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Sonntag, 8. Dezember 2019

Hans Petter Molands PFERDE STEHLEN – Zwei Männer im Schnee

Wenn man nur einige Sommerbilder des neuen Films PFERDE STEHLEN (2019, Ut og stjæle hester) des norwegischen Regisseurs Hans Petter Moland sieht, könnte man denken, dieser hätte nach seinen letzten drei Filmen mit viel Düsternis und vielen Toten ganz einfach Sehnsucht nach mehr Harmonie und leichter Poesie gehabt. Vorausgesetzt natürlich, dass man – so wie ich – die literarische Vorlage von Per Petterson nicht gelesen hat. Immerhin schickte Moland in EINER NACH DEM ANDEREN (2014, Kraftidioten) und dem nicht minder gelungenen US-Remake HARD POWDER (2018) gleich zwei Mal den Fahrer eines Schneemobils auf makabre Rachetour und dann gab es auch noch den beklemmenden dänischen Adler-Olsen-Thriller ERLÖSUNG (2016, Flaskeposten fra P).

Doch so ganz einfach ist die Sache nicht. In PFERDE STEHLEN, der auf den Nordischen Filmtagen Lübeck zu sehen war und kurz danach in die deutschen Kinos kam, werden zwei Todesfälle durch Unfall zwar nur sehr kurz gezeigt und auch ansonsten ist es ein gewaltfreier Film, aber die Folgen dieser Ereignisse leben weiter in den Figuren und sind auch unter der Oberfläche der Filmhandlung zu spüren, was teilweise eine unheimliche, angespannte Mystery-Atmosphäre erzeugt. Es ist ein kleiner, poetischer Film über die großen Themen Einsamkeit, Schuld, Liebe, Leben und Tod, Jugend und Alter, Vater und Sohn. Doch beherrschen sie nicht pompös die Handlung, sondern sind sehr leicht, selbstverständlich, unaufdringlich integriert. Beispielsweise nimmt man die offenkundige Symbolik aus Sommer und Winter für Jugend, Reife sowie Alter gar nicht direkt als Symbolik war, weil man nicht extra darauf gestoßen wird. Sie existiert sozusagen nebenher. Vor allem ist PFERDE STEHLEN ein Film der lyrischen Visualität, sowohl in den sonnenbeschienenen Naturbildern als auch in den grau-weißen Winterszenen, die dieser Familiengeschichte zwischen Schmerz und Harmonie eine melancholische Schönheit verleiht. Kameramann Rasmus Videbæk erhielt für „herausragende künstlerische Leistung“ einen Silbernen Bären auf der Berlinale 2019.

Es ist ein Film auf zwei Zeitebenen. Da ist einmal Stellan Skarsgård als alter Mann Trond, der sich in ein einsames Haus auf dem Land zurückgezogen hat, nachdem er Fahrer bei einem Autounfall war, bei dem seine Frau auf dem Beifahrersitz starb. Auf der anderen Seite erinnert er sich, ausgelöst durch einen zunächst etwas unerwünschten Nachbarn, einen Menschen aus seiner Vergangenheit, an seinen letzten Sommer auf dem Land als 15-Jähriger mit dem Vater, der anschließend die Familie für eine andere Frau verließ. Gerade, wo Trond seinem Vater so nah wie nie zuvor gekommen war. Daher handelt es sich um einen Film voller thematischer und motivischer Parallelen und Spiegelungen zwischen den Figuren, zwischen den Zeitebenen. Als Trond einfach verschwindet nach dem Unfall und seine Tochter halb Skandinavien nach ihm absuchen muss, hat er vermutlich nicht daran gedacht, dass er dadurch das Verhalten seines Vaters wiederholt. Mit dem Unterschied natürlich, dass seine Tochter längst erwachsen ist. Es gibt zwei Unglücke, Unfälle in diesem Film. Ohne jede juristische Schuld geht es dennoch um Schuld, genauer gesagt um das Gefühl von Schuld, von Verantwortlichkeit. Die Seele, das Gewissen richten sich nicht nach der Logik des Gesetzbuchs. Und die beiden alten Männer, die sich an ihrem Lebensabend begegnen, haben beide auf für sie traumatische Weise in jungen Jahren ihre Familie verloren, der eine den Vater, der andere die Mutter und den ganzen Hof.

Stellan Skarsgård spielt hier ganz leise und zurückhaltend. Mit PFERDE STEHLEN schickt ihn Moland jetzt übrigens schon zum dritten Mal in die einsame nordische Schneelandschaft hinaus. Das erste Mal geschah dies in dem so großartigen KJÆRLIGHETENS KJØTERE (1995, int.: Zero Kelvin) ganz extrem als Jäger und Fallensteller im Auftrag der Grönlandkompanie. ABERDEEN (2000) ist eine Ausnahme, da fahren Vater und Tochter nur kurz durch die norwegische Felseneinsamkeit, auch wenn dort der zweifellos korrekte Satz fällt: „Es gibt scheiß viel Natur in diesem Land.“ 2014 sah man Skarsgård in EINER NACH DEM ANDEREN (2014, Kraftidioten) als sich rächender Fahrer eines Schneemobils. Und natürlich nimmt er die Aura dieser einprägsamen Rolle mit in diesen nächsten Film und für die, die den Rachefilm kennen, existiert allein aufgrund der äußeren Lebensumstände von Trond eine unvermeidliche, abstrakte Erwartungshaltung. PFERDE STEHLEN greift das sogar direkt auf. Ob er jemanden hat, um den Schnee zu räumen, wird Trond gefragt. Und als dann der Weg frei ist, wirkt er zufrieden und die großen Sorgen, eingeschneit zu werden, haben sich aufgelöst. So wie sich auch für den Zuschauer das Gefühl des Bedrohlichen, das der Film zwischendurch kreiert, am Ende auflöst.

Tronds Vater (Tobias Santelmann), 15-jähriger Trond (Jon Ranes)
Trond ( Stellan Skarsgård)
 © 2019, 4 1/2 Fiksjon As, Zentropa Entertainments5, Zentropa Sweden, Nordisk Film, Helgeland Film
(Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)