Der dänische Regisseur und Schauspieler Christian Tafdrup hatte mit seiner zweiten Spielfilmregie, vor SPEAK NO EVIL (2022) und nach FORÆLDRE (2016, dt.: Eltern), dem Beziehungsfilm EN FRYGTELIG KVINDE (2017, dt.: Eine fürchterliche Frau), seinen echten Durchbruch. Hier schaute er hinter die Fassade der modernen perfekten bürgerlichen Beziehung: Ein junger Mann kommt mit seiner Traumfrau zusammen. Nach einiger Zeit zieht sie bei ihm ein und nimmt sein Leben so fest in ihre Hände, dass von ihm nichts mehr übrig bleibt. Er ist schwach, ein Weichei, das kuscht vor der Stärkeren. Naiv, willenlos, entmännlicht, das geborene Opfer des modernen Machtfeminismus, der mit unschuldigem Augenaufschlag von Gleichberechtigung redet, wo es doch nur um Macht geht. Das Ganze hat auch seine komischen Seiten, wenn er seine CDs auf dem Flohmarkt verkaufen muss, wenn sie die ganze Wohnung nach ihrem Geschmack einrichtet, wenn sie ganz nach Belieben ihre Freunde einlädt, wenn sein Lieblingsbild nicht mehr an der Wand hängt. Für sich allein sind diese Episoden oft sehr witzig, aber je länger dies anhält, desto mehr häuft es sich und es bleibt einem langsam das Lachen im Hals stecken.
Mit SPEAK NO EVIL geht Tafdrup einen großen Schritt weiter, wobei dem Zuschauer das Lachen noch tiefer im Hals stecken bleibt, bis es vor Entsetzen erstirbt wie bei dem kleinen Jungen ohne Zunge, der eine wichtige Rolle in GÆSTERNE (dt.: Gäste), so der ursprüngliche, harmlos klingende dänische Titel, spielt. Thriller, Satire, Ehedrama, Horrorfilm, Mystery, die Genrebegriffe gleiten an Tafdrups neuem Werk ab, verschwimmen, vermischen sich. Das Böse liefert eben viele Interpretationsmöglichkeiten. Und es ist ein Film über das Böse, das gerne gerade da lauert, wo der moderne Mensch sich am wohlsten und sichersten fühlt. Im Urlaub und im Eigenheim. Da ist die irrige Annahme, dass es eine gute Welt ist, auch wenn es nur den Anschein hat. Eine verweichlichte Elite der Wohlanständigkeit, des fehlenden Durchsetzungsvermögens hat dem Bösen nichts entgegenzusetzen.
Die Story ist sehr einfach. Ein dänisches Ehepaar mit Tochter macht Urlaub in Italien und trifft auf ein superfreundliches, nettes niederländisches Ehepaar mit Sohn, der wegen fehlender Zunge stumm ist und angeblich so geboren wurde. In einer grässlichen Großaufnahme öffnet er den Mund weit und man sieht den Zungenstummel. Nach dem Urlaub kommt schnell eine Einladung nach Holland per Postkarte. Sie nehmen an. Doch die Harmonie dort hält nicht lange. Es ist seltsam dort. Erst sind es nur kleine Sachen. Die Dänin ist Vegetarierin, wird aber gedrängt, gezwungen, Fleisch zu essen. Um des lieben Frieden willens würgt sie es runter, anstatt einfach energisch „nein“ zu sagen. Die Niederländer laden die Dänen zum Essen ein und lassen diese bezahlen, was tatsächlich übernommen wird. So steigert es sich allmählich und immer benehmen die Dänen sich vorschriftsmäßig, nehmen sich zurück.
Und dann sind da die eigenen Dämonen. Ein kleiner Ausflug des Dänen mit dem Holländer endet in dem Geständnis des Dänen, dass er sein geregeeltes Leben hasst. Und die Frau hockt plötzlich als brave Hausfrau bei der Gartenarbeit. Es ist, als hätte die Freiheit ihrer Gastgeber sie angesteckt. Und so lassen sie die einsame Tochter nachts in ihrem Zimmer schreien, während sie im Bett übereinander herfallen. Dabei werden sie beobachtet und alles endet in einem grausigen,stillen Horror, der sich schon in der Großaufnahme von dem kleinen stummen Jungen andeutete. Ihr Verhalten wird böse bestraft werden. Es ist die die Hilflosigkeit der Braven gegen die Hemmungslosen. Sie ergeben sich ganz ihrem Schicksal, als stünden sie unter einem lähmenden Schock der Erkenntnis. Vor allem die Frau scheint nicht mehr anwesend zu sein. Es bleibt nur eine Frage: „Warum macht ihr das?“ Die Antwort ist ganz einfach und logisch. „Weil ihr uns lasst.“ Wer das Böse gewähren lässt und sich ihm anpasst, sich täuschen lässt, hat verloren.
Am Ende vollzieht der Film eine Kreisbewegung. So wie in EN FRYGTELIG KVINDE, wo die Paarbeziehung am Ende von vorne beginnt. Wieder befindet man sich an einem Urlaubsort. Man sieht glückliche Menschen, die leben, als könnte ihnen nichts passieren. Ein treffendes Beispiel unserer dekadenten westlichen Gesellschaft, die nicht begreift, dass gerade das Böse selbst die psychologische Lüge in die Welt gesetzt hat, dass es das Böse nicht gibt. Dass alles grau ist. Ein Mädchen sitzt auf einer Schaukel, zwei kleine Kinder toben um den spritzenden Wasserschlauch, an einem Tisch sitzt eine dreiköpfige Familie, das Kind ist nur von hinten zu sehen. Aber man weiß, wie es weitergeht. Und so hört es nie auf.