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Montag, 2. Dezember 2019

Karolis Kaupinis' NOVA LITHUANIA – Das geografische Vakuum

© Some Shorts (Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)
Bei dem litauischen Film NOVA LITHUANIA (2019) von Karolis Kaupinis, übrigens ein Spielfilmdebüt, war es allein schon die einfache Inhaltsangabe im Programm der Nordischen Filmtage Lübeck, die neugierig machte, noch dazu gewürzt mit der Information, dass die Grundidee der Wirklichkeit entnommen ist: Beruhend auf den Plänen eines realen Geografen jener Zeit wird die Geschichte eines Uni-Wissenschaftlers im Litauen der 1930er erzählt, der auf die Bedrohung durch Hitler und Stalin mit der Gründung eines neuen Litauen in einer afrikanischen Insel-Kolonie reagieren will. Wer vielleicht einen rein skurrilen Film erwartet hatte, der bekam dann eine Geschichte präsentiert, die zwar nicht ohne Humor ist, aber die Vergangenheit zu mehr nutzt als zum Erzählen einer seltsamen Begebenheit. Vor allem geht es um ein Land kurz vor seiner Auflösung oder genauer gesagt Annektierung, wo man im Nachhinein weiß, dass die Bedrohung unterschätzt wurde.

Der Bezug zur Gegenwart ist also offensichtlich. Auch jetzt sei laut Kaupinis ein offenes Reden über die reale Bedrohung nicht erwünscht. Nun wünscht sich zwar hoffentlich niemand eine aggressive Anti-Russland-Politik wie die von Obama und besonders Außenministerin Hillary Clinton zurück, aber dennoch sollte man niemals blauäugig sein gegenüber Russland. Diesem großen politischen Ganzen gegenüber steht ein verlorener Intellektueller, dessen Idee vielleicht rückblickend etwas komisch wirken mag, aber immerhin ist sie das konsequente Ergebnis einer illusionslosen Sicht auf den Lauf der Geschichte und der aktuellen Politik. Daher ist es gar nicht so sehr der Plan selbst, um den es in dem Film geht, sondern um die Reaktionen darauf. Niemand will sich dafür einsetzen, weil es ein öffentliches Eingeständnis einer realen Bedrohungslage wäre. Das ist natürlich eine schizophrene, ausweglose Zwickmühle.

Und dieser verlorene Intellektuelle hat auch noch ein Privatleben, das, parallel zur Situation seines Landes, immer unerträglicher wird. Das ist die echt tragikomische Seite des Films. Denn dass er mit seiner Frau kinderlos lebt, kann die Schwiegermutter nicht ertragen kann, sodass sie angereist kommt, die Wohnung okkupiert und daran arbeitet, den Hausherren zu entmachten und zu ersetzen. Also eine echte Ein-Frauen-Invasion. Wie eine weibliche Version irgendeines zeitgenössischen Diktators.

Visuell ist alles sehr sparsam, minimalistisch, was stilsicher funktioniert, weil es ein gedanklich sehr klarer Film ist, auch wenn man zugestehen muss, dass das Ganze manchmal im Detail etwas schwer zu verstehen ist, da es doch gerade im Baltikum eine sehr komplizierte politische Lage war Ende der 30er. Daher bleiben für jemanden ohne genauere Kenntnisse die Dinge etwas abstrakter, was aber reicht, um den Grundlinien der Handlung problemlos folgen zu können. Die Darsteller agieren zurückhaltend in meist statischen Bildern. Man hat sich ganz bewusst orientiert an den Bildern eines zeitgenössischen Fotografen. Dass der Film in Schwarzweiß gedreht wurde, hat wohl ganz einfach Kostengründe, ändert aber nichts daran, dass es unweigerlich zu einer Abstraktion führt, die zum Thema passt, geht es doch im Kern um die Mathematik der Bevölkerungsdichte. Ein Land mit geringer Bevölkerungsdichte wird danach automatisch Ziel eines Nachbarn mit hoher Dichte. Leere erzeugt durch Diffusion Vollsein.

NOVA LITHUANA ist ein wirklich schönes vielversprechendes Debüt, und auch wenn ich es jetzt nicht zum Meisterwerk hochstilisieren will, hoffe ich, dass die Nordischen Filmtage dranbleiben an diesem Regisseur. Allein schon wegen der Themen und Geschichten, die er vielleicht und hoffentlich noch auswählt. Dazu kommt eine interessante unangepasste Sichtweise, ohne jedoch irgendwie radikal zu sein. Als Kaupinis sein nächstes Projekt ankündigte, das von einem gegen die Unabhängigkeit von der UdSSR Putschenden handelt, der am Ende ganz allein war, sagt er mit einem Lachen, dass der für ihn ein tragischer Held sei. Kaupinis schwimmt wohl gerne ein bisschen gegen den Strom, denn für die meisten seiner Landsleute handelt es sich da wohl eher um einen Verräter und Sowjet-Kollaborateur. Es kann offensichtlich sehr nützlich sein, Politikwissenschaft studiert zu haben, wenn man Filme macht.

Und bei einem neuen Film wird es spannend sein, ob Kaupinis wieder mit dem Darsteller des litauischen Premierministers arbeiten wird, mit Vaidotas Martinaitis. Beide waren in Lübeck zu Gast und standen auch für Publikumsfragen zur Verfügung. Und nachdem es eigentlich wie gewöhnlich abgelaufen war, gab es tatsächlich eine amüsante Schlusspointe. Martinaitis hatte nicht viel gesagt, auch weil sein Englisch wohl nicht das Beste ist, aber die Moderatorin, deren Namen ich nennen würde, wenn ich ihn wüsste, fühlte sich verpflichtet, ihm noch eine letzte, schnell zu beantwortende Frage zu stellen: „Wie hat Ihnen denn der Film gefallen?“ Nur dass der arme Mann darauf keine Antwort geben konnte, denn er war ganz offensichtlich hochgradig durcheinander. Die Erklärung war einfach – und amüsant: Er hatte den Film vorher noch nicht gesehen gehabt und sagte nun, dass er beim Drehen einen ganz anderen Film im Kopf gehabt hätte, als den, den er jetzt gesehen hätte. Zumindest ein indirektes Kompliment an den konsequenten Stilwillen des Regisseurs.


© Some Shorts (Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)