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Mittwoch, 4. Dezember 2019

SKANDINAVISCHES SCHWEIGEN – Ein Film wie eine Formel

Der estnische Film SKANDINAVISCHES SCHWEIGEN (2019, Skandinaavia vaikus) ist ein Konzeptfilm in einer Art, wie ich sie eigentlich nicht so gerne mag, aber ich wollte auf den Nordischen Filmtagen Lübeck gerne noch einen baltischen Film mehr sehen und außerdem habe ich ein Faible für Filme mit Schnee. Und davon gibt es hier reichlich. Der Inhalt ist sehr einfach: Ein junger Mann steigt auf einer einsamen Landstraße inmitten einer weiten Schneelandschaft zu einem jungen Mädchen ins Auto. Unterwegs machen sie Halt an einer Gaststätte. Zwischen beiden liegt der Abgrund einer Familiengeschichte. Es geht um familiären Missbrauch, Schuld, Gefängnis.

Regisseur Martti Helde hat daraus eine formale Übung gemacht. In drei Versionen und einem auflösenden oder vielleicht besser erlösenden Schluss, wo das durchgängige Schwarzweiß für den kurzen Rest in Farbe umwechselt, wird die Geschichte erzählt. Ich kann angesichts einer einzigen Betrachtung nicht sagen, ob es kleine widersprüchliche Unterschiede gibt, aber im Prinzip sind es drei Schnittversionen derselben Fahrt, die jeweils ihren Schwerpunkt auf eine bestimmte Perspektive legen. Bei der ersten Version erzählt nur sie, dann redet er, dann wird geschwiegen und darauf folgt der erwähnte erlösende, andeutungsweise versöhnende Schluss.

Ich sag mal ganz amateurhaft: Was soll man da sagen? Oder schreiben? Der Regisseur hat seine sich selbst gestellte intellektuelle Bastelaufgabe gelöst, die Gleichung aufgelöst und weiß jetzt, wie groß x ist. Dafür kriegt man dann als Belohnung auch schon mal einen Preis, wie ich im Katalog der Filmtage lese, den Regiepreis von Karlovy Vara. Was ihm jedenfalls gelingt, ist, die Beklemmung zwischen den beiden Figuren, die die meiste Zeit vorherrscht, direkt erfahrbar zu machen. Was objektiv gesehen durchaus eine Leistung ist, aber subjektiv betrachtet für den Zuschauer, oder reden wir besser bloß von mir, für mich eher unangenehm war. Es dauert zu lange, es ist angestrengt, es ist ein Gefühl der Unfreiheit, an der der Film einfach zu viel Freude hat.

Aber der Film hat auch eine andere Seite: Denn immer wieder wird die Schneelandschaft gefilmt, wird in die Handlung mit eingewoben. Und da gehen dann Wort und Bild manchmal von ganz alleine eine Verbindung ein, sodass etwas anderes entsteht, was über diese formale Versuchsanordnung hinausgeht und dessen man sich nicht entziehen kann. Da ist die weite, ebenso eiskalte wie schöne Schneelandschaft nicht nur symbolisches Dekor, sondern abstrakter Teil der Handlung. Das sind die Momente, wo einen der Film atmen lässt, wie aus dem Nichts Momente der Freiheit entstehen. Nur sind diese Momente unterkühlter Poesie sehr selten. Da fragt man sich dann schon, was wohl dabei herauskäme, wenn der Regisseur nicht so fürchterlich kontrolliert wäre, sondern solchen Augenblicken mehr Chance geben würde. Das könnte dann große Poesie sein. Aber da steht eben auf der anderen Seite der offensichtliche Wille zum rationalen, denkenden Kunstwerk.


© Gabriela Liivamägi
Jenna (Rea Lest), Tom (Reimo Sagor)
© Kristjan Moru
(Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)