Der estnische Film
SKANDINAVISCHES SCHWEIGEN (2019, Skandinaavia vaikus) ist ein
Konzeptfilm in einer Art, wie ich sie eigentlich nicht so gerne mag,
aber ich wollte auf den Nordischen Filmtagen Lübeck gerne noch einen
baltischen Film mehr sehen und außerdem habe ich ein Faible für
Filme mit Schnee. Und davon gibt es hier reichlich. Der Inhalt ist
sehr einfach: Ein junger Mann steigt auf einer einsamen Landstraße
inmitten einer weiten Schneelandschaft zu einem jungen Mädchen ins
Auto. Unterwegs machen sie Halt an einer Gaststätte. Zwischen beiden
liegt der Abgrund einer Familiengeschichte. Es geht um familiären
Missbrauch, Schuld, Gefängnis.
Regisseur Martti Helde
hat daraus eine formale Übung gemacht. In drei Versionen und einem
auflösenden oder vielleicht besser erlösenden Schluss, wo das
durchgängige Schwarzweiß für den kurzen Rest in Farbe umwechselt,
wird die Geschichte erzählt. Ich kann angesichts einer einzigen
Betrachtung nicht sagen, ob es kleine widersprüchliche Unterschiede
gibt, aber im Prinzip sind es drei Schnittversionen derselben Fahrt,
die jeweils ihren Schwerpunkt auf eine bestimmte Perspektive legen.
Bei der ersten Version erzählt nur sie, dann redet er, dann wird
geschwiegen und darauf folgt der erwähnte erlösende,
andeutungsweise versöhnende Schluss.
Ich sag mal ganz
amateurhaft: Was soll man da sagen? Oder schreiben? Der Regisseur hat
seine sich selbst gestellte intellektuelle Bastelaufgabe gelöst, die
Gleichung aufgelöst und weiß jetzt, wie groß x ist. Dafür kriegt
man dann als Belohnung auch schon mal einen Preis, wie ich im
Katalog der Filmtage lese, den Regiepreis von Karlovy Vara. Was ihm
jedenfalls gelingt, ist, die Beklemmung zwischen den beiden Figuren,
die die meiste Zeit vorherrscht, direkt erfahrbar zu machen. Was
objektiv gesehen durchaus eine Leistung ist, aber subjektiv
betrachtet für den Zuschauer, oder reden wir besser bloß von mir,
für mich eher unangenehm war. Es dauert zu lange, es ist
angestrengt, es ist ein Gefühl der Unfreiheit, an der der Film
einfach zu viel Freude hat.
Aber der Film hat auch
eine andere Seite: Denn immer wieder wird die Schneelandschaft
gefilmt, wird in die Handlung mit eingewoben. Und da gehen dann Wort
und Bild manchmal von ganz alleine eine Verbindung ein, sodass etwas
anderes entsteht, was über diese formale Versuchsanordnung
hinausgeht und dessen man sich nicht entziehen kann. Da ist die
weite, ebenso eiskalte wie schöne Schneelandschaft nicht nur
symbolisches Dekor, sondern abstrakter Teil der Handlung. Das sind die
Momente, wo einen der Film atmen lässt, wie aus dem Nichts Momente
der Freiheit entstehen. Nur sind diese Momente unterkühlter Poesie
sehr selten. Da fragt man sich dann schon, was wohl dabei herauskäme,
wenn der Regisseur nicht so fürchterlich kontrolliert wäre, sondern
solchen Augenblicken mehr Chance geben würde. Das könnte dann große
Poesie sein. Aber da steht eben auf der anderen Seite der
offensichtliche Wille zum rationalen, denkenden Kunstwerk.
© Gabriela Liivamägi
Jenna (Rea Lest), Tom (Reimo Sagor)
© Kristjan Moru
(Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)