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Montag, 2. November 2020

Anna Sofie Hartmanns GIRAFFE – Die Archivierung der Gegenwart

Anna Sofie Hartmanns deutsch-dänischer Film GIRAFFE (2019), ihr zweites Werk nach LIMBO (2014), spielt im Umkreis der anstehenden Bauarbeiten des Tunnels zwischen dem deutschen Fehmarn und dem dänischen Lolland, wofür in Dänemark schon seit Längerem die Vorbereitungen laufen. GIRAFFE ist einerseits ein sehr konkreter, quasi-dokumentarischer Film. Aber gleichzeitig ist er in seiner stilistischen Einfachheit sehr abstrakt. Das macht seinen Reiz aus.

Im Kern geht es um Tradition und Moderne, um Begriffe wie Zuhause, Verwurzelung, Bindung, Heimat, Familie, Arbeit, um den einen innerlich vertrauten Ort, den man kennt, mit dem man verbunden ist, der Erinnerungen trägt. Oder vielleicht ist es auch nur die Suche danach. Diese allgemeinen Themen werden aber nicht intellektuell theoretisiert, sondern sind sehr geschickt und unaufdringlich  in die Handlung eingeflochten und kommen vorsichtig nach und nach zum Vorschein.

Die Hauptfigur Dara, gespielt von Lisa Loven Kongsli in einer spannenden Mischung aus unterkühlter Sachlichkeit und ungezwungener Sinnlichkeit, ist eine norwegische Volkskundlerin oder Völkerkundlerin – ich kann mich nicht erinnern, ob das im Film so genau spezifiziert wird – aus Berlin, Mitte 30, die für ein Museum arbeitet und die Spuren dessen rettet, was im Rahmen der Bauarbeiten gerade verschwindet oder noch verschwinden wird. Die museale Spurensuche besteht aus dem Sammeln und Archivieren von allem Möglichen. Ein ganzer Trupp von Akademikern ist da beschäftigt, und es wirkt, als handele es sich um prähistorische Archäologie. Vom Hundeknochen, der in der Erde lag, bis zum Nadelkissen, es kommt alles ins Archiv. Fotos, Einwohnerverzeichnisse, auch direkte mündliche Zeugnisse werden gesammelt. Da ist das Bauernehepaar, das nach drei Generationen jetzt den Hof verlassen muss. Die Frau, den Tränen mehr als nah, hängt an den kleinen Spuren und Erinnerungen, die das Haus geistig und konkret in sich trägt. Und immer wieder fällt der fatalistische Satz: Das ist halt der Fortschritt. Der Film besteht in diesen Szenen aus vielen statischen, fotogleichen Bildern, teilweise menschenleer, und hier identifiziert GIRAFFE sich ganz mit der Arbeit des Einfangens und Bewahrens, die da vor sich geht.

Dreh- und Angelpunkt auf Lolland ist Rødbyhavn. Immer wieder geht der Blick Daras vom Hotel aus auf die Fähranlage mit dem unaufhaltsamen, langsamen Strom von Autos. Und ohne bewusst nostalgisch zu sein, geht es auch um die jetzige Art der Reise mit Fähre, gekennzeichnet durch eine Art Reisen ohne eigene Bewegung, mit zum Stillstand verurteilten Reisenden, die nach dem Jagen über die Autobahn unbeweglich aus dem Fenster über die Weite des Meeres schauen. Der Tunnel hingegen wird irgendwann für ein stetig andauerndes Fließen – zumindest im Idealfall – sorgen.

Das Versprechen des etwas rätselhaften Filmtitels übrigens wird schon gleich am Anfang eingelöst. Da ist sofort eine Giraffe zu sehen. Die Kamera filmt das Tier, das irgendwohin guckt, aber dann den Kopf dreht und in die Kamera schaut. Der Untersuchungsgegenstand guckt zurück, der Beobachter ist der Beobachtete. So verschiebt sich auch nach und nach der Gegenstand des Films. Zuerst betrachten wir mit der Hauptfigur ihre Arbeit, aber diese Arbeit wirft wie ein Spiegel ihren Blick zurück. Und immer mehr betrachten wir nun vor allem die Hauptfigur im Verhältnis zu dem, was sie tut.

Das kristallisiert sich in einem Tagebuch heraus, das Dara in dem seit Langem unbewohnten, verlassenen Haus einer alleinstehenden Bibliothekarin mit wechselnden Männerfreundschaften gefunden hat. Das ist das Haus, das sie immer wieder anzieht und die Person, über die sie am schwierigsten Informationen bekommt, da diese ein bisschen eine Fremde in der Gegend geblieben ist. Und parallel dazu beginnt Dara eine Liebesbeziehung zu einem jüngeren Polen, der mit Landsleuten Kabel verlegt. Die erzählen über Arbeiten im Ausland, über Geld, Familie, Pläne. Sie selbst hat gar nichts zu erzählen. Jeder hier scheint einen Traumort zu haben. Die Mutter zeigt ihr per Tablet-Kamera begeistert den Garten, der Pole schickt ihr ein Video vom geliebten Dorf der Großeltern. Nur von ihr selbst kommt nichts. Man sieht sie kurz in Berlin, aber auch wenn das ihr Hauptwohnsitz ist und sie dort  mit einem festen Freund lebt, erscheint es nur als eine Station, ein Aufenthalt mehr im Irgendwo. Sie ist die Repräsentantin des wurzellosen Lebens der Moderne, das so gerne als Qualität verkauft wird. Konsequenterweise verschwindet sie am Ende im Dunkeln, löst sich gewissermaßen auf. Die moderne Existenz produziert geisterhafte, wurzellose Wesen, die aber als Ausgleich auch nicht, wie etwa Wandermönche, spirituell verwurzelt sind. Freiheit und Ungebundenheit als reine Leere.

 



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