seine schlampige Motorwartung die Havarie unfreiwillig erst in Gang gesetzt hat. Arbeitslos und frustriert sitzt er mit Akkordeon an einem Steg, säuft und singt übertrieben laut. Eine Frau nähert sich von hinten, steht da entnervt und tritt seine Schnapsflasche einfach ins Wasser. In einer großen Totalen, die Kamera leicht nach unten geneigt, sieht man den Trinker jetzt von hinten. Das Wasser kräuselt sich sanft mit dem Spiegelbild der Schiffsmasten von gegenüber. In der Mitte des Bildes taucht im Wasser nun nur das Spiegelbild der Frau auf, die weggeht. Der Mann hat aufgehört, laut zu singen. Dafür wird das Lied von den Fischern auf dem Meer wiederaufgenommen, die es während des Herausfahrens singen.

 

© Estonian Film Institute & Film Archive
 

 

DAS RAUE MEER

Ein zum großen Teil vom Fischfang lebendes Dorf steht auch im Mittelpunkt von DAS RAUE MEER / KARGE MERI (Estland 1981) von Arvo Kruusement, einer Verfilmung von August Gailits Roman von 1938. Die Story ist einfach: Eine junge städtische Frau heiratet einen Inselfischer, lebt mit ihm nach alter Sitte und geht nach dessen Tod durch Ertrinken schwanger wieder in ihre alte Welt zurück.

Gleich in den ersten Sequenzen treffen diese zwei Welten aufeinander. Der Fischer kommt auf ganz traditionelle Weise mit geschmücktem Boot, um seine Braut abzuholen, in die moderne Stadt. Dass sie ihm seiner Ansicht nach brieflich eindeutige Zeichen gegeben hat, reicht ihm. Und tatsächlich folgt die Frau ihm. Und noch unterwegs auf dem Meer schlafen sie miteinander. Das Meer, die Umgebung werden dunkel, sie sind allein für sich, außerhalb von Zeit und Raum. Zum letzten Mal in diesem Film.

Auf der Insel ist alles ursprünglich, unverändert seit langer Zeit. Hier werden Trachten getragen, Gebräuche gepflegt und sinnstiftende Mythen bewahrt, wie die der Schwäne, die bei ihrem Flug die Seelen der Ertrunkenen mitnehmen. Besonders wird dies bei den Hochzeitsbräuchen deutlich, denen das Paar sich geduldig unterwirft. Doch am Ende wirkt die Feier eher wie ein Hexensabbat mit Feuer und Rauch, einem Boot auf einem Dach und ekstatischen, sich streitenden Menschen. Eine blinde alte Frau mit der korrekten Prophezeiung „schnelle Hochzeit, schnelles Ende“ durchstreift den Film. Viele heidnische Elemente überlagern die christlichen. So weigern sich die Fischer und Jäger, in stürmischen, unsicheren Zeiten in die Kirche zu gehen. Das Meer ist ihr Gott, das sie nicht eifersüchtig machen dürfen. Die Natur, die wild gewordene Materie wird also als mächtiger als Gott betrachtet. Hier ist man direkt an den Wurzeln eines archaischen Lebensstils, der ganz und gar von der Härte der Natur geprägt ist. Angesichts des Todes existieren Stoik, Fatalismus, ritualisiertes Leben, eingebettet in eine Art alle versorgenden Frühkommunismus, dem der Einzelne sich unterzuordnen hat. Doch es ist, anders als man vielleicht erwarten könnte, keine patriarchalische Gesellschaft. Eine Frau lebt unbehelligt mit ihren Kindern allein auf einem Hof und lässt alle Bewerber ungestraft abblitzen. Eine energische mittelalte Frau betreibt Fischgroßhandel in der Region, steht aber wie die weibliche Hauptfigur für die unweigerlich anrückende Moderne. Doch der individualistische Fortschritt wird von den meisten noch abgelehnt, weil er zerstörerisch sei, den Frieden und den Zusammenhalt bedrohe.

Der Film bemüht sich um einen einfachen, bewusst statischen Stil mit sehr ruhigen Einstellungen. Es ist eine sehr langsame, aber nicht langatmige Literaturverfilmung, die sich mit ihrer kurzen Laufzeit von etwa 70 Minuten präzise auf das Essentielle beschränkt und so sogar einen gewissen Grad von Abstraktion erreicht. So wie bei dem Spinnabend, zu dem eine Frau eingeladen hat und der daraus besteht, dass etwa sieben Frauen nebeneinander sitzen, ohne viel zu reden, die spinnen und abends irgendwann nach vorgegebenen Abschiedsfloskeln mit ihrer Gerätschaft nach Hause gehen. Das alles in einer einzigen Einstellung. DAS RAUE MEER ist auch voller schöner Bilder vom Meer und der Sonne am Horizont, jeweils zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, mit verschiedenen Farben und Arten von Luft – gelblich, hellblau, diesig, klar. Es ist ein Dokumentieren, eine natürliche Romantik und Schönheit, während doch eine gewisse Distanz bleibt. Kruusement sucht nicht bewusst den poetischen Effekt, das würde auch nicht zur Geschichte und ihrer Figuren passen.

Sehr gelungen, in der Verbindung aus gespielten Szenen und Dokumentaraufnahmen, ist das gefährliche Aufbrechen des Eises und der darauf folgende Überlebenskampf während der Seehundjagd: Wie die Jäger versuchen, mit ihrem kleinen Boot durchzukommen und dann über das Eis flüchten Richtung Festland, als würden sie gejagt, so wie sie vorher die Seehunde gejagt haben. Hier gibt es keine Sicherheit, keine zivilisatorische Scheinsicherheit. Auf individuelle Belohnung muss man verzichten. Entweder das Erarbeitete geht im Kollektiv unter oder es kommt der höchst wahrscheinliche Tod auf dem Meer oder dem Eis. Von der Außenperspektive der weiblichen Hauptfigur aus ist das eine unakzeptable, freudlose, unerträgliche, ja sogar skandalöse Art der Existenz.

 
© Estonian Film Institute & Film Archive

 

 EINE FRAU UND IHRE VIER MÄNNER

Eine Erzählung des Dänen Holger Drachmann ist die Grundlage von EINE FRAU UND IHRE VIER MÄNNER / MOTERIS IR KETURI JOS VYRAI (Litauen 1983). Der Handlungsort wird vom sandigen Skagen an die nicht minder sandige Kurische Nehrung verlegt. Die Zeit bleibt das 19.Jahrhundert, als die Gegend deutsch war. Im Mittelpunkt steht eine Witwe, die am Anfang an der Leiche ihres während einer Sturmflut ertrunkenen Ehemannes steht. Die Trauer hält sich in Grenzen, denn er hat sie geschlagen. Ein Vater mit zwei Söhnen kümmert sich kurz um sie, bevor einer der Söhne sie nach Hause bringt, wo noch alles überflutet ist. Die beiden heiraten nach einiger Zeit. In der Folge sind durch Tod und Geburt immer vier Männer, also männliche Personen, die Kinder eingerechnet, in ihrem Leben. Doch geht es hier nicht um die Austauschbarkeit von Menschen. Die grausame Ironie der Geschichte ist, dass der Mann, den die Frau wirklich liebt, fortgeht, weil er sich einredet, sie liebe seinen Bruder, wo sie doch nur nett zu diesem ist.

EINE FRAU UND IHRE VIER MÄNNER ist ein Film über das Leben einer Frau in Zeiten, wo Frauen nur schwer oder gar nicht selbstständig Arbeit fanden. Es geht um materielle Not und die ewige Schuldenfalle der Fischer, um den Kampf gegen Zinseszins der Schulden und gegen den Sand der Dünen, der trotz unaufhörlichen Schaufelns das Haus auffrisst. Die Landschaft mit ihren großen Dünen und weiten weißen Flächen dazwischen ist Teil, Protagonist der Handlung, sowohl Lebensmittelpunkt als auch Antagonist der Figuren. Und auch wenn es ein Film über Fischer ist, bleibt die Handlung durchweg an Land. Aber es geht auch um den Fluss des Lebens. Denn trotz des gezeigten Elends und der schwierigen Lebensumstände badet der Film nicht in Düsternis, sondern zeigt, dass es immer irgendwie weitergeht. Hier wird nicht gejammert. Vor allem der Vater ist ein Vorbild an Stolz, Würde und Familiensinn. Es gibt sogar ein kleines kurzfristiges Happy End durch Geld, das plötzlich aus dem Sand aufgetaucht ist. Zum Schluss wird am Strand getanzt.

 

© Lithuanian Film Studio
 

Sonntag, 15. November 2020

Tobias Lindholms THE INVESTIGATION – Ermittlung am seidenen Faden

© Miso Film
 
Schon im Vorfeld, und ohne Tobias Lindholms sechsteilige Miniserie EFTERFORSKNINGEN / THE INVESTIGATION - DER MORD AN KIM WALL (2020) überhaupt gesehen zu haben, gab es Stimmen dagegen. Gegen einen Film an sich über den während der Untersuchung von der Presse „U-Boot-Fall“ getauften Mord an der schwedischen Journalistin Kim Wall. Ethische Einwände, künstlich hervorgekramte Einwände. Die Ethik ist in solch einem Fall doch schon lange dahin angesichts all der sensationslüsternen Schlagzeilen der Presse. Man muss nur sehen, mit welcher Freude diese über den Ausbruchsversuch des Mörders Peter Madsen jetzt im Oktober 2020 berichtet hat. So viel Aufmerksamkeit schenken sie ihm immer noch, ihm, den sie früher gefeiert und zu einer Berühmtheit gemacht haben. Wie soll ein Film, egal wie er auch aussieht, da noch großen Schaden anrichten? Der richtige Film kann sogar dazu beitragen, wieder ein bisschen Ethik oder einfach nur Sachlichkeit in dieser Angelegenheit wiederherzustellen. Und tatsächlich ist EFTERFORSKNINGEN, der September bis November 2020 auf TV2 ausgestrahlt wurde, so ein Film.

Zunächst noch einmal kurz ein paar zentrale Fakten: Peter Madsen war ein Erfinder und Selfmademan mit selbstgebauten U-Booten, auch aktiv in der Raketentechnik. Aber vor allem war er eine gefeierte Medienpersönlichkeit mit vielen Fans, eine echte Kultfigur mit eigenem Bewundererkreis, vor allem weiblichem. Nur Eingeweihte wussten, dass Madsen ein Faible für sexuelle Perversionen und einen Hang zur Gewalt hatte. Am 10. August 2017 bat die schwedische Journalistin Kim Wall Madsen um ein Interview und wurde auf eine U-Boot-Tour eingeladen. Gegen 19:00 Uhr fuhren sie hinaus in die Køge-Bucht südlich von Kopenhagen. Irgendwann an dem Abend, in der Nacht wurde sie misshandelt, missbraucht, ermordet, zerstückelt und in Einzelteilen ins Meer geworfen. Madsen versenkte am 11. August sein U-Boot, wurde gerettet, verhaftet und begann von da an, immer angepasst an den Ermittlungsstand der Behörden, eine Lüge nach der anderen auszusagen. Was als Angeklagter sein gutes, juristisches Recht war, wie auch im Film mehrmals gesagt wird. Nach langem, kompliziertem und aufwändigem Suchen fand man alle sechs Teile der zersägten Leiche Kim Walls im Øresund zwischen Dänemark und Schweden. Madsen erhielt wegen Mordes die höchst mögliche Gefängnisstrafe.

Den mühseligen Kampf um genügend Beweise, die ausreichen für eine taugliche Mord-Anklageschrift, die vor Gericht Bestand hat, den zeigt EFTERFORSKNINGEN auf sehr ruhige und eindringliche Art und Weise. Die Spannung liegt in den vielen Details, und das zu schaffen, ist tatsächlich das bemerkenswerte Kunststück des Films. Er zeigt Menschen in Büros, Menschen, die Zusammenhänge diskutieren, Menschen im Auto, wartende ungeduldige Menschen. Da gibt es keine Action, keine intensiven Verhörmarathons. Da sind einfach nur bis an die Grenze zur Selbstaufgabe arbeitende Beamte mit Hingabe, Intelligenz, Durchhaltevermögen und einem starken Willen. Im Mittelpunkt steht Chefermittler Jens Møller Jensen, der von Søren Malling mit Pokerface und nur subtilen Gefühlsäußerungen gespielt wird. Pilou Asbæk ist der angespannte Staatsanwalt, der, zur Passivität verurteilt, auf die Ermittlungsbehörden vertrauen muss. Tobias Lindholm hat hier seine bisher beste Filmregie abgeliefert.

Die beiden bekanntesten Filme Lindholms sind KAPRINGEN / HIJACKING – TODESANGST ... IN DER GEWALT VON PIRATEN (2012) und KRIGEN / A WAR (2016). Sie sind mit Handkamera gefilmt, mit einer etwas unpräzisen Direktheit, die zwar scheinbar immer dicht dran ist, aber dann doch ein wenig an der Oberfläche bleibt. Sie erinnerten mich zum Zeitpunkt ihrer Premiere an die Peter-Greengrass-Rauheit, die eine kurze Zeit Mode war. Nicht die klare Mise-en-scène stand im Vordergrund, sondern das Erfassen eines Augenblicks. Aber David Fincher erkannte, dass da wohl noch viel Potential in Lindholm steckte und engagierte ihn für zwei Folgen seiner Serienmörder-Serie MINDHUNTERS. Und da war Lindholm gezwungen, sich den Problemen der festen Einstellung, also echter Mise-en-scène zu stellen. Die positiven Auswirkungen dieser Auftragsarbeit sieht man jetzt in EFTERFORSKNINGEN, einem sehr kontrollierten und bedächtigen Film, der den stetigen Rhythmus und die bedrückende, angespannte Stimmung eines ungewöhnlichen und für die Beteiligten mitunter kaum erträglichen Mordfalls wiedergibt. Ruhige, klare Einstellungen, eine unterschwellig wirkende, zurückhaltende Musik. Und nicht ein einziger künstlicher, auf Wirkung bedachter Effekt.

Parallel zu den möglichst kühl und rational ablaufenden Ermittlungen gibt es zwei Familiengeschichten, die, jede auf ihre Art, bewegend sind. Vor allem sind da Kim Walls Eltern, die von Anfang an hinter diesem Film standen. Sie werden von Pernilla August und Ralf Lassgård gespielt. Ständig hält Jens Møller Jensen zu ihnen Kontakt, fährt über den Øresund herüber nach Skåne und informiert sie über neue Ergebnisse und grausige Funde, damit sie davon nicht aus der Presse erfahren müssen. Auf der anderen Seite vermittelt EFTERFORSKNINGEN eine Ahnung von dem persönlichen, privaten Preis der Ermittlungsbeamten. Lindholm fasst das Verhältnis von Møller Jensen und seiner Tochter sehr verdichtet und mit viel dramaturgischer Freiheit zusammen und zeigt eine frustrierte Tochter, die die ständige Abwesenheit des Vaters, sogar, als er Großvater wird, nicht mehr aushält.

Was EFTERFORSKNINGEN zunächst einmal etwas seltsam macht, ist eine gewisse Abstraktion durch die Aussparung des Täters, nicht nur physisch durch den Verzicht auf Rückblenden, Fotos oder Verhöre, sondern auch durch das reine Weglassen des Namens. Er heißt nur „der Täter“. Das wirkt in der ersten Folge zunächst einmal seltsam künstlich. Wo doch jeder den Namen und das Bild im Kopf hat. Man kann sich kurz fragen, ob da nicht ein erdrückendes Phantom geschaffen wird. Aber diese Bedenken verschwinden schnell. Die Rechnung Lindholms geht auf. Man vergisst, was man weiß, und konzentriert sich ganz auf die Gegenwart der arbeitsreichen Ermittlungen, die nach und nach deutlich werdenden Leiden von Kim Wall und die Stärke in der großen Trauer ihrer Eltern. Und niemand vermisst hier den Täter oder seinen Namen. Herzlichen Glückwunsch an Tobias Lindholm! Hätte mich vorher jemand gefragt, ob ich das für eine funktionierende Idee halte, hätte ich meine Zweifel zum Ausdruck gebracht.

Die erschreckendste Erkenntnis von EFTERFORSKNINGEN ist übrigens, wie sehr alles am seidenen Faden hing, dass dieser Wahnsinnige fast davongekommen wäre mit einer schwächeren Anklage, weil lange die nötigen Beweise fehlten. Jeder wusste, was passiert ist, aber in einem Rechtsstaat braucht man Beweise. Der Zuschauer stellt fest, wie viele kleine Details in dieser im Rückblick so glasklar erscheinenden Sache nötig waren. Was Lindholm in EFTERFORSKNIGEN schafft, ist, die Unsicherheit, den Frust und die Erfolge der Beamten den Zuschauer fühlbar zu machen. Sehr viel Zeit wird darauf verwendet, die Taucher zu zeigen, die nach den Leichenteilen im Meer suchen. Und auch wenn lange nichts passiert, hat es eine bemerkenswerte innere Spannung und man bewundert die physische Aufopferung der Taucher. Der Film endet mit der Vorlage der Anklageschrift im März 2018. Verurteilt wurde Peter Madsen im April 2018. Und im März 2019 ging Jens Møller Jensen mit 60 Jahren in Pension.

Samstag, 14. November 2020

I AM GRETA – Das System Greta

Um den Dokumentarfilm I AM GRETA einordnen zu können, muss man noch einmal ganz an den Anfang gehen. Nur dann kann man ein wenig die Legende von den Fakten trennen. Am 20. August 2018 setzte sich ein junges Mädchen namens Greta Thunberg vor das schwedische Parlamentsgebäude mit dem Schild „Schulstreik für das Klima“. Ein Mädchen mit einem Sinn für publikumswirksame Dramatik, schließlich ist sie die Tochter eines Schauspielers, Svante Thunberg, und einer Opernsängerin, Malena Ernman. Und ein Mädchen mit Sinn für kulturelle PR-Arbeit, denn nur drei Tage später, am 23.  August, sollte die gebundene Ausgabe des apokalyptischen Klimawandel-Buches „Scener ur hjärtat“ („Szenen aus dem Herzen“) ihrer Mutter erscheinen. Als Co-Autor wird beim schwedischen Internetportal bokus.com nur Svante Thunberg genannt. Auf dem Cover das lächelnde Gesicht der Mama-Autorin.

Erst in der Taschenbuchausgabe, ausdrücklich als „erweitert“ betitelt, vom 13. Juni 2019 ist Greta Thunberg Mitautorin und beherrscht als frische Berühmtheit selbst ganz allein das Cover mit einem aktuellen Bild und einem Kindheitsfoto in Schwarzweiß, vermutlich mit einem Geschwisterchen beim Spielen. Ein klarer Fall von Muttermord. Jedenfalls hatte Greta danach den Vater als dauerbesorgten Hausdiener ganz für sich und tourte mit ihm durch die Welt von Demo zu Demo. Da gibt es im Film amüsante Szenen: „Greta, du musst was essen!!“ oder „Greta, jetzt hör auf, den Text zu korrigieren!!“ Übrigens könnte man auch vermuten, dass hier ein Fall von psychologischer Übertragung stattgefunden hat. Und zwar Übertragung der apokalyptischen Ängste der Mutter hin zur aufnahmefähigen Tochter. Wenn so ein Buch geschrieben wird, dann kann es in der Familie nur Dauerthema gewesen sein. Oder aber die Mutter hat sich selbst therapiert, weil die Tochter kein anderes Thema mehr im Kopf hatte und sie in den Wahnsinn getrieben hat. Auf jeden Fall ein Fall für den Psychiater. Man glaube aber nicht, dass die oben erwähnten Zusammenhänge im Film auch nur angedeutet werden. Die Marke Greta hat ihre eigene Wirklichkeit.

Aber zurück zum Anfang, zu Gretas Streikaktion. Immer wieder kann man lesen, dass niemand das arme Mädchen zunächst beachtet habe. Und tatsächlich ist das so, wie I AM GRETA zeigt. Harmlose Gespräche mit vereinzelten Passanten, die meckern, sie sollte in die Schule gehen. Ja, aber trotzdem wimmelte es plötzlich von Medien und PR-Klimaaktivisten, die ganz zufällig vorbeigekommen sind. So rein zufällig wie auch Nathan Grossman, Regisseur von I AM GRETA (2020), der uns diese Greta-ist-am-Anfang-Szenen liefert. „Er hatte den richtigen Riecher“, so soll uns das verkauft werden. Ja, er filmt ja auch nur ein bisschen rum aus der Ferne. Vermutlich ist bei Greta deshalb ein Mikro untergebracht, sodass man genau hören kann, was gesagt wird, während sie nicht beachtet wird. Überhaupt keine Frage: Das ist alles perfekt inszeniert. Das Problem an dem Ganzen ist nicht die Inszenierung. Die ist nicht verboten und nichts Ungewöhnliches. Das Problem ist die unglaubliche Verlogenheit, mit der uns etwas anderes eingeredet werden soll. Genauso wie der verheuchelte Segeltörn über den Atlantik, für den viele Flüge der Besatzung notwendig waren. Auch gegen solch eine PR-Aktion spricht überhaupt nichts, aber in I AM GRETA will man uns tatsächlich die hohe Ethik Gretas der CO2-Flugverweigerung anpreisen, wo sie doch bewusster, aktiver Teil der Lüge ist. Auch hier ist das Ganze ebenso dreist dumm wie widerlich verlogen. I AM GRETA ist dermaßen voller unverschämter Propaganda-Lügen vor allem durch bewusstes Weglassen, dass man nur zu dem Schluss kommen kann, dass die Wirklichkeit unter der Oberfläche stinkt und fault. Und die Oberfläche ist inszeniert von einer Familie und erweiterten Gruppe von wirkungserfahrenen Bühnen- und PR-Profis. Aber das Publikum, vor allem das junge, sehnt sich nach reinen, sauberen, vom Schicksal gesandten einsamen Lichtgestalten.

Und das offensichtliche Hauptziel des Films I AM GRETA ist es ja, die Lüge der Legende festzuschreiben. Und die Legende lautet: Greta hat sich selbst aus dem Nicht erschaffen. Drei Jahre hatte sie sich wie eine Heilige von allen zurückgezogen, wie eine Besessene alles über den Klimawandel gelesen, um sich dann aus ihrer Höhle erleuchtet und kampfbereit an die Öffentlichkeit zu begeben. „A force of nature“ ist der direkt satirisch lachhafte Untertitel von I AM GRETA. Der Gipfel der Legende ist die erwähnte Atlantik-Überquerung, wo man sich bemüht, sie möglichst allein zu zeigen. Man hat fast den Eindruck, als wäre da keine Besatzung. Es ist eine lächerliche Inszenierung mit Greta einsam und gedankenversunken, wie sie dann wikingermäßig in der neuen Welt, im neuen York einläuft. Das wirkt wie eine Pippi-Langstrumpf-Parodie eines Propagandafilm-Klassikers. Ich musste unwillkürlich an den Anfang von Leni Riefenstahls TRIUMPH DES WILLENS denken, wo Hitler mit dem Flugzeug aus den Wolken messiasgleich angeflogen kommt, um dann den Nürnberger Reichsparteitag zu beglücken mit seiner Anwesenheit. Auch I AM GRETA versucht, uns mit monumentalen Massen zu beeindrucken, die aber bei der Premiere schon wieder Geschichte waren. Das hatte man sich ja anders vorgestellt mit diesem Werk. Im April 2020 sollte es Premiere haben. Er sollte ein Triumph-Ausrufezeichen setzen für die ständig wachsende Massenbewegung "Freitage für Zukunft" mit einem weiblichen Messias. Und jetzt starrte man nur in das Loch, das das chinesische Virus in die Welt geknabbert hatte.

Die privateren Szenen von I AM GRETA sind allerdings nett anzugucken. Dass die Eltern das Ganze derart intensiv fördern, hat ja auch noch einen anderen Grund: Greta redet endlich. Greta kommuniziert endlich. Greta hat endlich Freunde. Da weint die Mutter vor Freude. Es ist lustig zu sehen, wie Greta die Familie beherrscht. Und endlich sogar eine glückliche Familie. Früher, da hatte sie keine Freunde, wurde nie eingeladen auf Feiern. Jetzt hat sie auf einmal unendlich viele Freunde auf der ganzen Welt und wird geliebt, beachtet. Aber es glaube keiner, sie sei eine Marionette ihrer Eltern oder anderer Kräfte. Sie ist stur, sie ist die Regisseurin, aber sie hat Zulieferer. Und alles ist sehr kalkuliert. Es ist alles durchkalkuliert. Aber Greta kalkuliert mit. Und sie hat beachtliches Schauspieltalent. Es liegt eben in der Familie. Man glaube bloß nicht, dass das berühmte „How dare you“ ein spontaner Wutanfall war. Das war deklamatorisch vorbereitet. Wie auch vieles andere. So weit also zum amüsanten Entertainment-Teil des Ganzen.

Der Klimawandel allerdings ist kein Thema des Films. Denn die Diskussion ist für erledigt erklärt worden. Von Greta. Von den Mainstream-Medien. Von den Politikern. Und von vielen Wissenschaftlern. Und da kommt man an den Punkt, wo einem alles nur noch unheimlich erscheint. Da wird Oberbekleidung mit der Aufschrift „Unite behind the science“ getragen. THE science, noch bestimmter als „follow science“. Aber egal, welcher Ausdruck benutzt wird, es geht immer um „unsere Wissenschaft“, der Rest, die Andersdenkenden werden aus der Gesellschaft der Lebenden ausgeklammert, ausgestoßen und in ein vorerst nur geistiges Gulag der Unanständigen gesperrt. Von einer derart totalitären Bewegung kann man sich nur fernhalten. Und es ist diese Haltung, weshalb ich das Interesse am Thema Klimawandel verloren habe, denn ich habe keine Meinung zu dem Thema, weil ich seit Al Gores Buch nichts mehr zu dem Thema gelesen habe. Nietzsche sagte einmal in einem seiner Kirchenhassanfälle, dass sich in einem Priestermund die Wahrheit in Lüge verwandele. Ein bisschen sehr verallgemeinert, aber so ist es heutzutage jedenfalls mit den Priestern und Priesterinnen der modernen materialistischen Ersatzreligionen.

Und der Klimawandel ist so eine moderne totalitäre Ersatzreligion, eine sowohl Angst erzeugende wie Angst absorbierende Ersatzreligion, die verängstigten Menschen eine Krücke gibt, weil sie, wie bei Corona, ihre seelischen, existenziellen, metaphysischen Ängste auf etwas Konkretes projizieren können. Eine Art Angstrationalisierung der modernen materialistischen gottlosen Gesellschaft. Dazu kommen die ekstatischen, kultartigen, pseudoreligiösen Mittel der Pophysterie, wenn etwa Queens „We will rock you“ auf einer Demo gesungen und mitgeklatscht wird. Das macht alle glücklich. Das ist nicht zu übersehen. Deshalb werden auch Skeptiker mit bizarren und sehr unpräzisen Wortschöpfungen wie „Klimaleugner“ bezeichnet. Deshalb erfinden die Neusprechmeister idiotische Wörter wie „Flugscham“, als wäre es etwas Sexuelles, oder reden von „Ökozid“. Eine ganz eigene totalitäre und absurde Wirklichkeit wird da geschaffen. Es geht hier nicht um Fakten, sondern um Gefühle, um die Erhaltung der Psyche der Gläubigen, die nicht von Ungläubigen und Fakten gestört werden darf. Niemand, der sich einmal daran therapiert hat, möchte das mehr missen. Hier geht es um Leben und Tod, um die physische Gesundheit. Es kommt ja noch dazu, dass die Menschen unbedingt wollen, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Denn die Vorstellung, man wäre Gottes Universum im Endeffekt schutzlos ausgeliefert, dass der Mensch nicht Herr seines materiellen Schicksals ist, würde bei vielen mindestens herzrasende Panik und Schlaflosigkeit verursachen.

Donnerstag, 12. November 2020

Jørgen Leths I WALK – Der Schock des Alterns

Der dänische Regisseur Jørgen Leth ist im Ausland bekannt als Regisseur von experimentellen anthropologischen Filmen wie DER PERFEKTE MENSCH (1968), aber vor allem von populären Sportdokus über Radsport oder auch über den Fußballer Michael Laudrup. In Dänemark ist er zusätzlich bekannter Autor, Dichter, Künstler und vor allem, ganz allgemein gesagt, eine Berühmtheit, eine Medienpersönlichkeit. Bis vor kurzem war er für das dänische Fernsehen Co-Kommentator bei der Tour de France. Oder zuletzt 2016, da gab es die unterhaltsame TV-Reiseserie „Mein Spanien“.

Jetzt hat Leth mit I WALK (2019) einen sehr, sehr schönen und schonungslos persönlichen Film über das Altern und seine Beschwerlichkeiten gedreht. Die Idee dazu kam vom Sohn Asger, der ihn hier über weite Strecken begleitet und Teil des Films selbst ist. I WALK ist vor allem ein Film über geistigen und körperlichen Verfall und Leth liefert sich selbst hemmungslos aus. Gleich am Anfang sieht man ihn in einer Maschine, surreal hell erleuchtet, nur der Oberkörper guckt heraus. Es gibt hier eine Trennung zwischen Beinen und Oberkörper. Er nennt es einen „Horrorfilm für die jungen Leute“, weil seine Lebensnormalität so gar nicht in ihrer Vorstellungswelt liegt. Denn das Störendste für ihn ist, dass er nicht mehr richtig gehen kann.

Der Beginn dieses Verfalls kam bei Leth sehr plötzlich und hängt zusammen mit dem schockartigen Verlust seines Heims in Haiti. Denn auch er wurde durch das Erdbeben im Jahre 2010 und den Zusammensturz eines Hauses obdachlos. Aber im Gegensatz zu einigen hunderttausend anderen Bewohnern der Insel überlebt er jedenfalls. Mit einem Mal wird er durch ein ungeheures, die Erde erschütterndes Ereignis herausgerissen aus seinem ruhigen, vertrauten Alltag. In I WALK spekuliert er über das Besondere eines eigenen Hauses, inwiefern es tatsächlich ein Leben enthält. Später sieht man ihn noch einmal in Haiti, in einer vollständig zerstörten Kathedrale, und parallel dazu Archivbilder des noch stehenden Gebäudes, in dem ein Gottesdienst abgehalten wird. Das ist erneut ein Dokument der damaligen ungeheuren Zerstörung.

I WALK zeichnet sich rein formal durch das völlig disparate verwendete Bildmaterial aus, was in seiner Uneinheitlichkeit schon wieder Einheitlichkeit erzeugt. Die ganze Bandbreite von gestochen scharf mit gesättigten Farben bis ausgesprochen körnig, schwarzweiß wirkend bei Nachtaufnahmen und dem Handy als einzige Beleuchtung. Mal dunkel, mal hell, schief, verwackelt, es wechselt pausenlos. Oder es wirkt einfach nur verspielt, wenn Sohn Asger Leth scherzt, dass er ein „Godard-Framing“ macht mit Leth auf einem Sofa an der Wand, vom Oberkörper aufwärts mit viel Wand im Bild. I WALK ist ein ebenso poetischer wie experimenteller und philosophischer Filmessay. Durch den Zusammenschnitt von Material aus zehn Jahren, von 2010-2019, wirkt Leth nach dem Erdbeben nicht nur wie ein Heimatloser, ein ewig Herumreisender. Manchmal wirkt er sogar wie ein Getriebener. Man sieht ihn an den verschiedensten Orten und ständig in Hotelzimmern.

Leth entwickelt theoretische Gedanken, direkt zu seinem eigenen Erstaunen, über die Kunst des Gehens, ohne hinzufallen. Das ist etwas, worüber er natürlich vorher nie nachgedacht hat. Kleine Erhöhungen, die man sonst gar nicht bemerken würde, weil der gesunde Gang praktisch über sie hinwegfliegt, stellen schon eine Gefahr dar. Bei einem Theaterauftritt Leths in Kopenhagen wird der dicke Teppich auf der Bühne groß ins Bild genommen und man weiß von seinen Berichten: Diese Kante ist gefährlich.

Sich so plötzlich nur noch mit steifen Beinen durch die Gegend schleppen zu können, ist das Fürchterlichste für Leth. Immer wieder sieht man ihn beim Gehen und spürt die Anstrengung und Konzentration. Man sieht ihn schlafen, schlaflos sein, Schlafpillen nehmen. Er stellt seinen Körper aus. Er kann kaum einen Strumpf anziehen, es fällt ihm schwer, in einen Schuh zu kommen. Man sieht ihn im Bad. Er redet auch über seine Eitelkeit im Angesicht von Alter und Tod. I WALK ist eine kontinuierliche, eindringliche Variation dieser Hauptthemen, allerdings nicht ohne Selbstironie. Denn er geht das Ganze nicht mit künstlich abgeklärter Altersweisheit an. Er stellt sich selbst, sein eigenes Denken in Frage: Gibt es vielleicht gar keine kontinuierliche Erfahrung, fängt es ständig bei Null an? Bis ins Alter?

Diese schwächer werdende Physis ist das Gegenteil des sportlichen Ideals. Und dem Sport hat Leth einen großen Teil seines Lebens gewidmet. Er stellt eine Verbindung zwischen seinen alten Sportdokus und heute her. Man sieht ihn bei der Tour de France, heute und damals. Und man sieht zwei dänische Sportler, die er vor Jahrzehnten auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn gefilmt hat: den Radsportler Ole Ritter und den Tennisspieler Torben Ulrich. Er lässt sie Szenen nachspielen, zeigt ihre alten Gesichter.

Aber das Schöne an dem Film ist, dass er trotz allem das Dokument eines ständigen, sturen Weitermachens ist. Und das wird am Besten versinnbildlicht durch Leths Kunstprojekt, das den Film abschließt, ihm ein Ende gibt, im wörtlichen Sinne einen Rahmen. Im Dschungel von Laos, direkt am mythischen Fluss Mekong, lässt Leth in Baumgipfelhöhe einen großen roten Holzrahmen ein Stück Wildnis einfassen. Vorher gibt es ein bisschen ironische Spannung: Wie wird er den Weg den steilen Uferabhang hinauf bewältigen? Diese Aktion symbolisiert zum einen den Versuch der Kunst, Ordnung oder Kontrolle ins Chaos zu bringen. Es bedeutet aber gleichzeitig eine Ästhetisierung des Chaos, wenn auch nur für kurze, flüchtige Zeit und eigentlich ist es ja nur aus der Gottesperspektive von oben in voller Wirkung sichtbar. Und das ist das schöne Schlussbild des Films.

Montag, 2. November 2020

Anna Sofie Hartmanns GIRAFFE – Die Archivierung der Gegenwart

Anna Sofie Hartmanns deutsch-dänischer Film GIRAFFE (2019), ihr zweites Werk nach LIMBO (2014), spielt im Umkreis der anstehenden Bauarbeiten des Tunnels zwischen dem deutschen Fehmarn und dem dänischen Lolland, wofür in Dänemark schon seit Längerem die Vorbereitungen laufen. GIRAFFE ist einerseits ein sehr konkreter, quasi-dokumentarischer Film. Aber gleichzeitig ist er in seiner stilistischen Einfachheit sehr abstrakt. Das macht seinen Reiz aus.

Im Kern geht es um Tradition und Moderne, um Begriffe wie Zuhause, Verwurzelung, Bindung, Heimat, Familie, Arbeit, um den einen innerlich vertrauten Ort, den man kennt, mit dem man verbunden ist, der Erinnerungen trägt. Oder vielleicht ist es auch nur die Suche danach. Diese allgemeinen Themen werden aber nicht intellektuell theoretisiert, sondern sind sehr geschickt und unaufdringlich  in die Handlung eingeflochten und kommen vorsichtig nach und nach zum Vorschein.

Die Hauptfigur Dara, gespielt von Lisa Loven Kongsli in einer spannenden Mischung aus unterkühlter Sachlichkeit und ungezwungener Sinnlichkeit, ist eine norwegische Volkskundlerin oder Völkerkundlerin – ich kann mich nicht erinnern, ob das im Film so genau spezifiziert wird – aus Berlin, Mitte 30, die für ein Museum arbeitet und die Spuren dessen rettet, was im Rahmen der Bauarbeiten gerade verschwindet oder noch verschwinden wird. Die museale Spurensuche besteht aus dem Sammeln und Archivieren von allem Möglichen. Ein ganzer Trupp von Akademikern ist da beschäftigt, und es wirkt, als handele es sich um prähistorische Archäologie. Vom Hundeknochen, der in der Erde lag, bis zum Nadelkissen, es kommt alles ins Archiv. Fotos, Einwohnerverzeichnisse, auch direkte mündliche Zeugnisse werden gesammelt. Da ist das Bauernehepaar, das nach drei Generationen jetzt den Hof verlassen muss. Die Frau, den Tränen mehr als nah, hängt an den kleinen Spuren und Erinnerungen, die das Haus geistig und konkret in sich trägt. Und immer wieder fällt der fatalistische Satz: Das ist halt der Fortschritt. Der Film besteht in diesen Szenen aus vielen statischen, fotogleichen Bildern, teilweise menschenleer, und hier identifiziert GIRAFFE sich ganz mit der Arbeit des Einfangens und Bewahrens, die da vor sich geht.

Dreh- und Angelpunkt auf Lolland ist Rødbyhavn. Immer wieder geht der Blick Daras vom Hotel aus auf die Fähranlage mit dem unaufhaltsamen, langsamen Strom von Autos. Und ohne bewusst nostalgisch zu sein, geht es auch um die jetzige Art der Reise mit Fähre, gekennzeichnet durch eine Art Reisen ohne eigene Bewegung, mit zum Stillstand verurteilten Reisenden, die nach dem Jagen über die Autobahn unbeweglich aus dem Fenster über die Weite des Meeres schauen. Der Tunnel hingegen wird irgendwann für ein stetig andauerndes Fließen – zumindest im Idealfall – sorgen.

Das Versprechen des etwas rätselhaften Filmtitels übrigens wird schon gleich am Anfang eingelöst. Da ist sofort eine Giraffe zu sehen. Die Kamera filmt das Tier, das irgendwohin guckt, aber dann den Kopf dreht und in die Kamera schaut. Der Untersuchungsgegenstand guckt zurück, der Beobachter ist der Beobachtete. So verschiebt sich auch nach und nach der Gegenstand des Films. Zuerst betrachten wir mit der Hauptfigur ihre Arbeit, aber diese Arbeit wirft wie ein Spiegel ihren Blick zurück. Und immer mehr betrachten wir nun vor allem die Hauptfigur im Verhältnis zu dem, was sie tut.

Das kristallisiert sich in einem Tagebuch heraus, das Dara in dem seit Langem unbewohnten, verlassenen Haus einer alleinstehenden Bibliothekarin mit wechselnden Männerfreundschaften gefunden hat. Das ist das Haus, das sie immer wieder anzieht und die Person, über die sie am schwierigsten Informationen bekommt, da diese ein bisschen eine Fremde in der Gegend geblieben ist. Und parallel dazu beginnt Dara eine Liebesbeziehung zu einem jüngeren Polen, der mit Landsleuten Kabel verlegt. Die erzählen über Arbeiten im Ausland, über Geld, Familie, Pläne. Sie selbst hat gar nichts zu erzählen. Jeder hier scheint einen Traumort zu haben. Die Mutter zeigt ihr per Tablet-Kamera begeistert den Garten, der Pole schickt ihr ein Video vom geliebten Dorf der Großeltern. Nur von ihr selbst kommt nichts. Man sieht sie kurz in Berlin, aber auch wenn das ihr Hauptwohnsitz ist und sie dort  mit einem festen Freund lebt, erscheint es nur als eine Station, ein Aufenthalt mehr im Irgendwo. Sie ist die Repräsentantin des wurzellosen Lebens der Moderne, das so gerne als Qualität verkauft wird. Konsequenterweise verschwindet sie am Ende im Dunkeln, löst sich gewissermaßen auf. Die moderne Existenz produziert geisterhafte, wurzellose Wesen, die aber als Ausgleich auch nicht, wie etwa Wandermönche, spirituell verwurzelt sind. Freiheit und Ungebundenheit als reine Leere.

 



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Donnerstag, 22. Oktober 2020

SHORTA – Die Abwesenheit des Staates

Der actionreiche dänische Polizeifilm SHORTA (2020) wirkt spontan wie eine Kreuzung aus Ladj Lys französischem Film LES MISERABLES (2019) und den inzwischen klassischen, fantasievollen Wie-komm-ich-aus-dem-Ghetto-raus-Filmen wie STRASSEN IN FLAMMEN (1984), DIE WARRIORS (1979) oder auch DIE KLAPPERSCHLANGE (1981). Nur dass es sich hier in SHORTA um Polizisten als Hauptfiguren handelt. Das Konzept jedenfalls ist einfach: Trotz sich andeutender Unruhen wegen der ungeklärten Misshandlung eines sich im Koma befindlichen jungen Schwarzen, verfolgen zwei Polizisten mit ihrem Streifenfahrzeug mutmaßliche Dealer in ein fiktives dänisches Ghetto-Viertel. Dort demütigt einer der Polizisten einen jungen Araber auf offener Straße, danach fliegt ein Milchshake auf die Windschutzscheibe, eins kommt zum anderen und plötzlich sind die beiden Polizisten die Gejagten und müssen zusehen, dass sie rauskommen aus dem feindlichen, labyrinthischen Betondschungel. Der verhaftete junge Araber muss ihnen helfen, den Weg zu finden. Aber dann gehen die Beamten auch noch selbst aufeinander los.

Die Verbindung mit dem französischen Film LES MISERABLES ist allerdings wohl eher eine zufällig thematische, wenn man die langen Jahre der Planung und Finanzierung eines solchen Projekts wie SHORTA miteinkalkuliert. Und LES MISERABLES will ja bewusst eine reale Schilderung eines realen Ortes sein, der Ort, aus dem der Regisseur selbst stammt. Bei den beiden SHORTA-Regisseuren Anders Ølholm und Frederik Louis Hviid zeigt sich vor allem das geistige Zuhause des erwähnten klassischen Hollywood-Actionkinos. Bei ihnen herrscht das Genre-Prinzip der Zusammenfügung von Standardelementen vor. Der Gegensatz der zwei Polizisten wird bis zum Äußersten ausgespielt. Da ist das aktive, durchsetzungsfähige Großmaul, dargestellt mit bulliger Energie, scharf an der Grenze zum Overacting, von Jacob Lohman. Auf der anderen Seite der stille, nachdenkliche Polizist, gespielt von Simon Sears, der sich nach der Pfarrersfamilie-Serie DIE WEGE DES HERRN (2017-2018) schon wieder mit Gewissenskonflikten herumschlagen muss. Und der tödliche Gegner im Ghetto erscheint zum großen Teil als das anonym Böse, das fast gesichtslos im Hinterhalt lauert. Der Anführer hat eine markante Frisur, wie sie zu einem Vorzeigebösen gehört.

Aber leider hat man sich nur bei den Grundelementen der großen Vorbilder bedient und es führt keine gerade Linie hierhin von, sagen wir, Howard Hawks und John Carpenter. Denn gearbeitet wird hier, auf Kosten von Stil und Inszenierung, ausschließlich mit dem Starkstrom-Adrenalin-Prinzip, das aus jeder Szene das Höchstmögliche an Intensität und Spannung herausholen will und so zu einer großen Übersteigerung wird, auch wenn nie der realistische Boden verlassen wird. Die Dinge passieren nicht einfach, sondern man lässt sie auf extremst möglichem Weg passieren und lässt kein erzählerisches Mittel aus. Da wird der verletzte Polizist ausgerechnet gerettet und verbunden von der Mutter des Jungen, den er gerade noch gedemütigt hat. Eine Prügelei zwischen Polizisten ist nicht einfach eine Prügelei, sondern die eine apokalyptische Männer-Schlacht. Die Schüsse auf einen Polizisten von einem Rassisten, die blutig-groteske Auseinandersetzung mit dem Kampfhund im Fahrstuhl. Alles in SHORTA ist darauf programmiert, das Publikum nicht denken zu lassen und auch echte Emotionen gibt es hier nicht, sondern nur eine forcierte Immersions-Spannung. Man ist Teil des Ganzen. Der schwer durchschaubare Weg durch ein teilweise digital erzeugtes, irreal wirkendes Labyrinth hat etwas von einem Videospiel, so wie übrigens auch Sam Mendes' maßlos überschätzter Erste-Weltkriegs-Film 1917 (2019).

Symptomatisch hierfür ist denn auch die Rezension auf der Homepage des Fernsehsenders Danmarks Radio (DR), die an sich zwar eine echte Schande für die Literaturforum der „Kritik“ ist, aber doch auf eine interessante Weise aufschlussreich. Es wird im Grunde nur nacherzählt und jeweils begeistert betont, wo der Film einen so richtig mit dem schweißdurchnässten Popo am Sitz kleben lässt. Und selbst die ideologisch korrekt kritische EKKO-Rezensentin bekam "Atemnot" beim Gucken. Man muss also durchaus anerkennen, dass SHORTA mit seiner durchkalkulierten Dramaturgie und seiner, trotz begrenztem Budget, technischen Sicherheit sehr gut funktioniert als einmaliges Erlebnis. Selbst wenn man die Struktur und Methode durchschaut und eher unwillig darauf reagiert, hat der Film einen die meiste Zeit im Griff. Er ist visuell ausgezeichnet, besonders in den dunklen Szenen mit seinem gelb-orangen, feuerartigen Licht oder dem Schwarz in der abschließenden Baustellenszene, dem düsteren Finale.

Und daher tut es dem Film eigentlich gar nicht gut, dass er durch Videos von US-amerikanischer Polizeibrutalität und dem marxistischem BLM-Terror mit seinen verwüsteten und gangsterartig geplünderten Städten eine ungewollte Aktualität bekommen hat, die vielleicht für mehr Medien-Echo sorgt, aber ins Leere geht. Denn zu dem Thema hat der Film nichts beizutragen. Aber eine politische Seite hat der Film, wenn auch nur ganz nebenbei. Und zwar ist das die symptomatische Abwesenheit des Staates in SHORTA, denn die Polizeiführung schafft es nicht, ihren Beamten in der Not echte Hilfe zu leisten. Das ist natürlich auch ein dramaturgischer Kunstgriff, aber es wirkt authentisch. Einerseits wird die Ghettogegend der Kriminalität überlassen. Andererseits werden auch die Polizisten in ihrer Arbeit oft allein gelassen und wenn etwas schief geht, fallen ihnen verlogene Politiker gerne in den Rücken. Wenn man so will, dann ist SHORTA kein Film über Ghettos, aber indirekt der über eine Kapitulation.