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Dienstag, 29. September 2020

Thomas Vinterbergs ANOTHER ROUND – Exzessives Spiegeltrinken

ANOTHER ROUND (2020) ist der internationale Titel von Thomas Vinterbergs neuem Spielfilm, dessen dänischer Originaltitel DRUK ja viel, viel schöner ist, aber so lautet er nun mal und so wird er jetzt auch auf dem Filmfest Hamburg und woanders präsentiert. Wobei ich ihn statt in Hamburg in Sønderborg im abends sehr gut gefüllten großen Saal des Kinorama gesehen habe, wo ein bemerkenswert junges Publikum in der Mehrheit war. Und wie EKKO, die einzige dänische Filmzeitschrift, gerade meldete, ist dieses Besucherinteresse kein Einzelfall. Über 100.000 Zuschauer gab es landesweit am Premierenwochenende von Donnerstag bis Sonntag. Ich frage mich im Übrigen, ob es im Englischen nicht doch einen passenderen Ausdruck gegeben hätte, um DRUK zu übersetzen, aber jeder andere deutsche Titel als SUFF wäre ein geistiges Verbrechen, dass mit dem Trinken einer ganzen großen Flasche Gammeldansk in einem Zug geahndet werden müsste. Im Folgenden bleibe ich lieber bei DRUK.

Aufhänger, Handlungsantrieb von DRUK ist eine Art wissenschaftlicher Selbstversuch, den vier Lehrer bei einem Geburtstags-Essen mit Luxusalkohol in einem Restaurant beschließen: Mit 0,5 Promille sei der Mensch zu wenig geboren, hat der norwegische Psychiater Finn Skårderud irgendwo gesagt oder geschrieben. Finn Skårderud, der wohlgemerkt keine Erfindung der Autoren ist, hat sich unter anderem mit dem Wesen des Rausches beschäftigt und ein Aufsatz von ihm wie „Hvorfor beruser vi os?“ / „Warum berauschen wir uns“ wird sogar an dänischen Schulen gelesen. Zumindest kann man im Netz eine Hausaufgabe dazu finden. Diese Theorie erscheint jetzt als perfektes Rezept, als wissenschaftlich legitimierter Trink-Vorwand für mittelalte Männer um die vierzig, fünfzig, die den Schwung verloren haben und sich irgendwie müde in der Routine und den gesellschaftlichen Mustern eingerichtet haben, unter deren Einfluss man schnell vergisst, dass geradeaus zwar die kürzeste, aber nicht die einzige Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Das angenehm schlingernde Zickzack, wenn man betrunken ist, gibt es beispielsweise auch noch. Und im Film suchen sie den Weg heraus aus der Krise in ein lebendigeres und kreativeres, aber immer noch bürgerlich-geregeltes, Dasein mit Hilfe von Alkohol.

Vor allem also ist DRUK also ein Film über Alkohol und ein filmisches Plädoyer für den Alkohol. Da ist einmal der Alkohol als mechanisiertes Hilfsmittel, um den Alltag mit mehr Leichtigkeitsgefühl zu durchleben, und dann der befreiende Exzess, der schnell geistig und körperlich zerstörerisch werden kann. Es gibt Diskussionen darüber. Die verschiedenen Wirkungen werden im Film durchgespielt. Die beruflichen und familiären Kollateralschäden werden gezeigt. Hier hat man es ja nicht mit künstlerischen oder grundsätzlich selbstzerstörerischen Trinkern zu tun, sondern mit Alltagstrinkern, mit wissenschaftlichen Säufern, was natürlich voll in unsere Zeit passt. Es soll ja eigentlich auch ein wissenschaftlicher Artikel dabei herauskommen, der mit der passenden Fachsprache eine Zeitlang in den Laptop getippt wird. Und es wird ständig die Blut-Promille gemessen und eingeblendet. Das genau ist die amüsante Ambivalenz des Films. Einerseits passt er in unsere verwissenschaftlichte, durchmedizinisierte Zeit, die Gesundheit in Zahlen und messbaren Inhaltsstoffen und Vitaminen ausdrücken zu können glaubt. Andererseits ist es ein Film gegen diese Zeit mit ihrem Ernährungsterror und Gesundheitswahn, der im Grunde nur darauf abzielt, die Menschen in ihrer zitternden panischen Todesangst zu bestärken und so die Herrschaft über sie zu gewinnen.

Die Drehbuchkonstruktion, bei der DRUK rein strukturell manchmal wie eine routinierte Verfilmung der Literatur über den Alkohol, über dazu existierende Theorien wirkt, führt also ganz zwangsläufig zu einer gewissen, teilweise vorhersehbaren Mechanisierung der Erzählung. Und so hätte durchaus die Gefahr bestanden, dass der Film ein Teil des modernen Soziologie-Kinos im Sinne des fürchterlichen Ruben Östlund wird, aber vor allem zwei Elemente verhindern das, und die sind vermutlich auch für den verdienten Erfolg hauptverantwortlich: Einmal die vier brillanten und perfekt besetzten authentischen Hauptdarsteller und dann die Einbettung der ernst-theoretischen Thematik in den Rahmen einer echten, deftigen Komödie, zwar mit ein paar bitteren Angostura-Tropfen dabei, aber nichtsdestoweniger einer Komödie.

Gespielt werden die vier Lehrer von einem wunderbaren Schauspieler-Quartett, das dann auch passenderweise als Kollektiv den Preis für die beste männliche Hauptrolle auf dem Festival in San Sebastian abgeräumt hat. Zwischen Ernst, Selbstironie und Kontrollverlust leben sie Lebensfrust und Lebenslust aus. Thomas Bo Larsen als der depressive und völlig abwesende Sportlehrer, der zwar kurz Enthusiasmus entwickelt, dem aber eigentlich auch kein Alkohol mehr hilft, bei dem es allenfalls schlimmer wird. Lars Ranthe als der einsame Musiklehrer, der plötzlich Poesie aus seinen singenden Schülern herausholt. Magnus Millang ist der beredte, unbestechlich logische Psychologielehrer, der das Ganze in Gang setzt. Und allen voran Mads Mikkelsen als der verwirrte und demotivierte Geschichtslehrer, der plötzlich zum von den Schülern geliebten Motivationskönig wird. Mikkelsens schweigsame Figur versteckt sich am Anfang ganz hinter unerschütterlicher Unbeweglichkeit. Er macht durch die starken Gegensätze seiner Figur die Wirkung des Alkohols am exemplarischsten deutlich. Aus Fremdheit, Entfernung, Zurückgezogenheit wird plötzlich eine ungekannte Beweglichkeit und Leichtigkeit. Dadurch kann aber zwischendurch auch die latente Ehekrise aus der Tiefe aufsteigen.

Wo Lehrer sind, sind bekanntlich Schüler, und der Sauf-Exzess von Schülern rahmt den Film ein. Es beginnt mit dem institutionalisierten „Lauf um den See“ („Søløb”) mit Saufen, Kotzen und Randale in der S-Bahn. DRUK ist somit auch ein Hohelied auf das Trinken von Schülern. Und dieser Anfang setzt den Ton fest für den Rest. Denn trotz aller Dramatik, trotz eines Todesfalls, der sehr still und elliptisch gezeigt wird, ist es eben eine wunderbare Komödie, eine echte „folkekomedie“, was, um kein Missverständnis entstehen zu lassen, als echtes Kompliment gemeint ist, denn Komödien sind heutzutage oft entweder sehr absurd und unanständig abgedreht oder eingebettet in ermüdende zähe Feelgood-Filme. In seinen komischsten Augenblicken ist DRUK ein echt hochprozentiger Pilsnerfilm.

Das unterstützt der Rhythmus des Films, der sich immer wieder in den Rausch hineinwirft und Teil der Leichtigkeit wird. Es wird dann gewissermaßen mit Schwung gefilmt. Dazu passt auch das Lied „What a Life“ der dänischen Band Secret Pleasure, zu dem Mikkelsens Lehrer seine ganz persönliche, alles versöhnende Schwerelosigkeit erlebt und mit den Abiturienten baden geht. Man könnte auch sagen, hier wird dem Leben wieder Rhythmus gegeben, nicht unbedingt bloß physisch, aber geistig gegen Trägheit und Lethargie. Eine sehr schöne besoffene Komödie auf einer bodenständigen, realistischen Dramagrundlage.