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Donnerstag, 9. Juni 2022

HVIDSTENGRUPPEN II – DE EFTERLADTE – Nacht und Nebel

 

Hvidsten ist ein kleiner dänischer Ort bei Randers in Mitteljütland. Eine Gruppe von Dänen, freundschaftlich und familiär verbunden, bildete hier von 1943-1944 eine geschlossene Widerstandsgruppe. Nach dem Ort nannte man sie später "Hvidstengruppe" und so heißen auch die beiden Filme HVIDSTENGRUPPEN (2012/2022), die von den Geschehnissen bis in die frühe Nachkriegszeit erzählen. Der erste Teil aus dem Jahre 2012 handelt von der bekannteren Geschichte über die dänischen Zivilisten, die den Engländern behilflich sind und so in den Widerstand rutschen. Irgendwann werden sie aufgespürt, verhaftet und in Kopenhagen vor Gericht gestellt. Es endet mit Todesurteilen für alle Männer.

Der zweite Teil jetzt schildert weniger bekannte Geschehnisse und schließt direkt an den ersten Teil an. Inszeniert wurde er auch von Anne-Grethe Bjarup Riis. Zwei junge Frauen entgehen zwar dem Henker, müssen aber ins grausame Frauengefängnis, und nach der Entlassung der Jüngsten, durch die Hilfe eines Pastors, bleibt noch eine zurück, die bis zum Ende des Krieges die Hölle erlebt und mit ansieht. Das alles beruht auf Tatsachen, Dokumenten wie Notizen, Tagebüchern, Briefen.

Parallel zu den Erlebnissen im Frauengefängnis bemüht sich die Mutter um die Freilassung der beiden, was sich ohne Hilfe durch Geistliche und das Rote Kreuz nicht hätte machen lassen. Sie setzt dafür alle in Bewegung, doch die deutsche Schreckenspolitik macht es fast unmöglich, denn die beiden Frauen sind im Nacht- und Nebel-Programm gelandet, bei dem man spurlos verschwindet, wo man von einer Stadt in die nächste verschleppt, vielleicht sogar hingerichtet wird. Der Ausdruck Nacht und Nebel setzte sich eigentlich erst nach dem Krieg durch, aber auf jeden Fall beruhte das Ganze auf einem Erlass Hitlers, der Unsicherheit und Terror verbreiten sollte.

Im absoluten Mittelpunkt des Films stehen der Sadismus und die offensichtliche Freude am Quälen, die die weiblichen deutschen Mitarbeiter kennzeichnet. Die pausenlose grausame Behandlung durch Wärterinnen nimmt kein Ende. Hunger, Krankheit, Tod sind Normalzustände. Alles besteht aus Psychoterror, aus ständiger Demütigung. Die Folterer und Mörder arbeiten konsequent mit Angst. Da hat man eine Zeit lang den Ausblick auf die Guillotine im Gefängnishof. Kräftige, bissige Hunde jagen hinter den Gefangenen her. Der Film geht weit im Zeigen von Gewalt, Folter. menschenverachtendem Verhalten und überschreitet zwischendurch die Grenze des Zeigbaren. Und auch wenn Hilfsbereitschaft und Solidarität zwischen den Gefangenen eine große Rolle spielt, kann das Grausame auf Dauer zu einer gewissen Abgestumpftheit beim Zuschauer führen.

Gleichzeitig handelt es sich im Angesicht von Trümmern und herannahender Niederlage um einen Film über das Ende des Dritten Reiches. Und hier wird es ambivalent. Bei ihrer Verschleppung von einem deutschen Ort zum anderen kommen sie auch durch Kiel, wo alles zu Schutt und Asche geschossen wird. Die Unterschiede zwischen einfachem Soldat und Gefangenen beginnen sich langsam aufzulösen. Ein junger Soldat sagt, dass er sie beneide. Auf ihre Verständnislosigkeit hin erklärt er, dass sie jedenfalls aus Kiel herauskämen, während er selbst rettungslos mitten in der tödlichen Zerstörung sitzt, bis alles vorbei ist. Seine Familie wäre schon tot.

Und es gibt auch kein wirkliches Happy End trotz Befreiung durch das Rote Kreuz. Ein Massaker durch einen Angriff amerikanischer Jagdflieger, für die es sich bei dem Konvoi um getarnte Nazis handelt, dezimiert die Gruppe der Flüchtlinge beträchtlich. Und nach dem Krieg kann dann zwar endlich ein Gedenkgottesdienst für die toten Männer abgehalten werden. Da fallen die Worte „Sie sind für uns gestorben“. Heroische Worte, die durch das Schicksal der Heldin seltsam klingen. Sie wird die psychischen Wunden lange, wenn nicht ewig, tragen. Den Kontakt zu ihrer Tochter, die sie nicht als Mutter wahr- und annimmt, hat sie erst einmal verloren. Ihre Hände streicheln die leere Krippe neben ihrem Ehebett, in dem sie völlig einsam liegt. Trotz all der Kraft und Hoffnung, mit der sie das alles überstanden hat, bleibt ihr erst einmal nichts außer dem einfachen Leben.

Samstag, 4. Juni 2022

Anders Refns DE FORBANDEDE ÅR 2 – Keine Helden

Der lang erwartete, etwa 2,5 Stunden dauernde, zweite Teil von Anders Refns familiärem Weltkriegsepos DE FORBANDEDE ÅR (2020, engl.: Into the darkness), DE FORBANDEDE ÅR 2 (2022) (engl.: Out of the darkness), ist doch düsterer als erwartet. Der Weg aus der Dunkelheit heraus erweist sich für manche als äußerst schwierig. Der Krieg hat so manche Spur hinterlassen, ganz abgesehen von den Toten. Refn macht jetzt auch keine Zugeständnisse in der Betrachtung der Jahre 1943-1945. Das Abwenden von der Zusammenarbeit mit den Deutschen folgte pünktlich auf die Niederlage Deutschlands in Stalingrad, die schon ein erstes Zeichen für das Ende war.

Refn konzentriert sich sehr auf das Zertrümmern von Mythen und Legenden, die man sich, wie auch in anderen Ländern, in einem Akt der Verdrängung, bastelte. Ging es im ersten Teil um die Zeit der noch relativ ruhigen Zusammenarbeitspolitik, spielt der zweite Teil in der Zeit der Konflikte, der Sabotage, der Erschießungen, der Umkehr aller Werte. Auch wenn die Zusammenarbeit offizielle Regierungspolitik war, gilt man nach der Wende trotzdem plötzlich als Verräter, wenn man mit den Deutschen gearbeitet hat. Aber der organisierte Widerstand ist großzügig. Er bietet die Gelegenheit, sich gewissermaßen freizukaufen. Natürlich ohne Garantie. Am Ende wird dem Fabrikanten geraten, lieber eine Zeit lang Dänemark zu verlassen.

Nach der kurzen Harmonie der Silberhochzeitsfeier traten im ersten Teil Risse auf, die im zweiten Teil zu nicht mehr zusammensetzbaren Scherben zerfallen. Die Leben der Familienmitglieder spiegeln die verschiedenen Wege wieder, die man gehen konnte. Es ist ein Spiegel Dänemarks zu jener Zeit, zeigt, wie Trennung, Hass, Selbstgerechtigkeit oder auch Mut und Opferbereitschaft entstehen. Gleichzeitig lebt jeder in seiner Welt. Und wo ist der Unterschied zwischen dem schwer verletzten Ostfrontkämpfer, der nur noch desillusioniert trinkt, und dem Widerständler, der aus Versehen einen falschen Mann, einen Unschuldigen erschießt? Trotzdem gönnt er sich die für seine Tätigkeit moralische Überlegenheit. Nicht ein einziges Mal sieht man, dass seine Gewalt des Widerstands irgendeinen Sinn machen würde.

Es wird nichts verschont, was im gemütlichen dänischen Alltag dieser Zeit einen gewissen Ewigkeitswert hatte. Das meiste ist düster, mörderisch, der Film bleibt überwiegend beobachtend ohne selbstzufriedene moralische Bewertungen. Ein Film ohne Helden. Am Schluss steht ein konsequentes, sehr stilles Ende, an dem sich das einst so enge Fabrikantenehepaar nichts mehr zu sagen hat. Refn lässt seinen Film ohne weiteres Drama oder Cliffhanger auslaufen. Es gibt am Ende eine elliptische Erzählweise, die zeigt, dass die Jahre ihre Spuren hinterlassen haben. Es kommt auch in Dänemark zu sinnlosen Racheaktionen, zu Säuberungen, die oft selbst von Kollaborateuren,Verbrechern oder Kommunisten durchgeführt wurden.

Und dann ist da die eine filmische Einstellung, die alles gut zusammenfasst. Da wird die Erhängung des Dieners der Fabrikantenfamilie in einer weiten Totalen gezeigt. Und das inmitten einer typischen, schönen dänischen Landschaft. Alles, was er gemacht hat, war, einmal seiner Frau etwas Privates zu erzählen. Wie konnte er wissen, dass sie ihr Wissen an ihren Nazi-Geliebten verkaufte? Refn verzichtet sonst ganz auf das Zeigen von Gewalt wie Folter, beschränkt sich auf Schusswechsel. Das Erhängen ist die einzige wirklich grausame Szene: die Beine zucken noch lange vor dem orangenen Morgenhimmel, denn wie die Gestapo kommen die Männer der Säuberung mitten in der Nacht. Ein treffendes und eigentlich zu schönes Bild für den totalen Zerfall aller Werte durch solch eine Besatzung.

Hier gibt es keine Helden, nur Menschen, die irgendwie durchkommen wollten oder die vom Fanatismus überwältigt wurden. Und jeder glaubte, das Richtige zu tun. Es geht dann für viele um die Schwierigkeit, wieder ins normale Leben zurückzukehren. Dass das die meisten wollen, wird symbolisiert dadurch, dass der jüngere Bruder dem älteren, als der im Frieden den Krieg fortsetzen will, die Pistole entreißt und ganz weit ins Meer wirft. Dann lässt man ihn allein am inzwischen leeren Strand sitzen.

Sonntag, 24. April 2022

Christian Tafdrups SPEAK NO EVIL – Weil ihr uns lasst

 

Der dänische Regisseur und Schauspieler Christian Tafdrup hatte mit seiner zweiten Spielfilmregie, vor SPEAK NO EVIL (2022) und nach FORÆLDRE (2016, dt.: Eltern), dem Beziehungsfilm EN FRYGTELIG KVINDE (2017, dt.: Eine fürchterliche Frau), seinen echten Durchbruch. Hier schaute er hinter die Fassade der modernen perfekten bürgerlichen Beziehung: Ein junger Mann kommt mit seiner Traumfrau zusammen. Nach einiger Zeit zieht sie bei ihm ein und nimmt sein Leben so fest in ihre Hände, dass von ihm nichts mehr übrig bleibt. Er ist schwach, ein Weichei, das kuscht vor der Stärkeren. Naiv, willenlos, entmännlicht, das geborene Opfer des modernen Machtfeminismus, der mit unschuldigem Augenaufschlag von Gleichberechtigung redet, wo es doch nur um Macht geht. Das Ganze hat auch seine komischen Seiten, wenn er seine CDs auf dem Flohmarkt verkaufen muss, wenn sie die ganze Wohnung nach ihrem Geschmack einrichtet, wenn sie ganz nach Belieben ihre Freunde einlädt, wenn sein Lieblingsbild nicht mehr an der Wand hängt. Für sich allein sind diese Episoden oft sehr witzig, aber je länger dies anhält, desto mehr häuft es sich und es bleibt einem langsam das Lachen im Hals stecken.

Mit SPEAK NO EVIL geht Tafdrup einen großen Schritt weiter, wobei dem Zuschauer das Lachen noch tiefer im Hals stecken bleibt, bis es vor Entsetzen erstirbt wie bei dem kleinen Jungen ohne Zunge, der eine wichtige Rolle in GÆSTERNE (dt.: Gäste), so der ursprüngliche, harmlos klingende dänische Titel, spielt. Thriller, Satire, Ehedrama, Horrorfilm, Mystery, die Genrebegriffe gleiten an Tafdrups neuem Werk ab, verschwimmen, vermischen sich. Das Böse liefert eben viele Interpretationsmöglichkeiten. Und es ist ein Film über das Böse, das gerne gerade da lauert, wo der moderne Mensch sich am wohlsten und sichersten fühlt. Im Urlaub und im Eigenheim. Da ist die irrige Annahme, dass es eine gute Welt ist, auch wenn es nur den  Anschein hat. Eine verweichlichte Elite der Wohlanständigkeit, des fehlenden Durchsetzungsvermögens hat dem Bösen nichts entgegenzusetzen.

Die Story ist sehr einfach. Ein dänisches Ehepaar mit Tochter macht Urlaub in Italien und trifft auf ein superfreundliches, nettes niederländisches Ehepaar mit Sohn, der wegen fehlender Zunge stumm ist und angeblich so geboren wurde. In einer grässlichen Großaufnahme öffnet er den Mund weit und man sieht den Zungenstummel. Nach dem Urlaub kommt schnell eine Einladung nach Holland per Postkarte. Sie nehmen an. Doch die Harmonie dort hält nicht lange. Es ist seltsam dort. Erst sind es nur kleine Sachen. Die Dänin ist Vegetarierin, wird aber gedrängt, gezwungen, Fleisch zu essen. Um des lieben Frieden willens würgt sie es runter, anstatt einfach energisch „nein“ zu sagen. Die Niederländer laden die Dänen zum Essen ein und lassen diese bezahlen, was tatsächlich übernommen wird. So steigert es sich allmählich und immer benehmen die Dänen sich vorschriftsmäßig, nehmen sich zurück.

Und dann sind da die eigenen Dämonen. Ein kleiner Ausflug des Dänen mit dem Holländer endet in dem Geständnis des Dänen, dass er sein geregeeltes Leben hasst. Und die Frau hockt plötzlich als brave Hausfrau bei der Gartenarbeit. Es ist, als hätte die Freiheit ihrer Gastgeber sie angesteckt. Und so lassen sie die einsame Tochter nachts in ihrem Zimmer schreien, während sie im Bett übereinander herfallen. Dabei werden sie beobachtet und alles endet in einem grausigen,stillen Horror, der sich schon in der Großaufnahme von dem kleinen stummen Jungen andeutete. Ihr Verhalten wird böse bestraft werden. Es ist die die Hilflosigkeit der Braven gegen die Hemmungslosen. Sie ergeben sich ganz ihrem Schicksal, als stünden sie unter einem lähmenden Schock der Erkenntnis. Vor allem die Frau scheint nicht mehr anwesend zu sein. Es bleibt nur eine Frage: „Warum macht ihr das?“  Die Antwort ist ganz einfach und logisch. „Weil ihr uns lasst.“ Wer das Böse gewähren lässt und sich ihm anpasst, sich täuschen lässt, hat verloren.

Am Ende vollzieht der Film eine Kreisbewegung. So wie in EN FRYGTELIG KVINDE, wo die Paarbeziehung am Ende von vorne beginnt. Wieder befindet man sich an einem Urlaubsort. Man sieht glückliche Menschen, die leben, als könnte ihnen nichts passieren. Ein treffendes Beispiel unserer dekadenten westlichen Gesellschaft, die nicht begreift, dass gerade das Böse selbst die psychologische Lüge in die Welt gesetzt hat, dass es das Böse nicht gibt. Dass alles grau ist. Ein Mädchen sitzt auf einer Schaukel, zwei kleine Kinder toben um den spritzenden Wasserschlauch, an einem Tisch sitzt eine dreiköpfige Familie, das Kind ist nur von hinten zu sehen. Aber man weiß, wie es weitergeht. Und so hört es nie auf.

Donnerstag, 14. April 2022

Niels Arden Oplevs ROSE – Die Paris-Therapie

 

Niels Arden Oplevs vorletzter Film DANIEL/ SER DU MÅNEN, DANIEL (2019) handelte von einer Geiselnahme durch die mordlüsternen Terroristen vom IS und endete zwar mit dem Freikauf der dänischen Hauptfigur Daniel Rye, erhielt jedoch durch die Köpfung des ebenfalls eingesperrten US-Journalisten James Foley einen trüben Beigeschmack. Und so endet alles mit einem Trauergottesdienst. Die Geschichte über Freiheitsberaubung und Folter und Mord, wie sie der Prophet schließlich angeordnet hat, beruht auf Tatsachen, ist sozusagen ein Stück realer Weltpolitik. Ein großer Teil des Films spielt in Dänemark bei Ryes Familie, die alles andere als reich ist, aber Geld selbständig zusammenbekommen muss, denn der Staat verhandelt nicht mit Terroristen.

Wirklichkeit und Authentizität bestimmen auch Oplevs neuen Film ROSE (2022). Erzählt wird eine Geschichte aus der eigenen Familie, die sich 1997 im Großen und Ganzen so mit den beiden Schwestern und dem Schwager zugetragen hat. Es ist kurz nach Prinzessin Dianas Tod, der im Film eine zentrale Roll spielt. Schwester und Schwager holen Rose also aus dem freiwillig gewählten psychiatrischen Rückzug heraus, um sie in einer Bustour unter Menschen zu bringen und sie noch einmal Paris sehen zu lassen, wo sie in ihren jungen Jahren noch glücklich und normal gewesen war, bis der Zusammenbruch kam und die Diagnose „Schizophrenie“ folgte.

Filme über psychische Krankheiten sind oft sehr konstruiert, deprimierend, voller Betroffenheit und haben eine einfache Moral. Gerne läuft es darauf hinaus, dass psychisch Angeschlagene die besseren und klügeren Menschen sind, wobei die scheinbare Normalität als verdreht dargestellt wird. Dass man für die Darstellung solcher Figuren schnell mal einen Oscar bekommt, ist noch ein anderes Thema. Oplev wollte sich von dieser filmischen Tradition abheben. Er wollte keinen Schizophrenie-Film drehen. Er verzichtet auf eine übermäßig künstliche Konstruktion einer Story. Hier passiert nichts Wildes, Außergewöhnliches. Dramatisierungen, kleine Änderungen, damit es denn auch ein Publikumsfilm wird, fallen gar nicht auf, lassen sich von den Fakten nicht unterscheiden. Denn alles hätte durchaus so passieren können, wie es gezeigt wird. ROSE ist aber kein klinisch kalter Film, sondern ein angenehm stiller Film mit dezentem Humor und leisen Gefühlen. Intimität, Detailfreude, das emotional wirksame Verflochtensein von Humor und Drama machen den Film sehens- und liebenswert. Oplev hat bewusst einen kleinen Film gedreht.

ROSE ist in doppelter Hinsicht ein Familienfilm: einmal die private Familie und dann die große, die dänische – das „folkehjem“, „das Volksheim“. Die Paris-Fahrt dient auch der Annäherung der Familie. Roses Verhalten überschreitet immer wieder die Grenze des Erträglichen, aber sie nehmen alles mit Stärke und Ruhe hin und wissen, wie sie sich verhalten sollen. Ein kleiner Junge der Bustour kann am besten mit ihr kommunizieren. Dann ist da die übervorsorgliche Mutter, die gegen diese Reise ist und aus der dänischen Ferne alles wissen will und bei dem kleinsten Problem sofort nach Paris kommen will. So werden die kleinen, aber nicht übermäßig großen Differenzen in der Familie deutlich.

Und trotz einer Fahrt ins Ausland, deren Sprache fast keiner der Beteiligten beherrscht, ist es ein durch und durch dänischer Film. Oplev schreckt nicht vor dem absolut wahren Klischee zurück, dass die Reisegemeinschaft im Bus sitzt, Bier trinkt und gemeinsam Lieder singt. Da ist ein schönes, kleines Detail: Der Busfahrer leert auch seine Bierdose, während er am Steuer sitzt. Rose kann Ängste wecken bei unsicheren Menschen, so wie bei dem Physik- und Chemielehrer, der schon leicht erstarrt ist in seiner verkrampften Sicherheit. Dabei guckt der Film, mit Ironie und ohne zu denunzieren, unter die Oberfläche dieses Kontrollmenschen, der zu den Menschen gehört, die mit Rose umgehen, als wäre sie ansteckend und die eigene schwer erarbeitete, hart aufrecht gehaltene Fassade könnte einstürzen.

In dem Familienfilm steckt dann als Kern des Ganzen ein Liebesfilm, eine Reise in die Vergangenheit, als Roses Herausfallen aus der Welt begann. Schuld war eine Selbstdefinition über eine Beziehung, bei der sie die Gefühle des anderen falsch einschätzte. Nach dem Ende der Beziehung zu einem älteren und verheirateten Franzosen, spürte sie die Leere in sich: „Ich wusste nicht mehr, wer ich war“. Das führte zu einem Leben in Vergangenheit: die Erinnerung an ein Gemäldemotiv, die altmodischen Musikkassetten mit der Musik der Vergangenheit, sein Abschiedsbrief, den sie wie ein Heiligtum mit sich trägt, weil Fragen offen geblieben sind. Ihre Krankheit wirkt somit wie eine Flucht, eine Abwehr gegen eine bedrohende Wirklichkeit ohne Fixpunkte. Am Ende legt sie den Brief auf den mit Blumensträußen übersäten Gedenkort von Diana über dem Tunnel, in dem sie von Journalisten zu Tode gehetzt wurde.

Die ausgezeichnete, populäre und sehr vertraute Besetzung tut das ihre, damit man sich als Zuschauer gewissermaßen zu Hause fühlt. Rose wird in einer Mischung aus geistiger Abwesenheit und energischem Durchsetzungsvermögen gespielt von Sofie Gråbøl, die man im Kino zuletzt in Lars von Triers THE HOUSE THAT JACK BUILT (2018) sehen konnte. Lena Maria Christensen ist die solide Schwester und den perfekt gestylten und in fast jeder Situation den Überblick behaltenden Schwager verkörpert Anders W. Berthelsen. Ein kleines Juwel in dem Film ist Søren Malling als heimlich verschreckter Lehrer, den die Nähe von Unordnung verstört und durcheinander bringt. Da brodelt viel unter der angespannten Oberfläche. Malling macht das allein durch seine Präsenz, seine unbeweglich Körperhaltung und seinen gequälten Gesichtsausdruck spürbar.

Sonntag, 27. März 2022

Zaida Bergroths TOVE – Echte Kunst und wahre Liebe

 

(Nordische Filmtage Lübeck 2021)

Nach ASTRID (2018) hat jetzt mit TOVE (2020) auch die finnland-schwedische Malerin, Zeichnerin und Autorin Tove Jansson (1914-2001), eine weitere große kindertaugliche Künstlerin des Nordens, ihr Biopic bekommen. Und wie in ASTRID werden vorwiegend die Jahre geschildert, in denen ihr später so weltberühmtes Werk Form und Gestalt annimmt. Aber Jansson hat in ihrer Comic-Reihe über die Welt der Mumins, der Mumintrolle, die zunächst international in Zeitungen veröffentlicht wurde, anders als Lindgren, eine ganz und gar fantastische, individuelle Welt, ein eigenes Universum entworfen. Zudem handelt es sich bei den Mumins eigentlich um ein von ihr selbst zunächst gar nicht ernst genommenes Nebenprodukt, um wertlose Kritzeleien. Nicht bedeutungsvoll genug, erschienen sie der ernsthaften Künstlerin zunächst.

TOVE beginnt mit den letzten Zweite-Weltkriegs-Bomben der Deutschen auf Helsinki, und in der Nachkriegszeit endlich kann eine ganze jüngere Bohème-Generation sich ausleben, was auf ganz verschiedene Weise geschieht. Wenn übrigens etwas Besonderes passiert, wenn Tove sich von etwas freimachen will, dann tanzt sie wild. Tanz dient der privaten Therapie, sogar dem Erkenntnisgewinn. Als könnte sie so das Unangenehme abschütteln, Mut bekommen, Dinge zu tun, die nicht Teil ihrer bürgerlichen Herkunft und Erziehung sind.

Dazu gibt es eine schöne, sehr präzise Sequenz. Am Anfang nähert sich die Kamera langsam vom Flur aus dem Inneren eines Wohnzimmers. Auf dem Sofa liegt ein vermutlich ziemlich angetrunkener Mann, und eine Frau – man ahnt natürlich, dass das Tove Jansson ist – hüpft wild tanzend durch den Raum. Gerade hat sie als Lesbe festgestellt, dass sie vielleicht doch besser keine konventionelle Ehe eingehen sollte. Das sie lesbisch ist, wird aber sonst nicht extra thematisiert, diskutiert oder problematisiert. Sie ist es einfach.

Dann lässt sie sich auf Vinia ein, eine aus reichem Hause stammende Theaterregisseurin. Voller Liebe und Romantik hält Tove in unerfahrener Naivität diese Beziehung für etwas Dauerhaftes. Bei einem Großauftrag für Vivias Theater bekommt sie hinterher allerdings bloß eine kalte, finanzielle Entschädigung. Vivia kennt keine Beständigkeit, lebt das Motto der „freien Seelen“ bis zur Dekadenz aus, was allerdings nicht frei wirkt, sondern eher wie eine Zwangshandlung. Tove braucht lange, um sich emotional aus dieser zerrissenen Beziehung zu befreien. Sie gehört zwar zur Kunstwelt, ist aber auch konservativ und romantisch, spielt nicht angestrengt den Anti-Bourgeois.

Auch in der Kunst steckt sie fest, denn ihr Weg ist lange Zeit festgezimmert durch die von ihr verinnerlichten Ansprüche des Vaters, denen sie genügen will und wofür sie wie besessen arbeitet. Sie kommt aus einer Künstlerfamilie, wo das ungeschriebene Gesetz lautet, dass man nicht nur Künstler werden muss, sondern auch, dass man echte Kunst machen muss. Ihr Vater ist Viktor Jansson, damals landesweit bekannter, staatlich subventionierter Bildhauer. Und wenn Tove an Entwürfen zu dem arbeitet, wofür sie heute vor allem berühmt ist, dann macht ihr Vater sie darauf aufmerksam, dass das eben keine Kunst ist. Der Vater erscheint oft als unbewegliche, einen dunklen Schatten werfende Figur, wobei Streit bei den Janssons so normal ist, dass die Mutter sich einmal sarkastisch erkundigt, ob die beiden vor oder nach dem Essen streiten wollen. Tove kümmert sich, trotz Anerkennung und echtem Interesse von Freunden, nicht um die Entwicklung ihrer Zeichnungen, um die Mumintrolle, da es sie von der Arbeit abhält, mit der sie sich aber kaum über Wasser halten kann. Beim Tod des Vaters entdeckt sie aber im Nachlass Spuren der Bewunderung. Er hat Zeitungsartikel über sie gesammelt.

Der Nachspann liefert dem Zuschauer die echte Tove. Ein bunter, körniger Heimfilm zeigt, wie sie durch die Dünen tanzt. Und irgendwie wirkt sie hier noch unermüdlicher, als es im Film gezeigt wird. Aber vielleicht ist sie auch nur endlich glücklich, weil sie Ordnung in der Liebe und der Kunst hat. Da müssen keine Probleme mehr weggetanzt werden. Im Ganzen ist es aber ein eher konventioneller Biopic. An sich ist der Film mitunter etwas behäbig, und er tut sich keinen Gefallen damit, alles, was auch nur ansatzweise emotional ist, mit Klaviergeklimper zu unterlegen. Tove ist ja eine junge Frau voller tiefer Gefühle, Verstand, Energie. Der Film hingegen ist manchmal etwas zu gebremst, aber grundsätzlich zuverlässig solide. Alma Pöysti, die Darstellerin der Tove, sticht dabei auf bemerkenswerte Weise heraus.

© Salzgeber
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