© Some Shorts (Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)
Bei dem litauischen Film
NOVA LITHUANIA (2019) von Karolis Kaupinis, übrigens ein
Spielfilmdebüt, war es allein schon die einfache Inhaltsangabe im
Programm der Nordischen Filmtage Lübeck, die neugierig machte, noch
dazu gewürzt mit der Information, dass die Grundidee der
Wirklichkeit entnommen ist: Beruhend auf den Plänen eines realen
Geografen jener Zeit wird die Geschichte eines Uni-Wissenschaftlers
im Litauen der 1930er erzählt, der auf die Bedrohung durch Hitler
und Stalin mit der Gründung eines neuen Litauen in einer
afrikanischen Insel-Kolonie reagieren will. Wer vielleicht einen rein skurrilen Film erwartet hatte, der bekam dann eine Geschichte
präsentiert, die zwar nicht ohne Humor ist, aber die Vergangenheit
zu mehr nutzt als zum Erzählen einer seltsamen Begebenheit. Vor
allem geht es um ein Land kurz vor seiner Auflösung oder genauer
gesagt Annektierung, wo man im Nachhinein weiß, dass die Bedrohung
unterschätzt wurde.
Der Bezug zur Gegenwart
ist also offensichtlich. Auch jetzt sei laut Kaupinis ein offenes Reden
über die reale Bedrohung nicht erwünscht. Nun wünscht sich
zwar hoffentlich niemand eine aggressive Anti-Russland-Politik wie
die von Obama und besonders Außenministerin Hillary Clinton zurück,
aber dennoch sollte man niemals blauäugig sein gegenüber Russland.
Diesem großen politischen Ganzen gegenüber steht ein verlorener Intellektueller,
dessen Idee vielleicht rückblickend etwas komisch wirken mag, aber
immerhin ist sie das konsequente Ergebnis einer illusionslosen Sicht
auf den Lauf der Geschichte und der aktuellen Politik. Daher ist es
gar nicht so sehr der Plan selbst, um den es in dem Film geht,
sondern um die Reaktionen darauf. Niemand will sich dafür einsetzen,
weil es ein öffentliches Eingeständnis einer realen Bedrohungslage
wäre. Das ist natürlich eine schizophrene, ausweglose Zwickmühle.
Und dieser verlorene
Intellektuelle hat auch noch ein Privatleben, das, parallel zur
Situation seines Landes, immer unerträglicher wird. Das ist die echt
tragikomische Seite des Films. Denn dass er mit seiner Frau kinderlos
lebt, kann die Schwiegermutter nicht ertragen kann, sodass sie
angereist kommt, die Wohnung okkupiert und daran arbeitet, den
Hausherren zu entmachten und zu ersetzen. Also eine echte
Ein-Frauen-Invasion. Wie eine weibliche Version irgendeines
zeitgenössischen Diktators.
Visuell ist alles sehr
sparsam, minimalistisch, was stilsicher funktioniert, weil es ein
gedanklich sehr klarer Film ist, auch wenn man zugestehen muss, dass
das Ganze manchmal im Detail etwas schwer zu verstehen ist, da es
doch gerade im Baltikum eine sehr komplizierte politische Lage war
Ende der 30er. Daher bleiben für jemanden ohne genauere Kenntnisse
die Dinge etwas abstrakter, was aber reicht, um den Grundlinien der
Handlung problemlos folgen zu können. Die Darsteller agieren
zurückhaltend in meist statischen Bildern. Man hat sich ganz bewusst
orientiert an den Bildern eines zeitgenössischen Fotografen. Dass
der Film in Schwarzweiß gedreht wurde, hat wohl ganz einfach
Kostengründe, ändert aber nichts daran, dass es unweigerlich zu
einer Abstraktion führt, die zum Thema passt, geht es doch im Kern
um die Mathematik der Bevölkerungsdichte. Ein Land mit geringer
Bevölkerungsdichte wird danach automatisch Ziel eines Nachbarn mit
hoher Dichte. Leere erzeugt durch Diffusion Vollsein.
NOVA LITHUANA ist ein
wirklich schönes vielversprechendes Debüt, und auch wenn ich es
jetzt nicht zum Meisterwerk hochstilisieren will, hoffe ich, dass die
Nordischen Filmtage dranbleiben an diesem Regisseur. Allein schon
wegen der Themen und Geschichten, die er vielleicht und hoffentlich noch auswählt. Dazu
kommt eine interessante unangepasste Sichtweise, ohne jedoch
irgendwie radikal zu sein. Als Kaupinis sein nächstes Projekt
ankündigte, das von einem gegen die Unabhängigkeit von der UdSSR
Putschenden handelt, der am Ende ganz allein war, sagt er mit einem
Lachen, dass der für ihn ein tragischer Held sei. Kaupinis schwimmt
wohl gerne ein bisschen gegen den Strom, denn für die meisten seiner
Landsleute handelt es sich da wohl eher um einen Verräter und
Sowjet-Kollaborateur. Es kann offensichtlich sehr nützlich sein,
Politikwissenschaft studiert zu haben, wenn man Filme macht.
Und
bei einem neuen Film wird es spannend sein, ob Kaupinis wieder mit
dem Darsteller des litauischen Premierministers arbeiten wird, mit
Vaidotas Martinaitis. Beide waren in Lübeck zu Gast und standen auch
für Publikumsfragen zur Verfügung. Und nachdem es eigentlich wie
gewöhnlich abgelaufen war, gab es tatsächlich eine amüsante
Schlusspointe. Martinaitis hatte nicht viel gesagt, auch weil sein
Englisch wohl nicht das Beste ist, aber die Moderatorin, deren Namen
ich nennen würde, wenn ich ihn wüsste, fühlte sich verpflichtet,
ihm noch eine letzte, schnell zu beantwortende Frage zu stellen: „Wie
hat Ihnen denn der Film gefallen?“ Nur dass der arme Mann darauf
keine Antwort geben konnte, denn er war ganz offensichtlich
hochgradig durcheinander. Die Erklärung war einfach – und
amüsant: Er hatte den Film vorher noch nicht gesehen gehabt und
sagte nun, dass er beim Drehen einen ganz anderen Film im Kopf gehabt
hätte, als den, den er jetzt gesehen hätte. Zumindest ein
indirektes Kompliment an den konsequenten Stilwillen des Regisseurs.
© Some Shorts (Quelle:Nordische Filmtage Lübeck)