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Donnerstag, 17. Oktober 2019

Grímur Hákonarsons THE COUNTY – Amokfahrt mit Milch


Bekannt wurde der isländische Regisseur Grímur Hákonarson mit dem Film STURE BÖCKE (2015), der von zwei zerstrittenen Brüdern, beide Schafzüchter, handelt, die sich wegen harter Regierungsmaßnahmen gegen Scrapie notgedrungen und sehr widerwillig zusammentun müssen. Da geht es um die Lebens- und Existenzgrundlage von Bauern, angereichert mit einem schrägen Humor, den man ja oft in hochnordischen Filmen findet und der sie meist sehr unterhaltsam macht, der aber manchmal auch eine gewisse emotionale Distanz zum Geschehen erzeugt. Jetzt geht es in Hákonarsons neuem Film THE COUNTY (2019) wieder um Leben oder Pleite auf dem Land. Aber diesmal hat sein Film eine direkte emotionale Zugänglichkeit. Der Humor ist luftiger, gedämpfter, echter und lenkt nicht von der Geschichte ab. Es ist eine Art politisches Melodrama, das das sehr Intime mit dem großen Politischen verbindet und dabei, wohlgemerkt unabhängig von der weiten Landschaft, etwas Episches an sich hat.

Dabei ist gerade die Bodenständigkeit die Grundlage für die Schönheit des Films. Und die ist notwendig, da die Story den Kontakt zur Wirklichkeit nicht verlieren durfte, weil es sich um die Fiktionalisierung konkreter politisch-wirtschaftlicher Schwierigkeiten und Fakten handelt. Die geschilderten Probleme rund um eine Genossenschaft beruhen im Prinzip auf Berichten, die Hákonarson bei Recherchen ohne Kamera erzählt bekam. Allerdings wollte niemand damit an die Öffentlichkeit, was insofern ein Glück ist, als dass ein Doku-Film es wegen des Randthemas dann vermutlich nicht über ein paar Festivals hinaus gebracht hätte. Aber so wurde eine kleine große Geschichte daraus, wobei der Regisseur den Widerstand und eine Lösung hinzuerfand, die es als Idee zwar auch in der Realität gab, die sich aber nicht durchgesetzt hat. Zumindest fiktiv gibt es hier also eine Rückgewinnung der individuellen Freiheit.

Zu den rein fiktionalen Teilen des Films gehört vermutlich die Milch-Szene, die eine der lustigsten, absurdesten, wütendsten und anarchistischsten Szenen des Films ist. Es ist kein Amoklauf mit Knarre, aber einer mit Traktor und Milchanhänger, während die Milch als Waffe das Gebäude des Feindes bespritzt, an den Fenstern hinunterläuft, aber auch die parkenden Autos erwischt, die gesamte Straße einfärbt und nur langsam in der Kanalisation verschwindet. Erst einmal ist alles weiß, rein, unschuldig gewaschen. Aber die Polizei findet das nicht lustig und verhaftet die Täterin erst einmal. Daher ist es äußerst passend, dass der Film auf Isländisch MJÓLK heißt, also „Milch“. Da ist jemand so wütend, dass die Milch lieber bedeutungsvoll weggeschmissen, als an den Falschen verkauft werden soll. Die Szene ist zwar auch lustig, wirkt aber nicht skurril oder schräg. Tatsächlich hat das Ganze sogar ein gewisses tragisches Pathos, weil man sich leicht vorstellen kann, dass es der Bäuerin im Herzen weh tut, die Milch zu vergeuden. Gar nicht so sehr vielleicht wegen des Einnahmeverlustes, sondern weil sie schließlich das Ergebnis der täglichen aufopfernden Arbeit von morgens früh bis abends spät ist.

Eigentlich erzählt THE COUNTY eine sehr spezielle Geschichte in einer speziellen isländischen Region, was aber ganz allgemeine Dimensionen annimmt. Im Kern geht es darum, dass eine Genossenschaft sich zu einem seine Mitglieder ausbeutenden Betrieb entwickelt hat, wo er ihnen doch eigentlich in einer schwierigen kapitalistischen Konkurrenzsituation helfen sollte. Ganz im Gegenteil hält man durch Druck ein Monopol aufrecht und verkauft beispielsweise Dünger zu weit überhöhten Preisen und straft diejenigen ab, die woanders billiger kaufen. Und wenn nach und nach verschuldete Höfe aufgekauft werden, kann so direkt ein landwirtschaftlicher Konzern entstehen. Aber niemand wagt es, sich zu wehren. Die Verwandlung eines klassisch linken Projekts in puren Kapitalismus, auf dem Weg zum Bonzentum. Man kennt das in Deutschland ja von den Gewerkschaften und der Neuen Heimat. Oder, um ein Beispiel aus einem anderen, dem künstlerischen Bereich zu nehmen: „Die Avantgarde von heute ist die Tapete von morgen.“ So, oder so ähnlich, hat David Bowie es einmal ausgedrückt.

Verdeutlicht werden die Missstände anhand eines Bauernehepaars, deren zwei Kinder schon aus dem Haus sind. Er liebt den Familienhof. Sie hingegen hätte keine Probleme damit, alles aufzugeben und in die Stadt zu ziehen. Als er, höchst wahrscheinlich, durch Selbstmord stirbt, kommt heraus, dass er für die Genossenschaftsleitung gespitzelt hat, da er wegen der Verschuldung des Hofes erpressbar war. Die Frau beginnt nach der Trauerphase eine Politik des Widerstands, aber erst einmal ohne festes Ziel, ohne Methode. Es ist ein sehr intuitives Aufbegehren, sehr individuell und zunächst ohne genau zu benennendes Motiv, auch wenn die Geschichte um ihren von der Genossenschaftsleitung erpressten Mann der Auslöser ist. Teils ist es Trauerbewältigung, teils Rache, teils Wut, die zunächst nicht weiß, wie sie sich durch Taten oder Worte artikulieren soll. Teils ist es ein moralischer Kampf, einer aus Liebe, im Namen des Mannes, und auch für ihn, um den Namen vielleicht reinzuwaschen, als sollte dessen Leben nicht einfach mit Verrat und Selbstmord enden. In ihrem Kampf hat sie einen Vorteil, den auch ihr Mann in seiner Angst, den verschuldeten Hof entweder verlassen oder weiterhin spitzeln zu müssen, nicht hatte. Sie hat nichts mehr zu verlieren. Da kämpft man immer freier. Es ist ein Kampf, der eigentlich nicht ihrer ist. Aber irgendwann zieht sie die anderen Bauern mit, die mit konkreten Ideen alles in langfristige Bahnen lenken. Hauptdarstellerin Arndís Hrönn Egilsdóttir schafft es perfekt, dieser ganzen so emotionalen wie politischen Entwicklung eine glaubwürdige Einheit zu geben.

Einmal kommen wütende Rowdys besoffen auf ihre Terrasse und sie greift zu einem Gewehr, um sie notfalls zu vertreiben oder sich zu schützen. Das ist dann wie in einem Western, wo ein einzelner kleiner Farmer gegen den großen Grundbesitzer kämpft, von dem alle abhängig sind und der die Revolvermänner hat, und dem vielleicht auch der einzige Laden in der kleinen nahe gelegenen Stadt gehört. Und die anderen Farmer haben Angst um ihre Existenz, was sie lähmt. Am Ende reitet die Heldin zwar nicht, aber fährt mit ihrem Auto in den frühlingshaften Horizont hinein. Wenn auch nicht in die weite Prärie, sondern vermutlich Richtung Großstadt.

Hákonarson pflegt einen subtilen Stil der Andeutung mit kleinen scheinbar unbedeutenden Dingen, die gleichzeitig so viel sagen. In einer schönen Szene gegen Anfang des Films, abends im Schlafzimmer, spricht das Ehepaar über eine Kuh. Sie nennt ihren Namen, er die geschäftsmäßige Nummer. Da versteht man zwei Zugangsweisen zur Arbeit auf einem Bauernhof. Und es reicht ein kleines Ankuscheln von ihm an sie, die gerade etwas am Laptop schreibt, um die Nähe der beiden zu verdeutlichen, die nicht vieler Worte bedarf. Dann wieder wird eine Spannung, eine Unsicherheit wie in einem Thriller geschaffen. Der Ehemann sitzt mit Freunden und Kollegen zusammen und sie reden über einen Anstreicher, der keine Aufträge mehr bekommt, weil er seine Farbe billiger woanders gekauft hat. Da hält er inne darin, das Glas an den Mund zu setzen und hört erstarrt zu. Wenn ein Mann, der gerne trinkt, plötzlich nicht trinkt, ist es etwas Wichtiges. Man denkt, er wäre empört. Dann sieht man ihn mit jemandem diskutieren, und er sagt, dass er nicht mehr will. Genaueres erfährt man nicht. Da ahnt man noch nicht, wie tief verstrickt er in die monopolistische Geschäftspolitik der Genossenschaft ist.

Ihr innerer Zustand nach seinem Tod wird am deutlichsten in einer einzigen Einstellung: Wie sie in ihrer Trauer da im kalten Wind steht, während ein paar einsame Schneeflocken durch die Luft wirbeln. Sie ist eingesperrt, erstarrt in viele widerstreitende Gefühle, was sich ja am Anfang in ihrem richtungslosen Widerstand zeigt. Später wird sie in einem entscheidenden Moment fähig sein, ihr Innerstes bloß zu legen und gerade dadurch die Abstimmung um die Gründung einer neuen Vereinigung der Milchbauern in positive Bahnen lenken: Nach ihrer zweiten Rede, in der sie von der Spitzelei erzählt, sitzt sie dann da, das Gesicht in Großaufnahme, der Hintergrund unscharf, völlig abgeschaltet und erschöpft. Zufällig habe ich gerade einen Film gesehen, der eine ähnliche Dramaturgie nutzt. Nachdem ihn der feindlich gesinnte Richter um seine einzige wichtige Zeugin gebracht hat, hält Paul Newman als Anwalt in Sidney Lumets THE VERDICT – DIE WAHRHEIT UND NICHTS ALS DIE WAHRHEIT (1982) ein allgemeines, religiös angehauchtes Schlussplädoyer über den Wunsch nach und die Liebe zur Gerechtigkeit. Und gewinnt gegen alle rein juristischen Erwartungen den Prozess.

Die größte und mächtigste Waffe der Frau in THE COUNTY ist aber das Wort. Bisher schrieb sie kleine Erinnerungen, Geschichten auf ihrem Facebook-Konto. Bis sie dann anfängt, echte Geschichten, also ihre eigene aktuelle Geschichte, aufzuschreiben. Und das schlägt treffender ein als jede Kugel. Ein bisschen wie ein Selbstporträt des Regisseurs, der zwischen Doku und Fiktion hin- und herwandert. Sein neuer Doku-Film KLEIN MOSKAU (IS/SK/CZ 2018) über ein paar Jahrzehnte Kommunismus in der isländischen Provinz ist jetzt für die Nordischen Filmtage 2019 angekündigt. Und vielleicht kann man über THE COUNTY gar nicht schreiben, ohne mit Benedikt Erlingsson GEGEN DEN STROM (Kona fer í stríð, Woman at War, 2018) den politischen Frau-im-Widerstand-Film des letzten Jahres zu erwähnen, der übrigens 2018 auch auf dem Filmfest Hamburg und, ich glaube, ebenfalls den Nordischen Filmtagen zu sehen war. Der erzählt eine große Geschichte um eine Staatsfeindin Nr.1 im Kampf gegen internationale Großinvestoren mit Hilfe von Öko-Terrorismus gegen Dinge, angereichert mit ein wenig skurril-musikalischer Verfremdung durch eine kleine, das Geschehen begleitende Band. Nicht, dass ich den Film nicht gerne geguckt hätte, Hauptdarstellerin Halldóra Geirharðsdóttir war bemerkenswert, aber irgendwie bediente der Film mir im Endeffekt zu sehr die Revolutions-Romantik einer bürgerlichen Elite-Linken. Die Gefahr besteht bei THE COUNTRY mit seiner absolut authentischen, genau beobachtenden Einbettung in das bäuerliche Alltagsleben nicht. Übrigens mein Lieblingsfilm der drei von mir gesehenen nordischen Filme dieses Jahres auf dem Filmfest Hamburg.


© Netop Films (Quelle: Filmfest Hamburg)

Sonntag, 13. Oktober 2019

Trine Dyrholm in HERZDAME – Die Königin

Der Ausgangspunkt von May el-Thoukys dänischem Film HERZDAME (2019), der auf dem Filmfest Hamburg 2019 zu sehen war, ist erst einmal eine einfache Idee, ein mehr oder weniger provokanter, kalkulierter Tabubruch. Man drehe eine Geschichte von, juristisch gesehen, Familienmissbrauch zwischen einer noch nicht volljährigen und einer erheblich älteren Person, wo es ja meist um Mann und Mädchen geht, geschlechtermäßig um. Darüber hinaus mache man aus der erwachsenen Hauptfigur eine Anwältin, die vorwiegend Mädchen bei Vergewaltigung und Kindesmissbrauch berät und sie darin bestärkt, trotz aller Schwierigkeiten, Lügen und Anfeindungen ihre Sache juristisch bis zum Ende durchzufechten. Schon da entpuppt sie sich als etwas sehr bestimmt und resolut auftretende Person, aber es geschieht ja im Namen des Guten. Immerhin werden ihr sogar aus Dankbarkeit Blumen an die Haustür gebracht. Doch auf einmal dreht sich ihre unversöhnliche und unerbittliche Logik, die sie gegen die Angeklagten, gegen die meist männlichen Prozessgegner anwendet, gegen sie selbst. Und, wenig überraschend vielleicht, fühlt sie sich so unschuldig wie diese. „Wolltest du's nicht?“, sagt sie hinterher zu ihrem 17-jährigem Stiefsohn, ein allerdings noch sehr kindliches, unreifes, im Grunde böse verspieltes Problemkind. 

Zu dieser Story füge man einige richtig explizite Sexszenen mit Trine Dyrholm, einer von Dänemarks beliebtesten und auch international bekanntesten Schauspielerinnen. Man muss zugeben, dass sich das, so gelesen, zunächst einmal fürchterlich schablonenhaft anhört, wie ein skandalträchtiger sozialrealistischer Konzeptfilm. Man könnte das Schlimmste befürchten. Muss man aber nicht. Dass der Film sehr geglückt ist, liegt an der ruhigen, natürlichen, unaufgeregten Konsequenz, an der mitunter lyrischen, fast metaphysischen Herangehensweise, mit der die Geschichte von der ersten bis zur knapp hundertzwanzigsten Minute erzählt wird. Und so wird, zumindest beim ersten Sehen, durch die Inszenierung, durch die uneitle, perfekte Hauptdarstellerin eine echte Verstörung beim Zuschauer möglich gemacht.

Alles kreist um eine moderne, wohl situierte Vorzeigefamilie, eingefahren in der bürgerlichen, berufstätigen Routine. Da sind ein schwedischer Arzt, eine dänische Anwältin, zwei gemeinsame Töchter, Zwillinge. Der Mann war schon einmal verheiratet, hat aus der Ehe einen in Stockholm lebenden 17-jährigen Sohn, der gerade einige Probleme hat und deshalb zu dem Vater zieht. Der Junge hat gewisse unzufriedene Rebellions-Tendenzen, täuscht einmal sogar einen Einbruch in das Haus vor und lässt einige Wertsachen mitgehen. Ansonsten führt er ein alterstypisches Leben, nimmt ein Mädchen mit in sein Zimmer, sodass sehr laute Musik und laute Bettgeräusche durchs Haus dröhnen. Das hinterlässt erste Spuren bei der Anwältin, wie man zu ahnen beginnt. Nun ist das mit Sympathiefiguren und Identifikation in der Fiktion eine sehr individuelle Sache, aber da der Junge so ein nerviger Satansbraten sein kann, sie so unangenehm dominant und rechthaberisch ist und der Ehemann so fürchterlich blass und langweilig daherkommt, ist es möglich, sich von Anfang an das Ganze mit Distanz anzuschauen.

Die physische Annäherung zwischen Junge und Stiefmutter beginnt mit einer sehr ambivalenten Szene, wo sie zunächst genervt sein unordentliches Zimmer aufräumt, und ihn dann äußerst herausfordernd behandelt, als er halbnackt, nur mit Handtuch um die Hüfte, von der Dusche direkt in den Raum stolpert. Da ahnt man zum ersten Mal, dass in dieser Frau einiges an Abgründen schlummert. Sie behandelt ihn in einer Mischung aus kühler Dominanz und verständnisvoller Freundlichkeit, bleibt dabei etwas undurchschaubar, was ihn offensichtlich durcheinander bringt. Und nach einigen kleineren Annäherungen folgt eine raue, explizite Sexszene. Sie kommt in sein Zimmer und, um es abstrakt zu sagen, spielt solange an ihm herum, bis er nicht mehr anders kann. Und wer schon immer sehen wollte, wie eine Filmfigur von Trine Dyrholm des Mannes bestes Stück in den Mund nimmt, der darf den Film nicht verpassen. Die Initiative geht ganz klar von ihr aus. Sie benutzt ihn. Und er lässt sich gerne benutzen. Aber die Kamera konzentriert sich ganz auf sie, verschont weitestgehend den Körper des Jungen. Danach arbeitet der Film vorwiegend mit kurzen Szenen, Andeutungen, um zu verdeutlichen, dass sie es einige Zeit lang treiben, wo und wann immer sie können. Bei all dem ist in HERZDAME diese eine längere Sexszene absolut unentbehrlich, denn man muss sehen, was sie machen. Es würde vom Verlauf des Geschehens ablenken, wenn es da Zweideutigkeit gäbe. Der Zuschauer muss es mit eigenen Augen gesehen haben. Das Interessante ist, dass das Unerhörte, das wirklich Skandalöse, was nach diese kurzen, aber heftigen Affäre passiert, die Sexszenen völlig in den Schatten stellt, sodass diese am Ende gar nicht mehr im Zentrum des Bewusstseins des Zuschauers liegen.

Alles spielt sich zunächst ab vor der großen weiten Kulisse eines frühlingshaften, sommerlichen Waldes, der durch die großen Glasfassaden des Wohnhauses nie aus dem Blickfeld gerät. Nur der Rasen des Gartens liegt dazwischen. Nachbarn kann man hier nicht sehen. Ein insularer Wohnort, wo man die Kinder bei schönem Wetter unbesorgt und ohne weiter Aufsicht an die frische Luft hinausjagen kann. Der Junge verändert die Familie. So wie die beiden Mädchen lässt die Anwältin sich von seiner verspielten Unschuld anstecken. Es kommt beim Baden in einem See zu einer Wasserschlacht zwischen ihr und dem Jungen. Die Kamera ist mitten dazwischen, die Wasserspritzer in der Luft funkeln im Sonnenlicht bei diesem kindlichen Spiel. Dann schwimmt sie allein im Wasser, inmitten gelb glitzernden Wassers, als wäre sie das Zentrum einer Sonne. Dieser die Umwelt vergessende, selbstverliebte Charakterzug zeigt sich auch bei bei einem Abendessen mit Freunden draußen auf der Terrasse. Bei extremer Lautstärke tanzt sie allein zu „Tainted Love“ von Soft Cell. Und wenn die Sonnenstrahlen das Laub im Wald zum Leuchten bringen und man das Paar in einer weiten Totale relativ klein sieht, dann mag das eine gewisse „Reinheit“ haben, die die Regisseurin wollte, aber es hat auch eine gewisse düstere, unheimliche Romantik. Hinter der Naturlyrik schlummern dunkle Triebe. Das alles hat nur eine scheinbare Unschuld. „Er ist ein Kind!“, schimpft eine Freundin, die einzige unfreiwillige Mitwisserin, die deshalb den Kontakt zur Familie abbricht.

Schon die erste Szene des Films deutete an, dass es so sommerlich harmonisch nicht endet. Da sieht man die Anwältin mit Hund durch den Wald stiefeln, seltsam militärartig gekleidet in dicken Stiefeln und langem dunklen Mantel. Dann beginnt die fast bis zum Ende dauernde Rückblende. Die lange, zu beiden Seiten bewachsene Einfahrt zum Haus herunter wird zu einer Fahrt in die Hölle, die ja in Wirklichkeit kalt, dunkel und farblos ist. Und wenn sie dann um ihr bürgerliches Überleben kämpft, greift sie zu jedem Mittel, dass ihr ihre Anwaltstätigkeit beigebracht hat. Und mit jeder kleinen Handlung, mit der sie den Jungen auf Distanz hält, zerstört sie sich auch selbst. Sie denkt, sie rettet ihr Leben, ruiniert es aber geistig. Und dem zuzusehen, ist das eigentlich Verstörende an HERZDAME. Von der ehebrecherischen Liebeaffäre kann jeder denken, wie er gerade moralisch gebaut ist. Da könnte man einfach sagen, dass so was halt passiert, dass man nicht urteilen mag. Aber wozu hier eine gute Bürgerin fähig ist, um ihre sichere, gewohnte bürgerliche Existenz zu retten, ähnelt einem vollständig amoralischen, selbstzerstörerischen Amoklauf, bei dem sich ihr Mann wider besseres Wissen mit hinunterreißen lässt.

Und selbst wenn die vierköpfige Familie am Ende noch zusammen ist, ist es doch nur noch eine Fassade, diesem so eminent wichtigen bourgeoisen Bauwerk. Eine untote Fassade, die ab sofort von einem unausgesprochenen, aber immer präsenten Familiengeist heimgesucht werden wird. Und da wird die Analyse des Bürgertums direkt metaphysisch anhand der Präsentation einer Frau mit guten Taten nach außen und kalter Seele nach innen. Da streift HERZDAME den Horrorfilm, zumindest in seiner Wirkung, denn am Schluss, im Auto, sitzen vorne ein weibliches Monster und ihr stiller Gehilfe, der weiche Ehemann, der sich wissentlich und willentlich von der Frau manipulieren lässt.

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zum Filmtitel HERZDAME. Im Film wird den beiden kleinen Mädchen regelmäßig aus „Alice im Wunderland“ vorgelesen. Da gibt es ja die Königin, die Herzdame, auf Dänisch „Hjerter Dame“. Dennoch heißt der Film einfach „Dronningen“, also „Die Königin“, was etwas allgemeiner, mehrdeutiger, abstrakter ist und allgemein auf eine unantastbare, allmächtig regierende Frau hindeutet. Man denkt vielleicht auch an Ameisenkönigin, Bienenkönigin, um die sich ein ganzer Staat drehen. Gut, vielleicht übersehe ich ein entscheidendes Detail, dann lasse ich mich gerne korrigieren, aber warum man sich mit dem englischen – QUEEN OF HEARTS – und dem deutschen Titel – HERZDAME – so auf diese eine Figur aus der Lewis-Carroll-Geschichte festlegt, ist seltsam. Es sei denn, man wollte ganz einfach Verwechslungen mit dem Film THE QUEEN (2006) von Stephen Frears vermeiden. Kann ja auch sein.


© Danish Film Institute / Rolf Konow (Quelle: Filmfest Hamburg)

Freitag, 11. Oktober 2019

THE RAGGED LIFE OF JUICE LESKINEN – Finnischer Hillbilly-Folkrock


Im Original heißt der Film bloß JUICE (2018), was etwas über den Stellenwert des Musikers, Sängers, Liederschreibers Juice Leskinen (1950-2006) in Finnland sagt. Im Film wird sein Erfolg zwar durch vermehrt auftauchende Fans mit Autogrammwünschen, größere Säle und einen deutlich gestiegenen gutbürgerlichen Lebensstandard anschaulich gemacht, aber die Verankerung in der Volksseele verdeutlicht die kleine Tochter, als sie ihm erzählt, dass sie ein Lied von ihm in der Schule gesungen hätten. Wegen einer natürlichen Sprachgrenze ist Leskinen außerhalb Finnlands wohl vorwiegend Rockmusikexperten bekannt, was vielleicht ein bisschen anders wäre, wenn die erste Regiearbeit von Aki Kaurismäki – in Zusammenarbeit mit Bruder Mika – etwas verbreiteter wäre. Die beiden stellten 1981 die Doku SAIMAA-ILMIÖ, auf Englisch THE SAIMAA GESTURE, her und als natürliches Zentrum der präsentierten Rockmusiker Anfang der 80er erscheint Juice Leskinen. Aber JUICE hat ansonsten nichts mit dem Kino von Kaurismäki gemeinsam, es ist im Ganzen ein klassisches, flott erzähltes und äußerst unterhaltsames Biopic von Regisseur Teppo Airaksinen, sehr direkt, immer dicht an den Figuren. Und im Mittelpunkt steht der bemerkenswert überzeugende Hauptdarsteller Riku Nieminen.

THE RAGGED LIFE OF JUICE LESKINEN ist der internationale Titel, der jetzt auch auf dem Filmfest Hamburg 2019 benutzt wurde. Und wenn ich meiner Stichwortsuche auf IMDb trauen kann, ist es sogar das erste Mal, dass der Ausdruck „ragged life“ für einen Filmtitel benutzt wurde. Es klingt auch seltsam, etwas altertümlich, aber dann auch wieder ganz passend für jemanden vom Lande, der seine Musik im Film einmal ironisch „Hillbilly“ nennt. Es erinnert ganz nebenbei an den mehrfach gecoverten Country-Song „Ragged but Right“. Das Lied handelt von jemandem, der ein wildes Leben geführt hat, aber durch Frau und Kind gezähmt wird. Nur dass es in JUICE kein Familien-Happy-End gibt. Er selbst bezeichnet sich als „guten Vater, aber schlechten Familienmenschen“. Und auf die Beziehung zu seiner Frau konzentriert sich der Film und vernachlässigt dabei die Musik für meinen Geschmack ein wenig. Aber so haben es im Grunde schon James Mangolds Johnny-Cash-Film I WALK THE LINE (2005) und auch Ole Bornedals JOHN MOGENSEN (2017) gemacht, die allesamt Ehen inmitten einer Musikerkrise aus Alkohol, Drogen oder Pillen zeigen. Eine Art Privatisierung der Legende, die sich ja gerne selbstständig macht und vor allem die kreative Selbstzerstörung mythologisiert. Aber da sind fast immer Menschen, die es privat und ganz konkret ertragen müssen. Was übrigens nichts daran ändert, dass JUICE auch ungeheuer komisch ist.

Aber erst einmal beginnt JUICE in der Kindheit. Da ist der etwas verrückte Womanizer-Papa, die nicht ohne Grund wütende Mama, die Juice sein Leben lang erzählen wird, dass er nicht wie der früh verstorbene Vater werden soll, was bei unsicheren Menschen ja oft genau das Gegenteil bewirkt. Der Kindheit gehören also einige wenige, prägende Szenen. Dann ein Zeitsprung in seine Studentenzeit, wo er inmitten einer stark politisierten Atmosphäre ganz persönliche Texte schreibt und in eine Band hineinrutscht, in der er singen muss und tatsächlich Erfolg hat. Juice kann provokant, obszön sein, ist aber ansonsten unpolitisch. Über den Bandnahmen „Coitus int“ – für „interruptus“ – ist er trotzdem zunächst nicht begeistert. Juice ist ganz in seinem eigenen Ego verankert, und kann äußerst irrlichternd sein, aber eigentlich ist er ein braver, netter junger Mann, der mit seiner neuen Freundin auf einen schön altmodischen Tango-Abend geht, was diese noch nie erlebt hat.

Was an der Beziehung im Film interessant ist, ist, dass die Frau es ist, die ihn direkt in die Karriere hineinschiebt. Er will eigentlich nicht, ist schüchtern und trinkt prinzipiell keinen Alkohol. Dann lebt er sich in der Rolle des singenden, saufenden Genies aus, bekommt ein seltsam aufgeblasenes Ich und benimmt sich arrogant, was ihn aber nicht daran hindert, weiter brillante Lieder zu schreiben. Viel später im Leben beklagt sie sich, dass sie nicht selbst weiter Gedichte geschrieben habe. Inzwischen ist Juice ein emotionales Pulverfass ohne Boden geworden, weshalb sie ihn am Ende auch aufgibt. Sie wirft ihm vor, nur noch dazusitzen und die eigene Seele zu erforschen, was tatsächlich eine Spirale nach unten sein kann. Man kann sich seine düstere Seele künstlerisch gut selbst basteln und vertiefen, wenn man nur kräftig genug bohrt. Das ist jedenfalls das, was der Film zeigt, und man muss es so hinnehmen. Vermutlich gibt es auch andere Interpretationen so mancher Geschehnisse. Aber zumindest ist der Film so gemacht, dass nicht nur das Dekor, sondern auch das Menschliche sehr authentisch wirkt.

Die schönste Szene aber kommt am Schluss. Hier bekommt die Figur Juice Leskinen eine echte Ambivalenz. Das ist erschreckend, faszinierend und amüsant gleichzeitig. Nachdem seine Beziehung endgültig zerbrochen ist und er einen Krankenhausaufenthalt wegen Leberschaden erst einmal überlebt hat, sitzt er im Tourbus mit Musikerkollegen. Einer fragt ihn, ob er ein Bier wolle. Er sagt nein, als wäre er vernünftig geworden. Eine längere Pause. Dann sagt er, er wolle Wein. Dunkle Schatten von den Bäumen an der Straße fallen auf sein Gesicht. Zum ersten Mal taucht hinter all dem pointierten, anekdotischen Erzählen eine wirklich düstere Seite in ihm auf. Als hätte er sich endgültig entschieden und befreit zu sich selbst gefunden. Vorher hat man zwar seiner Arschloch-Persönlichkeit beim Ausleben zusehen können, aber hier ist plötzlich noch etwas anderes. Eine fatalistische Notwendigkeit der stillen Selbstzerstörung. Diese letzte Szene wirkt wie ein offenes Ende, obwohl es der Anfang vom Ende ist, auch wenn er erst 2006 an „akutem Nierenversagen, Leberzirrhose und Diabetes“ gestorben ist, wie Wikipedia weiß. Und es ist wie die Anfangsszene für einen anderen, innerlicheren Film, der sich von diesem handlungsreichen Werk gänzlich unterscheidet. Und während des Nachspanns ruht die Kamera auf der vorbeiziehenden weiten und einsamen Landschaft Finnlands. Todessehnsüchtig ist Leskinens Lied, das dazu zu hören ist.


© The Finnish Film Foundation (Quelle: Filmfest Hamburg)