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Mittwoch, 23. Juni 2021

Gustaf Molanders ORDET – Im Anfang war DAS WORT

Im Jahre 1932 schrieb der dänische Pastor und Schriftsteller Kaj Munk sein bekanntestes Theaterstück „Ordet“ („Das Wort“) Dieses religiöse Drama war nicht zuletzt auch eine Reaktion auf selbst Erlebtes, auf die Hilflosigkeit, die er als Pfarrer verspürt hatte in einer Familie mit einem gerade gestorbenen kleinen Kind. „Das Wort“ ist dabei nicht zuletzt ein Thesendrama, in dem verschiedene Gegensätze aufeinander prallen: Wunderglaube und Wissenschaft, Moderne und Hergebrachtes, vermeintlich hell-aufgeklärtes und dunkel-archaisches Christentum, Glaube und Glaubenszweifel. Und Munk rührt hier indirekt an eine der entscheidenden Charakteristika im Übrigen aller drei sogenannten monotheistischen Weltreligionen, in denen man glauben soll, was jemand vor einem langen Zeitraum gesehen und getan hat, während Entsprechendes heute von den meisten nicht nur nicht mehr für möglich gehalten wird, sondern wo es auch oft gar nicht erwünscht ist. Es ist bezeichnend, dass gerade der Pastor des Stückes das stattfindende Wunder der Wiederbelebung einer Toten am liebsten verhindern möchte und allein den Versuch „blasphemisch“ findet.

Zentrum der Handlung des Stückes ist ein Bauernhaus in Westjütland, geführt von einem autoritären Bauern, der patriarchalisch über seine drei Söhne herrscht. Der Älteste ist verheiratet mit der gerade zum dritten Mal schwangeren Inger, die souverän alles zusammenhält und auch den launischen Schwiegervater mit nicht zu besiegender heiterer Sanftheit zu nehmen weiß. Der mittlere Sohn läuft seit einem schweren Schock nach dem Tod seiner Verlobten als eingebildeter Jesus durch die Räume. Der Jüngste hat sich in die Tochter des Dorfschneiders verliebt, doch Glaubensgegensätze stehen dem entgegen. Dann entbindet Inger, doch das Baby ist tot. Kurz darauf stirbt auch sie ganz unerwartet. Derweil hat Johannes seinen Verstand wiedergefunden und mit Hilfe von eine der beiden kleinen Töchter Ingers, die keine Glaubenszweifel hat, bringt er Inger am Tag ihrer Beerdigung – sie liegt schon im noch geöffneten Sarg – zurück zu den Lebenden.

Zur internationalen Bekanntheit des Stoffes, über Skandinavien hinaus, sorgt natürlich bis heute vor allem Carl Theodor Dreyers gleichnamige dänische Verfilmung ORDET (1955). Doch schon 1943 verfilmte Gustaf Molander das Stück in Schweden und verlegte den Handlungsort nach Südschweden. Dass Molanders großartiger Film außerhalb Schwedens derart unbekannt ist, hängt vermutlich auch mit seiner Entstehung während des Zweiten Weltkrieges zusammen. Die beiden Filme haben nicht viel gemeinsam. Während Molander auch die Welt um das Bauernhaus herum sieht und mit Realismus und Poesie filmt, intensiviert Dreyer gerade durch sein Prinzip der Abstraktion und der Konzentration das Intime des Stückes. Ein Vergleich der beiden Filme würde allenfalls die grundsätzlichen und augenfälligen Unterschiede zwischen diesen beiden Regisseuren zu Tage fördern.

Die Handlung von Molanders Adaption ist durch und durch eingebettet in die umliegende Natur, die Felder, das Meer. Nach ersten Bildern der Protagonisten beginnt es mit Bildern vom Himmel, einer Möwe und einem Sprecher aus dem Off, darunter die Anfangssätze aus dem Johannes-Evangelium: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Dazu schlagen starke Wellen auf die felsige Küste, so wie das Schicksal, das den alten Bauern für zumindest kurze Zeit zu einer leidenden und an Gott verzweifelnden Figur machen wird, dem alle seine stolzen und hochtrabenden Hoffnungen entgleiten. Man sieht in ORDET die Arbeit der Brüder in der Scheune, im Garten, auf dem Feld, am Wasser, beim Tang einsammeln. Molanders Film hat nichts Theaterhaftes mehr. Er hat das Stück nicht einfach nur aufgelockert, sondern benutzt den Stoff zwar durchaus geistig treu, aber dann auch wieder dramaturgisch sehr frei.

Gustaf Molander gehört zu den ausgezeichneten Regisseuren, die außerhalb Schwedens leider nicht genug bekannt sind. Er begann als Regisseur in der Stummfilmzeit, wurde dann eine Art Nachfolger Victor Sjöströms, als der große Stummfilmmeister in die USA ging. Mit INGMARSARVET (1925) und TILL ÖSTERLAND (1926) besorgte Molander die Adaption des Auswandererromans „Jerusalem“ (1901/02) von Selma Lagerlöf. Den Stellenwert, den Molander dann in den 1930ern und 1940ern hatte, kann man an einem Zitat von Ingmar Bergman ablesen, der in seiner Autobiografie selbstironisch erzählt, wie er vor dem Beginn seiner ersten Filmregie laut am Telefon seiner damaligen Frau gegenüber tönte: „Jetzt können sich Sjöberg, Molander und Dreyer begraben lassen.“ Molander verfilmte übrigens auch zwei Drehbücher von Bergman. Molanders Kino ist ein zurückhaltendes, bescheidenes, sehr subtiles Kino. Seine Filmografie besteht sowohl aus geistreichen, sehr witzigen Komödien, aber auch Melodramen mit einer romantischen Spiritualität. In den Kriegsjahren kam ein gewisses Pathos dazu, das aber dank Molanders Inszenierung gedämpft bleibt. In den Widerstandsfilmen RID I NATT! (1942) und DET BRINNER EN ELD (1943), über das Licht der Freiheit, sowie in dem Antisemitismus-Film DEN OSYNLIGA MUREN (1944) geht es auch um die Überwindung von Passivität, Pessimismus und Düsternis. Man kann auch DAS WORT (1943) ein bisschen in diesem Zusammenhang sehen. Nur dass es hier direkt um Religion und Glaube geht. Es ist gleichzeitig eine indirekte Reaktion auf die gerade zu dieser Zeit aufkommende intellektuelle, literarische Generation der modernen, materialistischen Fyrtiotalister, der Generation der 40er Jahre, bei denen ausweglose Desillusion, Ohnmacht, Zeitangst vorherrschten.

Die theologischen Unterschiede zwischen dem Bauern und dem Schneider werden in ORDET auf das Wesentliche reduziert. Die beiden verfeindeten Männer charakterisieren sich selbst eher durch ihr Verhalten. Besonders eine Szene mit dem Sohn und der Tochter betont das seelenlos Destruktive der beiden Patriarchen. Das junge Liebespaar macht eine idyllische Ruderbootstour. Es ist eine stille Szenerie im ganz ruhigen Wasser. Etwas niedliche Verlegenheit liegt zwischen den beiden. Zarte, junge Liebe und Unschuld werden hier nicht mit Worten beschworen, sondern sind wunderbar atmosphärisch in die Handlung eingewoben. Doch diese Bootsfahrt wird von den beiden alten Irren unterbrochen. Sie stehen am Ufer, zwischen dem Schilf, und benehmen sich wie zwei kleine Kinder im Sandkasten, die sich anschreien und anspucken; Das hat fast etwas Komödiantisches, psychopathisch Rasendes. Der Glaube an den einen Weg zu Gott macht aus Menschen sehr schnell Tiere. Molander schafft es nicht, sie wirklich ernst zu nehmen, bleibt mit der Kamera etwas auf Distanz.

Der theoretische Unterschied zwischen dem Pietismus des Schneiders und Borgs Richtung interessiert hier nur insofern, als dass zur Schau gestellter Besitz des wohlhabenden Bauern auf eine asketische Haltung trifft. Der von Victor Sjöström gespielte Borg steht als Hauptfigur natürlich im Mittelpunkt. „Bondestolt“ wird Borg genannt, „lächerlich stolz“, hochmütig, als wäre sein weltlicher Besitz ein Beweis für die Gnade Gottes, die er so auf die Weise gleichzeitig triumphierend vorweist. Da ist auch der Stolz auf einen Pastor in der Familie, obwohl er Johannes gezwungen hat. Das ist der Gipfel seiner Träume, aber alles sehr weltliche Träume. Verbunden ist dies mit einer leichten und schnellen Verachtung für die anderen. Das zunächst seltsam wirkende Overacting von Hauptdarsteller Victor Sjöström macht in der Beziehung absolut Sinn. Seine Darstellung schwankt zwischen selbstverliebter patriarchalischer Tyrannei und gedankenlosem kindischem Benehmen. Inger bekommt aus ihm heraus, dass er eigentlich nie geliebt hat, bloß bis zur Ehe viel hinter Mädchen her war. Das hält er immer noch für Liebe. Eigentlich sind beide alten Männer sehr verlassene Seelen. Wenn gegen Ende der Schneider seine Tochter zu Borgs Familie bringt und alleine weggeht, dann ist das ein echter bewegender Augenblick. Molander zeigt ihn in einer Totalen von hinten, wie er mitleiderregend einsam weggeht.

Was Molander in der ersten Hälfte von ORDET erzählt, ist die Vorgeschichte von Johannes, die bei Munk in Gesprächen erzählt wird. In den ganzen ersten 45 Minuten stehen die Glaubenszweifel von Johannes im Mittelpunkt und wie er indirekt den Tod seiner Verlobten verschuldet und sich durch den Schock in den Jesus-Wahnsinn flüchtet. Gespielt wird Johannes von Rune Lindström, der auch das Drehbuch mit einem starken Gewicht auf Schuld und Gottverlassenheit verfasst hat. Aber Jesus-Johannes ist gleichzeitig sehr klar im Kopf, während er seine Zeit damit verbringt, kleine Kreuze zu tischlern. Es gibt Begegnungen von ihm mit dem Pastor und dem Arzt des Ortes, wobei er beide abblitzen lässt. Das Reden des Arztes nennt er treffend „das Blöken eines Esels“.

Der Druck des Glauben-Müssens wird bei der ersten Predigt von Johannes in seiner Heimatgemeinde verdeutlicht. Da gibt es eine große Totale aus der Ecke heraus. Er steht erhöht in seiner Kanzel, vor ihm die vollbesetzte Kirche, die in dieser Einstellung noch größer wirkt, als sie eigentlich ist. Es hat etwas Furchteinflößendes. Man spürt die Erwartung und den Druck, die auf ihm lasten. Wie soll er diesen riesig scheinenden, plötzlich unendlich weit, tief und unübersichtlich dunkel wirkenden, voll besetzten Kirchenraum mit Sinn füllen? Dann geht sein Blick nach unten auf den Küster an seinen Krücken. Während er also über Wunder predigt, schleppt sich ein Lahmer durch das Gebäude. Das bekommt er offensichtlich nicht in seinem Kopf zusammen. Nach Ende der Predigt verlässt er fluchtartig die Kirche.

Nach überstandener Fehlgeburt will man am Krankenbett Ingers Geburtstag feiern. Mit Natur in Form von Zweigen und Blüten geschmückt, wollen alle fröhlich zu ihr die Treppe hinaufsteigen. Da meldet der Ehemann, dass sie soeben gestorben sei. Johannes hatte schon den Tod durchs Zimmer schleichen sehen. Molander arbeitet nun mit vorsichtiger Bildsymbolik mit einigen extremen Schatteneffekten, wenn Johannes mit seiner Nichte dasitzt und über Tod und Auferstehung spricht. Später geht er zum Gebet in die Kirche, wo er Jesus um die Kraft des Wunders bittet. Ein gazeartiger, unbeweglicher Schleier hängt in der Luft, als hätte er einen sakralen Raum betreten, in dem die Zeit nicht existiert, als wäre er nicht von dieser materiellen Welt.

Die Wiederauferstehung geschieht hinter verschlossener Tür, getrennt von den beim Beerdigungskaffee Sitzenden. Molander inszeniert diese ohne Überhöhung und Feierlichkeit, mit ganz einfacher Selbstverständlichkeit, so wie das Kind es sich vermutlich vorgestellt hat. Schließlich beten alle das Vaterunser. Zuletzt kniet auch der ungläubige Pastor sich hin. Das Ende spielt sich wieder im Freien ab. Die Kamera gleitet wie am Anfang ganz nah über Heidepflanzen hinweg, wo die einzelne, kleine, einsame Blüte ist. Ein Wunder sei wie eine Blume in der Heide. Daneben steht wie am Anfang Inger und winkt den durchs Wasser am Strand reitenden Männern zu. So schließt sich der visuelle und inhaltliche Kreis des Films.

Donnerstag, 10. Juni 2021

Trine Dyrholm in ERNA I KRIG – Ein schlechter Witz

 

Hier also dann doch noch ein paar Zeilen zu dem neuen dänischen Film ERNA I KRIG (2020, dt.: Erna im Krieg) von Regisseur Henrik Ruben Genz, einem Erste-Weltkriegs-Film, der immerhin mit einer bemerkenswerten dänischen Weltschauspielerbesetzung aufwarten kann: Trine Dyrholm, Ulrich Thomsen und Anders W. Berthelsen. Aber irgendwie hatte ich schon beim Trailer des Films Böses geahnt. Man hofft ja immer das Beste und vergisst all zu oft, dass Hoffnung die Mutter allen Unglücks und Unwohlseins ist.

Im Prinzip geht es in ERNA I KRIG darum, dass Trine Dyrholm eine gluckenhafte Übermutter spielt, die ihren vermeintlich etwas zurückgebliebenen Sohn vor dem Ersten Weltkrieg retten will. Denn wozu soll er als Däne auf Seiten der Deutschen kämpfen? Wir sind ja in Nordschleswig und die Grenze verlief ja damals ein Stück weiter nördlich. Erst will sie ihn bloß vom Militär befreien lassen, aber als das nicht geht, ergeben sich zufällig Umstände, die es ihr erlauben, die Uniform eines desertierten Soldaten anzulegen und dessen Rolle zu spielen. Und in dem erwähnten Trailer konnte man schon sehen, dass da eine Frau in Soldatenklamotten herumläuft, womit sie natürlich in Wirklichkeit nicht lange durchgekommen wäre.

ERNA I KRIG ist ja die Adaption eines Romans von Erling Jepsen, den ich aber nicht gelesen habe. Und da kann man sich jetzt fragen, ob dieses schlechte Versteckspiel eine nicht ins Filmische übertragbare literarische Konstruktion ist oder ob es sich mit Trine Dyrholm einfach um die falsche Besetzung handelt. Aber ihre Figur bemüht sich auch nicht sonderlich, hat beispielsweise unter ihrem Soldatenhelm noch eine ordentliche nackenlange Haarpracht, und da kann man sich jetzt wundern, warum sie sich das nicht einfach radikal kurz absäbelt. Am Ende bekommt man die Antwort: Sie muss ja noch ein bisschen sexy und weiblich aussehen für die kurze Romanze mit dem verheirateten dänischen Schmied.

Warum ich auf diesem Detail jetzt so lange herumhacke? Warum ich gegen meine Gewohnheit den, von Hitchcock so verachteten, Wahrscheinlichkeitskrämer spiele? Denn schließlich: Kümmert sich irgendjemand darum ob Tony Curtis und Jack Lemmon in MANCHE MÖGEN'S HEISS(1959) wirklich wie Musikerweiber aussehen? Oder Cary Crant als bemerkenswerte Vogelscheuche in ICH WAR EINE MÄNNLICHE KRIEGSBRAUT (1949)? Oder Heinz Rühmann oder Peter Alexander oder gar der dänische Komiker Dirch Passer in ihren jeweiligen Versionen von CHARLEYS TANTE (1956, 1963, 1959). Die Antwort ist ganz einfach: Das sind Komödien, überdrehte Farcen, niemanden kümmert es in diesen Fällen. Macht man das aber falsch in einem ernst gemeinten Drama, dann wird das Drama zum Witz. Bloß zu einem leider schlechten Witz.

Und so wirkt der Film einfach verwurstet. Dazu kommt der Stil, uninspiriert-korrekt, ganz nach dem Vorbild unpersönlicher Fernsehregie. Wie eine auf Spielfilmlänge gepresste TV-Seifenopern-Wurst. Denn das Ganze ist ja auch noch ungeheuer überladen. Die Mutter begleitet ja nicht nur ihren Sohn. Ihr kommandierender Offizier will sie unter Zwang heiraten. Und dann gibt es noch diese Liebesgeschichte mit dem verheirateten Schmied. Sie tötet einen dicken Soldaten, der sie vergewaltigen will. Und dann wird es ganz tiefsinnig, denn Töten hat Tradition in ihrer Familie. Ja, und schwanger vom Schmied wird sie auch noch. Und die Dänenthematik darf nicht fehlen. Immer wieder wird die dänische Flagge herausgeholt wie eine Reliquie. Und der Polizist, der freiwillig für die Deutschen kämpft, landet natürlich am Ende auf dem Friedhof. Da wo er wohl als verdiente Strafe hingehört. Und am Schluss gibt es an der Front noch eine Art Best-of aller Erster-Weltkriegs-Film-Klichees. Und bei all dem berührt einen nichts. Schon sehr früh im Film ist es einem völlig egal, was mit den Figuren passiert. Befreit, erschossen, eingesperrt. Was soll's?

Kein großer Schauspieler dieser oder anderer Welten ist eben dazu imstande, einen verwursteten Film zu entwursten. Und daher kann man auch gar nicht sagen, ob die Schauspieler gut sind. Sie spielen eben so vor sich hin. Jeder in seinem Figurenvakuum. Der Drehbuchautor, der Regisseur wären ja dafür, was Ganzes daraus zu machen. Dyrholms allerletzter Blick geht übrigens in die Kamera. Ein eher peinlicher Kunstgriff, der zwar überhaupt keinen Sinn macht, aber er ist vermutlich an jeden Kritiker einzeln gerichtet: Schreib jetzt nichts Falsches, sonst mach ich dich platt! Mir egal. Und wenn sie kommt? Dann laufe ich!