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Sonntag, 24. April 2022

Christian Tafdrups SPEAK NO EVIL – Weil ihr uns lasst

 

Der dänische Regisseur und Schauspieler Christian Tafdrup hatte mit seiner zweiten Spielfilmregie, vor SPEAK NO EVIL (2022) und nach FORÆLDRE (2016, dt.: Eltern), dem Beziehungsfilm EN FRYGTELIG KVINDE (2017, dt.: Eine fürchterliche Frau), seinen echten Durchbruch. Hier schaute er hinter die Fassade der modernen perfekten bürgerlichen Beziehung: Ein junger Mann kommt mit seiner Traumfrau zusammen. Nach einiger Zeit zieht sie bei ihm ein und nimmt sein Leben so fest in ihre Hände, dass von ihm nichts mehr übrig bleibt. Er ist schwach, ein Weichei, das kuscht vor der Stärkeren. Naiv, willenlos, entmännlicht, das geborene Opfer des modernen Machtfeminismus, der mit unschuldigem Augenaufschlag von Gleichberechtigung redet, wo es doch nur um Macht geht. Das Ganze hat auch seine komischen Seiten, wenn er seine CDs auf dem Flohmarkt verkaufen muss, wenn sie die ganze Wohnung nach ihrem Geschmack einrichtet, wenn sie ganz nach Belieben ihre Freunde einlädt, wenn sein Lieblingsbild nicht mehr an der Wand hängt. Für sich allein sind diese Episoden oft sehr witzig, aber je länger dies anhält, desto mehr häuft es sich und es bleibt einem langsam das Lachen im Hals stecken.

Mit SPEAK NO EVIL geht Tafdrup einen großen Schritt weiter, wobei dem Zuschauer das Lachen noch tiefer im Hals stecken bleibt, bis es vor Entsetzen erstirbt wie bei dem kleinen Jungen ohne Zunge, der eine wichtige Rolle in GÆSTERNE (dt.: Gäste), so der ursprüngliche, harmlos klingende dänische Titel, spielt. Thriller, Satire, Ehedrama, Horrorfilm, Mystery, die Genrebegriffe gleiten an Tafdrups neuem Werk ab, verschwimmen, vermischen sich. Das Böse liefert eben viele Interpretationsmöglichkeiten. Und es ist ein Film über das Böse, das gerne gerade da lauert, wo der moderne Mensch sich am wohlsten und sichersten fühlt. Im Urlaub und im Eigenheim. Da ist die irrige Annahme, dass es eine gute Welt ist, auch wenn es nur den  Anschein hat. Eine verweichlichte Elite der Wohlanständigkeit, des fehlenden Durchsetzungsvermögens hat dem Bösen nichts entgegenzusetzen.

Die Story ist sehr einfach. Ein dänisches Ehepaar mit Tochter macht Urlaub in Italien und trifft auf ein superfreundliches, nettes niederländisches Ehepaar mit Sohn, der wegen fehlender Zunge stumm ist und angeblich so geboren wurde. In einer grässlichen Großaufnahme öffnet er den Mund weit und man sieht den Zungenstummel. Nach dem Urlaub kommt schnell eine Einladung nach Holland per Postkarte. Sie nehmen an. Doch die Harmonie dort hält nicht lange. Es ist seltsam dort. Erst sind es nur kleine Sachen. Die Dänin ist Vegetarierin, wird aber gedrängt, gezwungen, Fleisch zu essen. Um des lieben Frieden willens würgt sie es runter, anstatt einfach energisch „nein“ zu sagen. Die Niederländer laden die Dänen zum Essen ein und lassen diese bezahlen, was tatsächlich übernommen wird. So steigert es sich allmählich und immer benehmen die Dänen sich vorschriftsmäßig, nehmen sich zurück.

Und dann sind da die eigenen Dämonen. Ein kleiner Ausflug des Dänen mit dem Holländer endet in dem Geständnis des Dänen, dass er sein geregeeltes Leben hasst. Und die Frau hockt plötzlich als brave Hausfrau bei der Gartenarbeit. Es ist, als hätte die Freiheit ihrer Gastgeber sie angesteckt. Und so lassen sie die einsame Tochter nachts in ihrem Zimmer schreien, während sie im Bett übereinander herfallen. Dabei werden sie beobachtet und alles endet in einem grausigen,stillen Horror, der sich schon in der Großaufnahme von dem kleinen stummen Jungen andeutete. Ihr Verhalten wird böse bestraft werden. Es ist die die Hilflosigkeit der Braven gegen die Hemmungslosen. Sie ergeben sich ganz ihrem Schicksal, als stünden sie unter einem lähmenden Schock der Erkenntnis. Vor allem die Frau scheint nicht mehr anwesend zu sein. Es bleibt nur eine Frage: „Warum macht ihr das?“  Die Antwort ist ganz einfach und logisch. „Weil ihr uns lasst.“ Wer das Böse gewähren lässt und sich ihm anpasst, sich täuschen lässt, hat verloren.

Am Ende vollzieht der Film eine Kreisbewegung. So wie in EN FRYGTELIG KVINDE, wo die Paarbeziehung am Ende von vorne beginnt. Wieder befindet man sich an einem Urlaubsort. Man sieht glückliche Menschen, die leben, als könnte ihnen nichts passieren. Ein treffendes Beispiel unserer dekadenten westlichen Gesellschaft, die nicht begreift, dass gerade das Böse selbst die psychologische Lüge in die Welt gesetzt hat, dass es das Böse nicht gibt. Dass alles grau ist. Ein Mädchen sitzt auf einer Schaukel, zwei kleine Kinder toben um den spritzenden Wasserschlauch, an einem Tisch sitzt eine dreiköpfige Familie, das Kind ist nur von hinten zu sehen. Aber man weiß, wie es weitergeht. Und so hört es nie auf.

Donnerstag, 14. April 2022

Niels Arden Oplevs ROSE – Die Paris-Therapie

 

Niels Arden Oplevs vorletzter Film DANIEL/ SER DU MÅNEN, DANIEL (2019) handelte von einer Geiselnahme durch die mordlüsternen Terroristen vom IS und endete zwar mit dem Freikauf der dänischen Hauptfigur Daniel Rye, erhielt jedoch durch die Köpfung des ebenfalls eingesperrten US-Journalisten James Foley einen trüben Beigeschmack. Und so endet alles mit einem Trauergottesdienst. Die Geschichte über Freiheitsberaubung und Folter und Mord, wie sie der Prophet schließlich angeordnet hat, beruht auf Tatsachen, ist sozusagen ein Stück realer Weltpolitik. Ein großer Teil des Films spielt in Dänemark bei Ryes Familie, die alles andere als reich ist, aber Geld selbständig zusammenbekommen muss, denn der Staat verhandelt nicht mit Terroristen.

Wirklichkeit und Authentizität bestimmen auch Oplevs neuen Film ROSE (2022). Erzählt wird eine Geschichte aus der eigenen Familie, die sich 1997 im Großen und Ganzen so mit den beiden Schwestern und dem Schwager zugetragen hat. Es ist kurz nach Prinzessin Dianas Tod, der im Film eine zentrale Roll spielt. Schwester und Schwager holen Rose also aus dem freiwillig gewählten psychiatrischen Rückzug heraus, um sie in einer Bustour unter Menschen zu bringen und sie noch einmal Paris sehen zu lassen, wo sie in ihren jungen Jahren noch glücklich und normal gewesen war, bis der Zusammenbruch kam und die Diagnose „Schizophrenie“ folgte.

Filme über psychische Krankheiten sind oft sehr konstruiert, deprimierend, voller Betroffenheit und haben eine einfache Moral. Gerne läuft es darauf hinaus, dass psychisch Angeschlagene die besseren und klügeren Menschen sind, wobei die scheinbare Normalität als verdreht dargestellt wird. Dass man für die Darstellung solcher Figuren schnell mal einen Oscar bekommt, ist noch ein anderes Thema. Oplev wollte sich von dieser filmischen Tradition abheben. Er wollte keinen Schizophrenie-Film drehen. Er verzichtet auf eine übermäßig künstliche Konstruktion einer Story. Hier passiert nichts Wildes, Außergewöhnliches. Dramatisierungen, kleine Änderungen, damit es denn auch ein Publikumsfilm wird, fallen gar nicht auf, lassen sich von den Fakten nicht unterscheiden. Denn alles hätte durchaus so passieren können, wie es gezeigt wird. ROSE ist aber kein klinisch kalter Film, sondern ein angenehm stiller Film mit dezentem Humor und leisen Gefühlen. Intimität, Detailfreude, das emotional wirksame Verflochtensein von Humor und Drama machen den Film sehens- und liebenswert. Oplev hat bewusst einen kleinen Film gedreht.

ROSE ist in doppelter Hinsicht ein Familienfilm: einmal die private Familie und dann die große, die dänische – das „folkehjem“, „das Volksheim“. Die Paris-Fahrt dient auch der Annäherung der Familie. Roses Verhalten überschreitet immer wieder die Grenze des Erträglichen, aber sie nehmen alles mit Stärke und Ruhe hin und wissen, wie sie sich verhalten sollen. Ein kleiner Junge der Bustour kann am besten mit ihr kommunizieren. Dann ist da die übervorsorgliche Mutter, die gegen diese Reise ist und aus der dänischen Ferne alles wissen will und bei dem kleinsten Problem sofort nach Paris kommen will. So werden die kleinen, aber nicht übermäßig großen Differenzen in der Familie deutlich.

Und trotz einer Fahrt ins Ausland, deren Sprache fast keiner der Beteiligten beherrscht, ist es ein durch und durch dänischer Film. Oplev schreckt nicht vor dem absolut wahren Klischee zurück, dass die Reisegemeinschaft im Bus sitzt, Bier trinkt und gemeinsam Lieder singt. Da ist ein schönes, kleines Detail: Der Busfahrer leert auch seine Bierdose, während er am Steuer sitzt. Rose kann Ängste wecken bei unsicheren Menschen, so wie bei dem Physik- und Chemielehrer, der schon leicht erstarrt ist in seiner verkrampften Sicherheit. Dabei guckt der Film, mit Ironie und ohne zu denunzieren, unter die Oberfläche dieses Kontrollmenschen, der zu den Menschen gehört, die mit Rose umgehen, als wäre sie ansteckend und die eigene schwer erarbeitete, hart aufrecht gehaltene Fassade könnte einstürzen.

In dem Familienfilm steckt dann als Kern des Ganzen ein Liebesfilm, eine Reise in die Vergangenheit, als Roses Herausfallen aus der Welt begann. Schuld war eine Selbstdefinition über eine Beziehung, bei der sie die Gefühle des anderen falsch einschätzte. Nach dem Ende der Beziehung zu einem älteren und verheirateten Franzosen, spürte sie die Leere in sich: „Ich wusste nicht mehr, wer ich war“. Das führte zu einem Leben in Vergangenheit: die Erinnerung an ein Gemäldemotiv, die altmodischen Musikkassetten mit der Musik der Vergangenheit, sein Abschiedsbrief, den sie wie ein Heiligtum mit sich trägt, weil Fragen offen geblieben sind. Ihre Krankheit wirkt somit wie eine Flucht, eine Abwehr gegen eine bedrohende Wirklichkeit ohne Fixpunkte. Am Ende legt sie den Brief auf den mit Blumensträußen übersäten Gedenkort von Diana über dem Tunnel, in dem sie von Journalisten zu Tode gehetzt wurde.

Die ausgezeichnete, populäre und sehr vertraute Besetzung tut das ihre, damit man sich als Zuschauer gewissermaßen zu Hause fühlt. Rose wird in einer Mischung aus geistiger Abwesenheit und energischem Durchsetzungsvermögen gespielt von Sofie Gråbøl, die man im Kino zuletzt in Lars von Triers THE HOUSE THAT JACK BUILT (2018) sehen konnte. Lena Maria Christensen ist die solide Schwester und den perfekt gestylten und in fast jeder Situation den Überblick behaltenden Schwager verkörpert Anders W. Berthelsen. Ein kleines Juwel in dem Film ist Søren Malling als heimlich verschreckter Lehrer, den die Nähe von Unordnung verstört und durcheinander bringt. Da brodelt viel unter der angespannten Oberfläche. Malling macht das allein durch seine Präsenz, seine unbeweglich Körperhaltung und seinen gequälten Gesichtsausdruck spürbar.