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Mittwoch, 15. April 2020

Dag Johan Haugeruds BARN – Viel Worte, wenig Herz

© Motlys

Alles beginnt mit der zunächst schwer zu entziffernden Totalen eines Sportplatzes. Im Mittelpunkt steht ein Fußballtor, hinter dem linken Pfosten liegt eine Gestalt, vermutlich ein Kind. Erwachsene in gelben Sicherheitswesten bemühen sich darum. Ein anderes Kind geht rasch weg und wird dann ein ganzes Stück weiter entfernt von einem Mann eingeholt und zurückgeführt. Der Ort ist eine Schule. Die Diskussionen unter den Verantwortlichen beginnen, und man begreift allmählich die Situation: Ein Kind ist gestorben. Ein zweites Kind war bei ihm. Der Rest ist zunächst unklar. Und auch wenn dieser norwegische Film von Dag Johan Haugerud BARN (2019), also ”Kind” oder ”Kinder”, heißt, tauchen hier als handlungstragende Figuren nur diese beiden Kinder auf: ein toter Junge und ein Mädchen, beide etwa 13 Jahre alt. Dafür wird von den Erziehungs- und Aufsichtsberechtigten – Eltern und Lehrer – pausenlos über Kinder geredet.

BARN ist ein flüssig erzählter Ensemblefilm mit mehreren Hauptfiguren, und um das Ganze einzuordnen, könnte man sagen, er steht in der besten Tradition von Robert Altman und seinen vignettenartigen Themenfilmen wie NASHVILLE (1975) oder PRET-A-PORTER (1994). Haugerud hat ein abstraktes Gesamtbild voller Widersprüche und unterschiedlicher Stimmungen geschaffen. BARN handelt mal von einer Sache, aber dann immer auch gleichzeitig von einer anderen. Der Film entlässt den Zuschauer nicht mit einer Weisheit oder einer Moral, ist kein Thesenfilm, auch kein Film für oder gegen etwas. Er ist ausgezeichnet geschrieben, ohne diese Perfektion als bewusstes Konstrukt auszustellen, wirkt natürlich, spontan, was auch den Darstellern zu verdanken ist.

Darüber hinaus ist, trotz des traurigen Ereignisses im Zentrum der Handlung, das vielleicht größte Kunststück des Films die Erzeugung einer sehr hintergründigen, unaufdringlichen Ebene der Ironie und Satire, bei der die Erwachsenen sich mit ihren eigenen Worten oft genug gewissermaßen selbst zerlegen. Aber, und das ist wichtig, es wird entlarvt, ohne zu denunzieren. Haugerud ist damit weit entfernt von dem zur Selbstgefälligkeit tendierenden Kino eines Ruben Östlund. BARN funktioniert ganz anders und ist tatsächlich ein schöner Film, den man gerne gucken kann. Auf dem Umweg einer sehr subtilen Verstörung hat man hinterher die Welt und sich selbst etwas besser verstanden. Oder genauer gesagt: Man hat ein klareres Gefühl bekommen. Denn von Gefühl und dem Mangel daran handelt BARNET im innersten Kern. Haugerud führt also fort, was ihn beispielsweise schon in seinem preisgekrönten Film von 2012, SOM DU SER MEG (Wie du mich siehst), interessierte.

Die Story kreist um die konkrete Aufarbeitung des Todesfalls, die Erforschung der Ursachen, was sich als schwierig erweist, da das beteiligte Mädchen nicht sehr mitteilsam ist. Eines steht aber nach einiger Zeit fest: Das Mädchen hat den Jungen mit ihrer Tasche geschlagen, woraufhin der umgefallen ist. Und eigentlich könnte hier fast Schluss sein. Denn bei Kindern passiert so was. Selbst unter Freunden. Aber es beginnt die große Ursachenforschung und das gesamte pädagogische, psychologische, politische, gerichtsmedizinische und juristische Arsenal wird aufgefahren. Im Mittelpunkt steht die tragikomische Heldin des Films – die Rektorin. Sie will und muss alles zusammenhalten, aber zwei Mal teilen Kollegen ihr wichtige Details nicht mit. Besonders absurd wird dies im Bezug auf ihren Bruder, der Lehrerkollege an der Schule ist und der verschweigt, dass er an dem Tag seine Aufsichtspflicht verletzt hat und erst nach der Tat auf dem Sportplatz war, weil er einem neuen attraktiven Referendar den Weg ins Sekretariat zeigte.

Die Eltern des Mädchens sind aktive Linke, der bisher alleinerziehende Vater des Jungen gehört einer national-konservativen Partei an. Das riecht ganz kurz nach müde vorhersehbaren Konflikten zwischen altem Klassenkampf und neuer Rechten. Doch Haugerud hat hier eine falsche Fährte gelegt. Es geht hier eben nicht um das Aufeinanderprallen von Gegensätzen, sondern um das Zusammenbringen, um Schnittmengen. Natürlich steht hier vor allem das mehrheitlich links-alternativ geprägte pädagogische Milieu im Mittelpunkt. Das liegt in der Natur der Sache, dem realen Stand der Dinge, in Norwegen wie in Deutschland. Dieses Milieu wirkt in BARNET wie ein großes einiges Kollektiv, aber das scheint nur so. Denn das Einzige, worüber man sich wirklich einig ist, das ist die stramme Haltung gegen rechts, auch wenn Inhalte und Menschen solch eine Haltung rein rational vielleicht gar nicht hergeben. Nur im Zweifelsfall hält man wirklich zusammen. Der geschichtliche Ursprung all dieses linken Denkens wird von einer älteren Frau verarbeitet in einem hübschen Fenstervorhang mit Zeichen wie ”Solidarnosc”, ”gegen Atomkraft” und was alles so seit den 70ern die Gemüter bewegt hat. Dadurch wird es aber auch in einer gewissen anachronistischen Altertümlichkeit offenbart.

Aber, wie gesagt, Haugerud trennt die Extreme nicht. Er bringt sie zusammen, denn die Rektorin hat seit Längerem eine Liebesaffäre mit dem Vater. Was sie aber geheim gehalten hat. Wohlweislich. Sie weiß, was sie dann vom Milieu zu hören bekommt. Und das bekommt sie auch, besonders von der Familie, denn sie ist ja selbst auch Kind, muss sich mit ihrer dominanten Mutter herumschlagen. Drei Generationen sind in BARNET versammelt. Aber jetzt, wo alle von der Beziehung wissen, kann sie auch gleich zu ihm ziehen. Der Rechte ist einfach ein Mensch mit anderen Meinungen, die nicht verboten sind. Ironischerweise hängt er höchstpersönlich bei sich den Vorhang mit linken Symbolen auf, weil er ihn so hübsch findet. Und er ist ein zur Zeit orientierungsloser Vater, der seinen Sohn verloren hat. Aber auch er hatte vor allem theoretische Erwartungen, bildete sich ein, seinen Sohn genau gekannt zu haben. Er spricht von Leistung, vom Herausholen des größten Potentials. Und mit diesem Regeldenken ist er nicht allein.

Denn Haugerud liefert mit BARNET eine emotionale statt einer politischen Systemkritik. Und trifft den Kern damit viel besser. Die Katastrophe besteht nicht in einer politischen Haltung, egal in welche Richtung, sondern in der emotionalen Verkrüppelung einer ganzen Elite, in einer Gesellschaft, in der kein Gefühl, keine Handlung mehr authentisch sind. Empathie ist sozusagen theoretisch geregelt. Die Menschen sind nicht böse – niemand in diesem Film ist das – aber herzlos. Regeln bestimmen alles. Die Rektorin selbst sagt einmal, sie wüsste nichts von Herz. Das sagt sie nebenbei, so selbstverständlich, dass man sich erschrecken kann. Und immer reden alle über Kinder, aber indirekt vor allem über sich selbst, von den eigenen Werten, Vorstellungen und Ideologien. Es wird also unglaublich viel geredet, aber wenig gesagt. Es geht immer um das, was man tun müsste, sagen müsste, fühlen müsste. Das offenbart natürlich eine große Hilflosigkeit, die aber umgekehrt proportional zu dem zur Schau gestellten Selbstbewusstsein steht. Und niemand ist hier sicher vor schmerzhafter Selbsterkenntnis: Selbst der kinderlose junge Lehrer, der meint, er stünde immer auf Seiten der Kinder, erfährt am Ende, dass er das Verhalten des toten Jungen in seinem Unterricht völlig falsch eingeschätzt hat.