Wenn man nur einige
Sommerbilder des neuen Films PFERDE STEHLEN (2019,
Ut og stjæle hester) des norwegischen Regisseurs Hans Petter Moland sieht, könnte
man denken, dieser hätte nach seinen letzten drei Filmen mit viel
Düsternis und vielen Toten ganz einfach Sehnsucht nach mehr Harmonie und leichter
Poesie gehabt. Vorausgesetzt natürlich, dass man – so wie
ich – die literarische Vorlage von Per Petterson nicht gelesen
hat. Immerhin schickte Moland in EINER NACH DEM ANDEREN (2014,
Kraftidioten) und dem nicht minder gelungenen US-Remake HARD POWDER
(2018) gleich zwei Mal den Fahrer eines Schneemobils auf makabre
Rachetour und dann gab es auch noch den beklemmenden dänischen
Adler-Olsen-Thriller ERLÖSUNG (2016, Flaskeposten fra P).
Doch so ganz einfach ist die
Sache nicht. In PFERDE STEHLEN, der auf den Nordischen Filmtagen Lübeck zu
sehen war und kurz danach in die deutschen Kinos kam, werden zwei
Todesfälle durch Unfall zwar nur sehr kurz gezeigt und auch
ansonsten ist es ein gewaltfreier Film, aber die Folgen dieser
Ereignisse leben weiter in den Figuren und sind auch unter der
Oberfläche der Filmhandlung zu spüren, was teilweise eine
unheimliche, angespannte Mystery-Atmosphäre erzeugt. Es ist ein
kleiner, poetischer Film über die großen Themen Einsamkeit, Schuld,
Liebe, Leben und Tod, Jugend und Alter, Vater und Sohn. Doch beherrschen sie
nicht pompös die Handlung, sondern sind sehr leicht,
selbstverständlich, unaufdringlich integriert. Beispielsweise nimmt
man die offenkundige Symbolik aus Sommer und Winter für Jugend, Reife sowie Alter
gar nicht direkt als Symbolik war, weil man nicht extra darauf
gestoßen wird. Sie existiert sozusagen nebenher. Vor allem ist
PFERDE STEHLEN ein Film der lyrischen Visualität,
sowohl in den sonnenbeschienenen Naturbildern als auch in den grau-weißen Winterszenen, die dieser
Familiengeschichte zwischen Schmerz und Harmonie eine melancholische
Schönheit verleiht. Kameramann Rasmus Videbæk
erhielt für „herausragende künstlerische
Leistung“ einen Silbernen Bären auf der Berlinale 2019.
Es ist ein Film auf zwei
Zeitebenen. Da ist einmal Stellan Skarsgård als
alter Mann Trond,
der sich in ein einsames Haus auf dem Land zurückgezogen
hat, nachdem er Fahrer bei einem Autounfall war, bei dem seine
Frau auf dem Beifahrersitz starb. Auf der anderen Seite erinnert er
sich, ausgelöst durch einen zunächst etwas unerwünschten Nachbarn,
einen Menschen aus seiner Vergangenheit, an seinen letzten Sommer auf
dem Land als 15-Jähriger mit dem Vater, der anschließend die Familie für eine
andere Frau verließ. Gerade, wo Trond seinem Vater so nah wie nie zuvor gekommen war. Daher handelt es sich um einen Film voller thematischer und
motivischer Parallelen und Spiegelungen zwischen den Figuren,
zwischen den Zeitebenen. Als Trond einfach verschwindet nach dem
Unfall und seine Tochter halb Skandinavien nach ihm absuchen muss,
hat er vermutlich nicht daran gedacht, dass er dadurch das Verhalten
seines Vaters wiederholt. Mit dem Unterschied natürlich, dass seine
Tochter längst erwachsen ist. Es gibt zwei Unglücke, Unfälle in
diesem Film. Ohne jede juristische Schuld geht es dennoch um Schuld,
genauer gesagt um das Gefühl von Schuld, von Verantwortlichkeit. Die
Seele, das Gewissen richten sich nicht nach der Logik des Gesetzbuchs. Und die
beiden alten Männer, die sich an ihrem Lebensabend begegnen, haben
beide auf für sie traumatische Weise in jungen Jahren ihre Familie verloren, der eine den Vater, der
andere die Mutter und den ganzen Hof.
Stellan Skarsgård
spielt hier ganz leise und zurückhaltend.
Mit PFERDE STEHLEN schickt ihn Moland jetzt übrigens schon
zum dritten Mal in die einsame nordische
Schneelandschaft hinaus. Das erste Mal geschah
dies in dem so großartigen KJÆRLIGHETENS KJØTERE (1995,
int.: Zero Kelvin) ganz
extrem als Jäger und Fallensteller im
Auftrag der Grönlandkompanie. ABERDEEN (2000) ist eine
Ausnahme, da fahren Vater und Tochter nur kurz durch die norwegische
Felseneinsamkeit, auch wenn dort der zweifellos korrekte Satz fällt:
„Es gibt scheiß viel Natur in diesem Land.“ 2014 sah man
Skarsgård in EINER NACH DEM ANDEREN (2014,
Kraftidioten) als sich rächender Fahrer eines Schneemobils. Und
natürlich nimmt er die Aura dieser einprägsamen Rolle mit in diesen
nächsten Film und für
die, die den Rachefilm
kennen, existiert allein
aufgrund der äußeren Lebensumstände von Trond eine unvermeidliche, abstrakte Erwartungshaltung. PFERDE
STEHLEN greift das sogar direkt auf. Ob er jemanden hat, um den
Schnee zu räumen, wird Trond gefragt. Und als dann der Weg frei ist,
wirkt er zufrieden und die großen Sorgen, eingeschneit zu werden, haben sich aufgelöst. So wie sich auch für den Zuschauer das Gefühl des
Bedrohlichen, das der Film zwischendurch kreiert, am Ende auflöst.
Tronds Vater (Tobias Santelmann), 15-jähriger Trond (Jon Ranes)
Trond ( Stellan Skarsgård)
© 2019, 4 1/2 Fiksjon As, Zentropa Entertainments5, Zentropa Sweden, Nordisk Film, Helgeland Film
(Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
(Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)