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Sonntag, 17. Januar 2021

Dace Pūces DIE GRUBE – Überhäuft von Problemen

 

© Marana Productions, Markuss (Damir Onackis) (Quelle: Nordische Filmtage Lübeck)
 
Dace Pūces lettischer Film DIE GRUBE / BEDRE (2020), nach Geschichten von Jana Egle, hat den Jury-Preis im Spielfilmwettbewerb bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2020 gewonnen. Dass es nicht wirklich der beste Film ist, ist gar nicht so wichtig. BARN (2019) von Dag Johan Haugerud hat ja schon bekommen, was man bekommen kann. Und eigentlich kamen 2020 die besten Spielfilme aus Dänemark. Aber ich sehe natürlich die strategische Zielrichtung des Preises: ein erster Spielfilm, eine Regisseurin, das zu unterstützende kleine baltische Kino. Kann man nichts geben haben. Zumindest hoffe ich, dass diese Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben, denn ansonsten muss man sich Sorgen machen. Dabei will ich an sich überhaupt nicht in Zweifel ziehen, dass Dace Pūce eine gute Regisseurin ist. Das zeigt sie vor allem in der Kernhandlung des Films um einen einsamen, mächtig missverstandenen Jungen.

In DIE GRUBE geht es um einen Jungen. Einen Jungen, der etwas wirklich Schlimmes angestellt hat. Man weiß allerdings zunächst nicht, was denn genau. Am Anfang gibt es eine lange Kamerabewegung hinter ihm her, der aus einem Wald stiefelt. Man kriegt ein Gefühl für den Ort, den Raum und auch für die grimmige Entschlossenheit des Jungen, der auf schnell schwächer werdenden Rufe hinter ihm nicht reagiert, nicht reagieren will in seiner verbissenen Wut. Nach und nach begreift man: Er hat ein kleines blondes Mädchen in einem tiefen Loch im Wald zurückgelassen, wo sie im Regen einige Stunden ausharren muss, bevor die Mutter und andere sie finden.

Danach ist Markuss, so der Name des Jungen, ein Ausgestoßener, eine Art Ausgeburt des Bösen, die wie ein neuer Damien aus DAS OMEN (1976) beäugt wird. Er ist auf der ständigen Flucht vor Jungs, darunter auch der Bruder des Mädchens, die ihn verprügeln. Er zieht sich daher gerne in sein Zimmer zurück und malt. Immer wenn der Junge allein mit sich ist, zeigt Pūces einen Sinn für das still Beobachtende, das Innerliche. Und wenn der Zuschauer zu wissen bekommt, dass das Mädchen durch eigenes böses Verhalten den Stein der Rache erst ins Rollen gebracht hat, dann wird DIE GRUBE ein fast transzendenter Film über das nicht eindeutige, fluktuierende Wesen des Bösen in dieser materiellen Welt, das oft nur eine Frage der Perspektive ist. Und zu DAS OMEN gesellt sich DIE BÖSE SAAT (1956).

Außerhalb der Gesellschaft verschafft Markuss sich sogar die Gelegenheit, seine künstlerischen Fähigkeiten zu entwickeln. Durch Botengänge hat er Kontakt mit einem einsamen, alten Mann im Wald geknüpft, der sich dann als Frau entpuppt, als Lesbe in Männerkleidern, die nach demütigenden Erlebnissen während der Sowjetbesatzung nicht wieder in die Gesellschaft zurückgefunden hat. Zwei Außenseiter, zwei Unerwünschte. Eine halb verfallene Hütte auf einer Lichtung im Wald, ein unaufgeräumter Schuppen. Kunst, das Schöne, ein Glasmosaik, ein Glasfenster, das macht am Ende den grauen Schuppen zu einer Kirche. Und hier würde ich den Text am liebsten beenden, wenn in dem Film nicht noch einiges mehr wäre.

Es gibt darüber hinaus leider eine konstruierte Anhäufung von Problemfällen, die die innerliche Einfachheit der Haupthandlung bedrängen und eigentlich nur, penetrant tautologisch, zeigen sollen, dass  das wirklich Böse in der Erwachsenenwelt sein Zuhause hat und dabei leider ohne jede Ambivalenz in einem sozial-psychologischen Zusammenhang steht. Die überdrehte Mutter des Mädchens will, dass Markuss weggesperrt wird und hat das Jugendamt in ihrer Tasche. Schließlich war der Vater des Jungen nicht nur Künstler, sondern auch noch Junkie. Und es reicht nicht, die Lesbenthematik und die Sowjetvergangenheit als abstrakten Hintergrund zu haben. Sie muss in Form von biografischen Verbindungen zur Großmutter auch noch didaktisch und überdeutlich ausgewalzt werden. Dann ist da der Onkel, der seine Frau schlägt und kein Kind will, aber damit nicht genug, es kommt auch noch zu Fehlgeburt und Tod.

Das sind düstere Zeiten für die Ästhetik, die auf Kosten eines überfrachteten Inhalts erdrückt wird, vor allem, wenn man sehr deutlich sieht, dass da eine Regisseurin ist, die einen Sinn für das Lyrische, das Einfache, für das Innenleben ihrer Figuren hat. Leider ist DIE GRUBE dann teilweise doch nur eine überwürzte Sozialrealismussuppe, die man nur durch ein göttliches Wunder so gerade wieder hinkriegt. Markuss wird heroisch und rettet das Leben der Mutter des Mädchens nach einem Autounfall. Nur dass hier der Realismus einfach im Weg steht. Die heroische Tat wirkt hier nur aufgepappt, um den Zuschauer nicht ganz im depressiven und ausweglosen erwachsenen Gesellschaftshorrorsumpf versinken zu lassen. Das wirkliche, schöne, stille Wunder ist das Glasmosaik im Sonnenlicht.