© Motlys
Alles
beginnt mit der zunächst schwer zu entziffernden Totalen
eines Sportplatzes. Im Mittelpunkt steht ein Fußballtor, hinter dem
linken Pfosten liegt eine Gestalt, vermutlich ein Kind. Erwachsene in
gelben Sicherheitswesten bemühen sich darum. Ein anderes Kind geht
rasch weg und wird dann ein ganzes Stück
weiter entfernt von einem Mann eingeholt und zurückgeführt. Der Ort
ist eine Schule. Die Diskussionen unter den Verantwortlichen
beginnen, und man begreift allmählich die Situation: Ein Kind ist
gestorben. Ein zweites Kind war bei ihm. Der Rest ist zunächst unklar. Und
auch wenn dieser norwegische Film von Dag Johan Haugerud BARN (2019),
also ”Kind” oder ”Kinder”, heißt, tauchen hier als
handlungstragende Figuren nur diese beiden Kinder auf: ein toter
Junge und ein Mädchen, beide etwa 13 Jahre alt. Dafür wird von den Erziehungs- und
Aufsichtsberechtigten – Eltern und Lehrer – pausenlos über
Kinder geredet.
BARN ist ein
flüssig erzählter Ensemblefilm mit mehreren Hauptfiguren, und um
das Ganze einzuordnen, könnte man sagen, er steht in der besten
Tradition von Robert Altman und seinen vignettenartigen Themenfilmen
wie NASHVILLE (1975) oder PRET-A-PORTER (1994). Haugerud hat ein abstraktes
Gesamtbild voller Widersprüche und unterschiedlicher Stimmungen
geschaffen. BARN handelt mal von einer Sache, aber dann immer auch
gleichzeitig von einer anderen. Der Film entlässt den Zuschauer
nicht mit einer Weisheit oder einer Moral, ist kein Thesenfilm, auch kein Film für oder gegen etwas. Er
ist ausgezeichnet geschrieben, ohne diese Perfektion als bewusstes
Konstrukt auszustellen, wirkt natürlich, spontan, was auch den Darstellern zu verdanken ist.
Darüber
hinaus ist, trotz des traurigen Ereignisses im Zentrum der Handlung,
das vielleicht größte Kunststück des Films die Erzeugung einer
sehr hintergründigen, unaufdringlichen Ebene der Ironie und Satire,
bei der die Erwachsenen sich mit ihren eigenen Worten oft genug gewissermaßen selbst
zerlegen. Aber, und das ist wichtig, es wird entlarvt, ohne zu
denunzieren. Haugerud ist damit weit entfernt von dem zur
Selbstgefälligkeit tendierenden Kino eines Ruben Östlund. BARN funktioniert ganz anders und ist
tatsächlich ein schöner Film, den man gerne gucken kann. Auf dem
Umweg einer sehr subtilen Verstörung hat man hinterher die Welt und sich selbst etwas besser verstanden. Oder genauer gesagt: Man hat ein
klareres Gefühl bekommen. Denn von Gefühl und dem Mangel
daran handelt BARNET im innersten Kern. Haugerud führt also fort,
was ihn beispielsweise schon in seinem preisgekrönten Film von 2012,
SOM DU SER MEG (Wie du mich siehst), interessierte.
Die Story
kreist um die konkrete Aufarbeitung des Todesfalls, die Erforschung
der Ursachen, was sich als schwierig erweist, da das beteiligte
Mädchen nicht sehr mitteilsam ist. Eines steht aber nach einiger
Zeit fest: Das Mädchen hat den Jungen mit ihrer Tasche geschlagen,
woraufhin der umgefallen ist. Und eigentlich könnte hier fast
Schluss sein. Denn bei Kindern passiert so was. Selbst unter
Freunden. Aber es beginnt die große Ursachenforschung und das
gesamte pädagogische, psychologische, politische, gerichtsmedizinische und juristische
Arsenal wird aufgefahren. Im Mittelpunkt steht die tragikomische
Heldin des Films – die Rektorin. Sie will und muss alles
zusammenhalten, aber zwei Mal teilen Kollegen ihr wichtige Details
nicht mit. Besonders absurd wird dies im Bezug auf ihren Bruder, der
Lehrerkollege an der Schule ist und der verschweigt, dass er an dem
Tag seine Aufsichtspflicht verletzt hat und erst nach der Tat auf dem
Sportplatz war, weil er einem neuen attraktiven Referendar den
Weg ins Sekretariat zeigte.
Die Eltern
des Mädchens sind aktive Linke, der bisher alleinerziehende Vater
des Jungen gehört einer national-konservativen Partei an. Das riecht
ganz kurz nach müde vorhersehbaren Konflikten zwischen altem
Klassenkampf und neuer Rechten. Doch Haugerud hat hier eine falsche
Fährte gelegt. Es geht hier eben nicht um das Aufeinanderprallen von
Gegensätzen, sondern um das Zusammenbringen, um Schnittmengen.
Natürlich steht hier vor allem das mehrheitlich links-alternativ
geprägte pädagogische Milieu im Mittelpunkt. Das liegt in der Natur
der Sache, dem realen Stand der Dinge, in Norwegen wie in
Deutschland. Dieses Milieu wirkt in BARNET wie ein großes einiges
Kollektiv, aber das scheint nur so. Denn das Einzige, worüber man
sich wirklich einig ist, das ist die stramme Haltung gegen rechts,
auch wenn Inhalte und Menschen solch eine Haltung rein rational
vielleicht gar nicht hergeben. Nur im Zweifelsfall hält man wirklich zusammen.
Der geschichtliche Ursprung all dieses linken Denkens wird von einer älteren Frau verarbeitet in einem hübschen Fenstervorhang mit Zeichen
wie ”Solidarnosc”, ”gegen Atomkraft” und was alles so
seit den 70ern die Gemüter bewegt hat. Dadurch wird es aber auch in
einer gewissen anachronistischen Altertümlichkeit offenbart.
Aber, wie
gesagt, Haugerud trennt die Extreme nicht. Er bringt sie zusammen,
denn die Rektorin hat seit Längerem eine Liebesaffäre mit dem
Vater. Was sie aber geheim gehalten hat. Wohlweislich. Sie weiß, was
sie dann vom Milieu zu hören bekommt. Und das bekommt sie auch,
besonders von der Familie, denn sie ist ja selbst auch Kind, muss sich mit ihrer dominanten Mutter herumschlagen. Drei Generationen sind in BARNET versammelt. Aber jetzt, wo alle von der Beziehung wissen, kann sie
auch gleich zu ihm ziehen. Der Rechte ist einfach ein Mensch mit anderen
Meinungen, die nicht verboten sind. Ironischerweise hängt er
höchstpersönlich bei sich den Vorhang mit linken Symbolen auf, weil er ihn
so hübsch findet. Und er ist ein zur Zeit orientierungsloser Vater,
der seinen Sohn verloren hat. Aber auch er hatte vor allem theoretische Erwartungen,
bildete sich ein, seinen Sohn genau gekannt zu haben. Er spricht von
Leistung, vom Herausholen des größten Potentials. Und mit diesem
Regeldenken ist er nicht allein.
Denn
Haugerud liefert mit BARNET eine emotionale statt einer politischen
Systemkritik. Und trifft den Kern damit viel besser. Die Katastrophe
besteht nicht in einer politischen Haltung, egal in welche Richtung,
sondern in der emotionalen Verkrüppelung einer ganzen Elite, in
einer Gesellschaft, in der kein Gefühl, keine Handlung mehr authentisch sind.
Empathie ist sozusagen theoretisch geregelt. Die Menschen sind nicht
böse – niemand in diesem Film ist das – aber herzlos.
Regeln bestimmen alles. Die Rektorin selbst sagt einmal, sie wüsste
nichts von Herz. Das sagt sie nebenbei, so selbstverständlich, dass
man sich erschrecken kann. Und immer reden alle über Kinder, aber
indirekt vor allem über sich selbst, von den eigenen Werten,
Vorstellungen und Ideologien. Es wird also unglaublich viel geredet,
aber wenig gesagt. Es geht immer um das, was man tun müsste, sagen
müsste, fühlen müsste. Das offenbart natürlich eine große
Hilflosigkeit, die aber umgekehrt proportional zu dem zur Schau
gestellten Selbstbewusstsein steht. Und niemand ist hier sicher vor
schmerzhafter Selbsterkenntnis: Selbst der kinderlose junge Lehrer,
der meint, er stünde immer auf Seiten der Kinder, erfährt am Ende,
dass er das Verhalten des toten Jungen in seinem Unterricht völlig
falsch eingeschätzt hat.