Der dänische Regisseur Jørgen Leth ist im Ausland bekannt als Regisseur von experimentellen anthropologischen Filmen wie DER PERFEKTE MENSCH (1968), aber vor allem von populären Sportdokus über Radsport oder auch über den Fußballer Michael Laudrup. In Dänemark ist er zusätzlich bekannter Autor, Dichter, Künstler und vor allem, ganz allgemein gesagt, eine Berühmtheit, eine Medienpersönlichkeit. Bis vor kurzem war er für das dänische Fernsehen Co-Kommentator bei der Tour de France. Oder zuletzt 2016, da gab es die unterhaltsame TV-Reiseserie „Mein Spanien“.
Jetzt hat Leth mit I WALK (2019) einen sehr, sehr schönen und schonungslos persönlichen Film über das Altern und seine Beschwerlichkeiten gedreht. Die Idee dazu kam vom Sohn Asger, der ihn hier über weite Strecken begleitet und Teil des Films selbst ist. I WALK ist vor allem ein Film über geistigen und körperlichen Verfall und Leth liefert sich selbst hemmungslos aus. Gleich am Anfang sieht man ihn in einer Maschine, surreal hell erleuchtet, nur der Oberkörper guckt heraus. Es gibt hier eine Trennung zwischen Beinen und Oberkörper. Er nennt es einen „Horrorfilm für die jungen Leute“, weil seine Lebensnormalität so gar nicht in ihrer Vorstellungswelt liegt. Denn das Störendste für ihn ist, dass er nicht mehr richtig gehen kann.
Der Beginn dieses Verfalls kam bei Leth sehr plötzlich und hängt zusammen mit dem schockartigen Verlust seines Heims in Haiti. Denn auch er wurde durch das Erdbeben im Jahre 2010 und den Zusammensturz eines Hauses obdachlos. Aber im Gegensatz zu einigen hunderttausend anderen Bewohnern der Insel überlebt er jedenfalls. Mit einem Mal wird er durch ein ungeheures, die Erde erschütterndes Ereignis herausgerissen aus seinem ruhigen, vertrauten Alltag. In I WALK spekuliert er über das Besondere eines eigenen Hauses, inwiefern es tatsächlich ein Leben enthält. Später sieht man ihn noch einmal in Haiti, in einer vollständig zerstörten Kathedrale, und parallel dazu Archivbilder des noch stehenden Gebäudes, in dem ein Gottesdienst abgehalten wird. Das ist erneut ein Dokument der damaligen ungeheuren Zerstörung.
I WALK
zeichnet sich rein formal durch das völlig disparate verwendete
Bildmaterial aus, was in seiner Uneinheitlichkeit schon wieder
Einheitlichkeit erzeugt. Die ganze Bandbreite von gestochen scharf
mit gesättigten Farben bis ausgesprochen körnig, schwarzweiß
wirkend bei Nachtaufnahmen und dem Handy als einzige Beleuchtung. Mal
dunkel, mal hell, schief, verwackelt, es wechselt pausenlos. Oder es
wirkt einfach nur verspielt, wenn Sohn Asger Leth scherzt, dass er
ein „Godard-Framing“ macht mit Leth auf einem Sofa an der Wand,
vom Oberkörper aufwärts mit viel Wand im Bild. I WALK ist ein
ebenso poetischer wie experimenteller und philosophischer Filmessay. Durch den Zusammenschnitt
von Material aus zehn Jahren, von 2010-2019, wirkt Leth nach dem
Erdbeben nicht nur wie ein Heimatloser, ein ewig Herumreisender. Manchmal wirkt er sogar wie ein Getriebener. Man
sieht ihn an den verschiedensten Orten und ständig in Hotelzimmern.
Leth entwickelt theoretische Gedanken, direkt zu seinem eigenen Erstaunen, über die Kunst des Gehens, ohne hinzufallen. Das ist etwas, worüber er natürlich vorher nie nachgedacht hat. Kleine Erhöhungen, die man sonst gar nicht bemerken würde, weil der gesunde Gang praktisch über sie hinwegfliegt, stellen schon eine Gefahr dar. Bei einem Theaterauftritt Leths in Kopenhagen wird der dicke Teppich auf der Bühne groß ins Bild genommen und man weiß von seinen Berichten: Diese Kante ist gefährlich.
Sich so plötzlich nur noch mit steifen Beinen durch die Gegend schleppen zu können, ist das Fürchterlichste für Leth. Immer wieder sieht man ihn beim Gehen und spürt die Anstrengung und Konzentration. Man sieht ihn schlafen, schlaflos sein, Schlafpillen nehmen. Er stellt seinen Körper aus. Er kann kaum einen Strumpf anziehen, es fällt ihm schwer, in einen Schuh zu kommen. Man sieht ihn im Bad. Er redet auch über seine Eitelkeit im Angesicht von Alter und Tod. I WALK ist eine kontinuierliche, eindringliche Variation dieser Hauptthemen, allerdings nicht ohne Selbstironie. Denn er geht das Ganze nicht mit künstlich abgeklärter Altersweisheit an. Er stellt sich selbst, sein eigenes Denken in Frage: Gibt es vielleicht gar keine kontinuierliche Erfahrung, fängt es ständig bei Null an? Bis ins Alter?
Diese schwächer werdende Physis ist das Gegenteil des sportlichen Ideals. Und dem Sport hat Leth einen großen Teil seines Lebens gewidmet. Er stellt eine Verbindung zwischen seinen alten Sportdokus und heute her. Man sieht ihn bei der Tour de France, heute und damals. Und man sieht zwei dänische Sportler, die er vor Jahrzehnten auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn gefilmt hat: den Radsportler Ole Ritter und den Tennisspieler Torben Ulrich. Er lässt sie Szenen nachspielen, zeigt ihre alten Gesichter.
Aber das Schöne an dem Film ist, dass er trotz allem das Dokument eines ständigen, sturen Weitermachens ist. Und das wird am Besten versinnbildlicht durch Leths Kunstprojekt, das den Film abschließt, ihm ein Ende gibt, im wörtlichen Sinne einen Rahmen. Im Dschungel von Laos, direkt am mythischen Fluss Mekong, lässt Leth in Baumgipfelhöhe einen großen roten Holzrahmen ein Stück Wildnis einfassen. Vorher gibt es ein bisschen ironische Spannung: Wie wird er den Weg den steilen Uferabhang hinauf bewältigen? Diese Aktion symbolisiert zum einen den Versuch der Kunst, Ordnung oder Kontrolle ins Chaos zu bringen. Es bedeutet aber gleichzeitig eine Ästhetisierung des Chaos, wenn auch nur für kurze, flüchtige Zeit und eigentlich ist es ja nur aus der Gottesperspektive von oben in voller Wirkung sichtbar. Und das ist das schöne Schlussbild des Films.