Niels Arden Oplevs vorletzter Film DANIEL/ SER DU MÅNEN, DANIEL (2019) handelte von einer Geiselnahme durch die mordlüsternen Terroristen vom IS und endete zwar mit dem Freikauf der dänischen Hauptfigur Daniel Rye, erhielt jedoch durch die Köpfung des ebenfalls eingesperrten US-Journalisten James Foley einen trüben Beigeschmack. Und so endet alles mit einem Trauergottesdienst. Die Geschichte über Freiheitsberaubung und Folter und Mord, wie sie der Prophet schließlich angeordnet hat, beruht auf Tatsachen, ist sozusagen ein Stück realer Weltpolitik. Ein großer Teil des Films spielt in Dänemark bei Ryes Familie, die alles andere als reich ist, aber Geld selbständig zusammenbekommen muss, denn der Staat verhandelt nicht mit Terroristen.
Wirklichkeit und Authentizität bestimmen auch Oplevs neuen Film ROSE (2022). Erzählt wird eine Geschichte aus der eigenen Familie, die sich 1997 im Großen und Ganzen so mit den beiden Schwestern und dem Schwager zugetragen hat. Es ist kurz nach Prinzessin Dianas Tod, der im Film eine zentrale Roll spielt. Schwester und Schwager holen Rose also aus dem freiwillig gewählten psychiatrischen Rückzug heraus, um sie in einer Bustour unter Menschen zu bringen und sie noch einmal Paris sehen zu lassen, wo sie in ihren jungen Jahren noch glücklich und normal gewesen war, bis der Zusammenbruch kam und die Diagnose „Schizophrenie“ folgte.
Filme über psychische Krankheiten sind oft sehr konstruiert, deprimierend, voller Betroffenheit und haben eine einfache Moral. Gerne läuft es darauf hinaus, dass psychisch Angeschlagene die besseren und klügeren Menschen sind, wobei die scheinbare Normalität als verdreht dargestellt wird. Dass man für die Darstellung solcher Figuren schnell mal einen Oscar bekommt, ist noch ein anderes Thema. Oplev wollte sich von dieser filmischen Tradition abheben. Er wollte keinen Schizophrenie-Film drehen. Er verzichtet auf eine übermäßig künstliche Konstruktion einer Story. Hier passiert nichts Wildes, Außergewöhnliches. Dramatisierungen, kleine Änderungen, damit es denn auch ein Publikumsfilm wird, fallen gar nicht auf, lassen sich von den Fakten nicht unterscheiden. Denn alles hätte durchaus so passieren können, wie es gezeigt wird. ROSE ist aber kein klinisch kalter Film, sondern ein angenehm stiller Film mit dezentem Humor und leisen Gefühlen. Intimität, Detailfreude, das emotional wirksame Verflochtensein von Humor und Drama machen den Film sehens- und liebenswert. Oplev hat bewusst einen kleinen Film gedreht.
ROSE ist in doppelter Hinsicht ein Familienfilm: einmal die private Familie und dann die große, die dänische – das „folkehjem“, „das Volksheim“. Die Paris-Fahrt dient auch der Annäherung der Familie. Roses Verhalten überschreitet immer wieder die Grenze des Erträglichen, aber sie nehmen alles mit Stärke und Ruhe hin und wissen, wie sie sich verhalten sollen. Ein kleiner Junge der Bustour kann am besten mit ihr kommunizieren. Dann ist da die übervorsorgliche Mutter, die gegen diese Reise ist und aus der dänischen Ferne alles wissen will und bei dem kleinsten Problem sofort nach Paris kommen will. So werden die kleinen, aber nicht übermäßig großen Differenzen in der Familie deutlich.
Und trotz einer Fahrt ins Ausland, deren Sprache fast keiner der Beteiligten beherrscht, ist es ein durch und durch dänischer Film. Oplev schreckt nicht vor dem absolut wahren Klischee zurück, dass die Reisegemeinschaft im Bus sitzt, Bier trinkt und gemeinsam Lieder singt. Da ist ein schönes, kleines Detail: Der Busfahrer leert auch seine Bierdose, während er am Steuer sitzt. Rose kann Ängste wecken bei unsicheren Menschen, so wie bei dem Physik- und Chemielehrer, der schon leicht erstarrt ist in seiner verkrampften Sicherheit. Dabei guckt der Film, mit Ironie und ohne zu denunzieren, unter die Oberfläche dieses Kontrollmenschen, der zu den Menschen gehört, die mit Rose umgehen, als wäre sie ansteckend und die eigene schwer erarbeitete, hart aufrecht gehaltene Fassade könnte einstürzen.
In dem Familienfilm steckt dann als Kern des Ganzen ein Liebesfilm, eine Reise in die Vergangenheit, als Roses Herausfallen aus der Welt begann. Schuld war eine Selbstdefinition über eine Beziehung, bei der sie die Gefühle des anderen falsch einschätzte. Nach dem Ende der Beziehung zu einem älteren und verheirateten Franzosen, spürte sie die Leere in sich: „Ich wusste nicht mehr, wer ich war“. Das führte zu einem Leben in Vergangenheit: die Erinnerung an ein Gemäldemotiv, die altmodischen Musikkassetten mit der Musik der Vergangenheit, sein Abschiedsbrief, den sie wie ein Heiligtum mit sich trägt, weil Fragen offen geblieben sind. Ihre Krankheit wirkt somit wie eine Flucht, eine Abwehr gegen eine bedrohende Wirklichkeit ohne Fixpunkte. Am Ende legt sie den Brief auf den mit Blumensträußen übersäten Gedenkort von Diana über dem Tunnel, in dem sie von Journalisten zu Tode gehetzt wurde.
Die ausgezeichnete, populäre und sehr vertraute Besetzung tut das ihre, damit man sich als Zuschauer gewissermaßen zu Hause fühlt. Rose wird in einer Mischung aus geistiger Abwesenheit und energischem Durchsetzungsvermögen gespielt von Sofie Gråbøl, die man im Kino zuletzt in Lars von Triers THE HOUSE THAT JACK BUILT (2018) sehen konnte. Lena Maria Christensen ist die solide Schwester und den perfekt gestylten und in fast jeder Situation den Überblick behaltenden Schwager verkörpert Anders W. Berthelsen. Ein kleines Juwel in dem Film ist Søren Malling als heimlich verschreckter Lehrer, den die Nähe von Unordnung verstört und durcheinander bringt. Da brodelt viel unter der angespannten Oberfläche. Malling macht das allein durch seine Präsenz, seine unbeweglich Körperhaltung und seinen gequälten Gesichtsausdruck spürbar.