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Sonntag, 15. November 2020

Tobias Lindholms THE INVESTIGATION – Ermittlung am seidenen Faden

© Miso Film
 
Schon im Vorfeld, und ohne Tobias Lindholms sechsteilige Miniserie EFTERFORSKNINGEN / THE INVESTIGATION - DER MORD AN KIM WALL (2020) überhaupt gesehen zu haben, gab es Stimmen dagegen. Gegen einen Film an sich über den während der Untersuchung von der Presse „U-Boot-Fall“ getauften Mord an der schwedischen Journalistin Kim Wall. Ethische Einwände, künstlich hervorgekramte Einwände. Die Ethik ist in solch einem Fall doch schon lange dahin angesichts all der sensationslüsternen Schlagzeilen der Presse. Man muss nur sehen, mit welcher Freude diese über den Ausbruchsversuch des Mörders Peter Madsen jetzt im Oktober 2020 berichtet hat. So viel Aufmerksamkeit schenken sie ihm immer noch, ihm, den sie früher gefeiert und zu einer Berühmtheit gemacht haben. Wie soll ein Film, egal wie er auch aussieht, da noch großen Schaden anrichten? Der richtige Film kann sogar dazu beitragen, wieder ein bisschen Ethik oder einfach nur Sachlichkeit in dieser Angelegenheit wiederherzustellen. Und tatsächlich ist EFTERFORSKNINGEN, der September bis November 2020 auf TV2 ausgestrahlt wurde, so ein Film.

Zunächst noch einmal kurz ein paar zentrale Fakten: Peter Madsen war ein Erfinder und Selfmademan mit selbstgebauten U-Booten, auch aktiv in der Raketentechnik. Aber vor allem war er eine gefeierte Medienpersönlichkeit mit vielen Fans, eine echte Kultfigur mit eigenem Bewundererkreis, vor allem weiblichem. Nur Eingeweihte wussten, dass Madsen ein Faible für sexuelle Perversionen und einen Hang zur Gewalt hatte. Am 10. August 2017 bat die schwedische Journalistin Kim Wall Madsen um ein Interview und wurde auf eine U-Boot-Tour eingeladen. Gegen 19:00 Uhr fuhren sie hinaus in die Køge-Bucht südlich von Kopenhagen. Irgendwann an dem Abend, in der Nacht wurde sie misshandelt, missbraucht, ermordet, zerstückelt und in Einzelteilen ins Meer geworfen. Madsen versenkte am 11. August sein U-Boot, wurde gerettet, verhaftet und begann von da an, immer angepasst an den Ermittlungsstand der Behörden, eine Lüge nach der anderen auszusagen. Was als Angeklagter sein gutes, juristisches Recht war, wie auch im Film mehrmals gesagt wird. Nach langem, kompliziertem und aufwändigem Suchen fand man alle sechs Teile der zersägten Leiche Kim Walls im Øresund zwischen Dänemark und Schweden. Madsen erhielt wegen Mordes die höchst mögliche Gefängnisstrafe.

Den mühseligen Kampf um genügend Beweise, die ausreichen für eine taugliche Mord-Anklageschrift, die vor Gericht Bestand hat, den zeigt EFTERFORSKNINGEN auf sehr ruhige und eindringliche Art und Weise. Die Spannung liegt in den vielen Details, und das zu schaffen, ist tatsächlich das bemerkenswerte Kunststück des Films. Er zeigt Menschen in Büros, Menschen, die Zusammenhänge diskutieren, Menschen im Auto, wartende ungeduldige Menschen. Da gibt es keine Action, keine intensiven Verhörmarathons. Da sind einfach nur bis an die Grenze zur Selbstaufgabe arbeitende Beamte mit Hingabe, Intelligenz, Durchhaltevermögen und einem starken Willen. Im Mittelpunkt steht Chefermittler Jens Møller Jensen, der von Søren Malling mit Pokerface und nur subtilen Gefühlsäußerungen gespielt wird. Pilou Asbæk ist der angespannte Staatsanwalt, der, zur Passivität verurteilt, auf die Ermittlungsbehörden vertrauen muss. Tobias Lindholm hat hier seine bisher beste Filmregie abgeliefert.

Die beiden bekanntesten Filme Lindholms sind KAPRINGEN / HIJACKING – TODESANGST ... IN DER GEWALT VON PIRATEN (2012) und KRIGEN / A WAR (2016). Sie sind mit Handkamera gefilmt, mit einer etwas unpräzisen Direktheit, die zwar scheinbar immer dicht dran ist, aber dann doch ein wenig an der Oberfläche bleibt. Sie erinnerten mich zum Zeitpunkt ihrer Premiere an die Peter-Greengrass-Rauheit, die eine kurze Zeit Mode war. Nicht die klare Mise-en-scène stand im Vordergrund, sondern das Erfassen eines Augenblicks. Aber David Fincher erkannte, dass da wohl noch viel Potential in Lindholm steckte und engagierte ihn für zwei Folgen seiner Serienmörder-Serie MINDHUNTERS. Und da war Lindholm gezwungen, sich den Problemen der festen Einstellung, also echter Mise-en-scène zu stellen. Die positiven Auswirkungen dieser Auftragsarbeit sieht man jetzt in EFTERFORSKNINGEN, einem sehr kontrollierten und bedächtigen Film, der den stetigen Rhythmus und die bedrückende, angespannte Stimmung eines ungewöhnlichen und für die Beteiligten mitunter kaum erträglichen Mordfalls wiedergibt. Ruhige, klare Einstellungen, eine unterschwellig wirkende, zurückhaltende Musik. Und nicht ein einziger künstlicher, auf Wirkung bedachter Effekt.

Parallel zu den möglichst kühl und rational ablaufenden Ermittlungen gibt es zwei Familiengeschichten, die, jede auf ihre Art, bewegend sind. Vor allem sind da Kim Walls Eltern, die von Anfang an hinter diesem Film standen. Sie werden von Pernilla August und Ralf Lassgård gespielt. Ständig hält Jens Møller Jensen zu ihnen Kontakt, fährt über den Øresund herüber nach Skåne und informiert sie über neue Ergebnisse und grausige Funde, damit sie davon nicht aus der Presse erfahren müssen. Auf der anderen Seite vermittelt EFTERFORSKNINGEN eine Ahnung von dem persönlichen, privaten Preis der Ermittlungsbeamten. Lindholm fasst das Verhältnis von Møller Jensen und seiner Tochter sehr verdichtet und mit viel dramaturgischer Freiheit zusammen und zeigt eine frustrierte Tochter, die die ständige Abwesenheit des Vaters, sogar, als er Großvater wird, nicht mehr aushält.

Was EFTERFORSKNINGEN zunächst einmal etwas seltsam macht, ist eine gewisse Abstraktion durch die Aussparung des Täters, nicht nur physisch durch den Verzicht auf Rückblenden, Fotos oder Verhöre, sondern auch durch das reine Weglassen des Namens. Er heißt nur „der Täter“. Das wirkt in der ersten Folge zunächst einmal seltsam künstlich. Wo doch jeder den Namen und das Bild im Kopf hat. Man kann sich kurz fragen, ob da nicht ein erdrückendes Phantom geschaffen wird. Aber diese Bedenken verschwinden schnell. Die Rechnung Lindholms geht auf. Man vergisst, was man weiß, und konzentriert sich ganz auf die Gegenwart der arbeitsreichen Ermittlungen, die nach und nach deutlich werdenden Leiden von Kim Wall und die Stärke in der großen Trauer ihrer Eltern. Und niemand vermisst hier den Täter oder seinen Namen. Herzlichen Glückwunsch an Tobias Lindholm! Hätte mich vorher jemand gefragt, ob ich das für eine funktionierende Idee halte, hätte ich meine Zweifel zum Ausdruck gebracht.

Die erschreckendste Erkenntnis von EFTERFORSKNINGEN ist übrigens, wie sehr alles am seidenen Faden hing, dass dieser Wahnsinnige fast davongekommen wäre mit einer schwächeren Anklage, weil lange die nötigen Beweise fehlten. Jeder wusste, was passiert ist, aber in einem Rechtsstaat braucht man Beweise. Der Zuschauer stellt fest, wie viele kleine Details in dieser im Rückblick so glasklar erscheinenden Sache nötig waren. Was Lindholm in EFTERFORSKNIGEN schafft, ist, die Unsicherheit, den Frust und die Erfolge der Beamten den Zuschauer fühlbar zu machen. Sehr viel Zeit wird darauf verwendet, die Taucher zu zeigen, die nach den Leichenteilen im Meer suchen. Und auch wenn lange nichts passiert, hat es eine bemerkenswerte innere Spannung und man bewundert die physische Aufopferung der Taucher. Der Film endet mit der Vorlage der Anklageschrift im März 2018. Verurteilt wurde Peter Madsen im April 2018. Und im März 2019 ging Jens Møller Jensen mit 60 Jahren in Pension.