Wenn in einem Vorort Kiels die Kinovorstellung wegen „der allgemeinen Infektionslage“ ausfällt, dann stellt man sich voll Grausen vor, wie sich in den Hinterhöfen und Gärten versteckt die Leichen stapeln und die ehrenamtlichen Kinomitarbeiter entweder mit dem Tode ringen oder ihre Überreste sich tragischerweise schon in den leblosen Haufen befinden. Nur stärkste Desinfektionsmittel können vermutlich verhindern, dass Verwesungsgeruch wie erstickender Bleistaub über den Straßen liegt. Vielleicht aber bleiben auch einfach nur die Zuschauer aus, weil sie sich vom Gesundheitsregime echte Angst haben machen lassen. Aber Scherz beiseite, der Killervirus ist unerbittlich. Die Lage ist ernst. Gemeinsam schaffen wir das! Wer wollte das alles bezweifeln? Da ist es nur gut, dass man nicht lange auf den Zug für die Heimfahrt nach Kiel warten muss und sich zu Hause trockenen Fußes vor den Schrecken der zweiten Welle zurückziehen kann und bei Vimeo auf der Seite von „Nordlichter Film“ Óskar Jónassons IN FRONT OF OTHERS / FYRIR FRAMAN ANNAÐ FÓLK (2016) als Streaming zu sehen bekommt. Schließlich hatte man sich jetzt schon drauf eingestellt, diesen Film zu gucken. Alles andere wäre seelisch verstörend.
Ein bisschen verstört, und verstörend für seine Freundin, ist übrigens auch die von Snorri Engilbertsson mit wunderbar ausdrucksstarker Zurückhaltung gespielte Hauptfigur dieses isländischen Films. Schon sein so ausgeprägt altisländisch klingender Name „Hubert“ weist ihn als seltsame, etwas außen vor stehende Persönlichkeit aus. Ich habe übrigens irgendwo das Wort „Feelgood Film“ als Beschreibung gelesen, aber das passt nicht, dafür ist alles viel zu präzise und pointiert erzählt. Höchstens am Schluss könnte man solch eine kleine Parallele ziehen, wenn alles sich versöhnt unter dem Zeichen der netten Weisheit, dass Probleme nur Probleme sind, wenn man sie nicht löst. So ungefähr jedenfalls. Aber tatsächlich ist IN FRONT OF OTHERS ganz einfach eine wirklich hübsche, witzige romantische Komödie über einen PR-Grafiker, der nicht nur krankhaft schüchtern ist, vor allem gegenüber der Damenwelt, sondern der ganz und gar in seiner eigenen, sehr visuellen Welt lebt. Am Anfang sieht man, wie er beim einsamen Frühstück mit seinem Müsli in Milch spielt und komische Versuche anstellt. Das wirkt seltsam, etwas gestört auf den ersten kühlen Blick, aber später begreift man, dass er tatsächlich gezielt visuelle Versuche für seine Arbeit gemacht hat.
Huberts Problem ist seine Persönlichkeit. Mit seiner eigenen wagt er sich nicht nach vorne. Bei einem Meeting, wo der Chef versucht, eine seltsame Süßigkeiten-Kampagne an zwei Kundinnen zu bringen, die ihm skeptisch zuhören, sagt Hubert nicht ein Wort, sodass er hinterher gefragt wird, ob er als Ausländer denn Isländisch spreche. Dann ist da eine junge Frau, die ihn interessiert. Aber er ist hilflos. Also arbeitet er mit der Sprache, dem Sprechen. Zuerst imitiert er die erotischen verbalen Manierismen seines Möchtegern-Latin-Lover-Chefs, um die Angebetete zu beeindrucken. Es kommt aber bloß komisch rüber und bringt sie zum Lachen. Aber es ist erfolgreich. Nur das zählt. Als er das begreift, macht er es öfter, äfft den isländischen Präsidenten nach, dann den Vater und die Oma seiner Freundin. Bis er den Knopf im Kopf nicht mehr willentlich umlegen kann. Es hat sich verselbstständigt. Das Imitieren wird zur unkontrollierbaren Zwangshandlung. Sogar die Freundin macht er nach, was das Fass zum Überlaufen bringt.
Das Schöne an IN FRONT OF OTHERS ist, dass alles durchgehend realistisch, glaubwürdig bleibt. Nie dreht der Film ab in Richtung überdrehter Schrullen-Komödie. Ein sparsam instrumentierter Soundtrack gibt den ruhigen Rhythmus vor. Huberts leicht psychotisches Problem wird als ganz einfaches, zu überwindendes Problem gezeigt, nicht anders als das Trinken des Vaters der Freundin, den die Scheidung in eine kurze, aber heftige Krise stürzt. Gleichzeitig wird man verschont von der oftmals ziemlich verlogenen Pychotisch-macht-frei-Nummer. Das Drehbuch sorgt für eine fließende natürliche Verbindung der Haupthandlung mit den Nebenpersonen. Im Ganzen gibt es drei Paare und der Film enthält eine Hochzeit, eine Scheidung und eine Trennung inklusive eines erneuten Zusammenkommens. Alles nette Menschen, mit Ausnahme der Kinder im Film, denn die sind zwei fürchterlich unausstehliche Geschwister, die sich ständig zanken und prügeln. Aber es ist schließlich die Aufgabe von Kindern, unausstehlich zu sein. Sonst würden die Eltern sie vielleicht gar nicht bemerken.
Óskar Jónassons allererste Regiearbeit war übrigens das Video „The Sugarcubes: Live Zabor“ (1989), das ich seinerzeit immer und immer wieder geguckt habe. Meine nächste Begegnung mit einem seiner Arbeiten war dann auf dem Filmfest der universitären Nordistik-Lektoren, wo Isländisch-Lehrbeauftragter Gylfi uns im Kommunalen Kino den musikalischen Reykjavik-Film SODOMA REYKJAVIK / REMOTE CONTROL (1992) präsentierte und uns erklärte, dass Reykjavik und Kiel sich sehr ähnlich seien. Ich habe mich da gefragt, ob er das sagt, weil er sich wie zu Hause fühlt oder weil er das doch irgendwie langweilig findet. Später entdeckte ich bei meinem Neuisländisch-Anfängerkurs das Plakat des Films in seinem Büro und lieh es mir für eine Farbkopie aus, die jahrelang an einer Zimmertür bei mir klebte. Jónassons bekanntester Film aber ist natürlich der Thriller REYKJAVIK-ROTTERDAM: TÖDLICHE LIEFERUNG (2008). In dem Zusammenhang habe ich jetzt auch Jónassons ideenreiche Animations-Regie nachgeholt, die mir aus unerfindlichen Gründen bis jetzt entgangen war: THOR – EIN HAMMERMÄSSIGES ABENTEUER (2011), ein wirklich spaßiger und skurriler Film für alle Altersklassen.