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Dienstag, 20. April 2021

THE PAINTER AND THE THIEF – Eine Seelenverwandtschaft

Dem norwegischen Dokumentarfilm THE PAINTER AND THE THIEF (2020) von Benjamin Ree liegt zunächst einmal eine interessante und ziemlich kuriose Anekdote zugrunde. Es ist der Stoff für einen Kurzfilm, der ursprünglich auch aus diesem kleinen Stückchen seltsame Wirklichkeit werden sollte: Die Malerin Barbara Kysilkowa, eine Tschechin aus Prag, wohnt mit ihrem Lebensgefährten in Oslo. Als Bilder von ihr in einer Galerie ausgestellt werden, werden zwei davon nachts von zwei Männern gestohlen. Der Diebstahl ist auf Video festgehalten. Die Diebe werden auch zügig gefunden, aber die beiden harten Junkies können sich angeblich nicht erinnern, was sie mit den Bildern gemacht haben. In Gang gesetzt wird das Weitere dadurch, dass die Malerin selbst Detektivin spielt, weil sie gerade an diesen beiden Bildern sehr gehangen hat. Sie geht also zum Prozess des einen, Karl-Bertil Nordland heißt er, und spricht ihn an. Er sagt, er könne sich an nichts erinnern, verspricht aber, sich als eine Art Wiedergutmachung malen zu lasen.

Die Kamera ist ab einem bestimmten Punkt direkt dabei. Was zeitlich davor liegt, ist selbst aufgezeichnet oder nachgestellt. Man sieht die beiden also beim dritten Treffen in einem Café. Sie zeichnet. Er hat sich, offensichtlich immer noch etwas misstrauisch, in die Ecke gekauert, ist mitgenommen, abgemagert. Jetzt ist ja auch noch eine Kamera dabei. Das bis jetzt Gezeigte wäre also der Kurzfilm, aber dann entwickelt sich daraus ein spannendes, intimes Langzeitporträt, das seinen Reiz aus den Gegensätzen und ganz besonders aus den nach und nach hervortretenden Gemeinsamkeiten der beiden gewinnt. So geht das Anekdotische über ins Allgemeine. Denn die beiden freunden sich wirklich an. Sein Motiv für den Diebstahl ist ja auch im Grunde ein Kompliment: Er ist oft an einem der für die Malerin typischen morbid-schönen Bilder, die im Schaufenster der Galerie zu sehen waren, vorbeigegangen, und es hat ihm so sehr gefallen. Er zeigt ihr seine Wohnung, die Bilder an der Wand, die Sammlung von Totenköpfen. Sie fragt ihn aus über sein Leben und hilft ihm, wenn sie kann. Und vor allem hört sie nicht auf ihn zu malen.

Gerade durch sich anschließende Einzelporträts der beiden gelingt dem Film eine spannende Spiegelung seiner beiden Hauptpersonen. Und da werden die Rollen zwar nicht direkt vertauscht, aber geraten doch durcheinander. Denn man erfährt, dass Karl-Bertil, der eine sehr einsame Kindheit hatte, in vielerlei Hinsicht sehr klarsichtig ist. Vielleicht sogar klarsichtiger als seine Malerfreundin. Und er sagt etwas Intelligentes: Dass sie sich immer nur für seine kaputte Seite interessiert. Nicht für all das, was gut war in seinem Wesen und Leben, seine normale, erfolgreiche Seite. Vor allem, dass er ein begabter Handwerker ist und als eine der wenigen in Norwegen weiß, wie man alte Holzhäuser baut. Aber man erlebt auch seine Selbstzerstörung, die ihn fast umbringt, einen erneuten Gefängnisaufenthalt, der aber gut für ihn ist, und seinen Neuanfang als Krankenpfleger.

Barbara hingegen bleibt stur bei ihrer malerischen Besessenheit und ihrem Prinzip der düsteren Bilder, die sich Ärzte sicher nicht in die Praxis und geschmacksfreie Kapitalisten weder in ihre Büros noch ihre deprimierenden Feng-Shui-Wohnungen hängen. Man sieht Barbara bei einem Anruf, als sie Mietzahlungsprobleme hat und den Tränen mehr als nah ist und wo ihr geantwortet wird: „Wir sind eine kommerzielle Galerie.“ Und ihr perfekter norwegischer Partner schleift sie, die den skandinavischen Feminismus ablehnt, zwecks Optimierung zur Paartherapie, weil sie ein „kleines Kind“ in sich hätte, das auf der Straße spielt. Ihre Antwort: „Aber ich habe in Prag auf der Straße gespielt.“ Das kleine Kind will bloß malen. Und „Mal-Junkie“ nennt sie sich. Und wenn sie diesen Ausdruck benutzt, dann schließt sich der Kreis auf nicht unironische Weise.

Dass THE PAINTER AND THIEF ein schöner Film geworden ist, liegt auch daran, dass er immer an einer gewissen gesunden Oberfläche bleibt und nicht psychologisch-theoretisch zu tief bohrt und auch die Betroffenheit des Sozialrealismus meidet. Dass Barbara in Berlin eine Beziehung gehabt hatte, in der sie sich misshandeln ließ, nur weil sie in diesem Leben den Freiraum des Malens hatte, woraus sie ihr norwegischer Lebensgefährte praktisch lebensrettend herausbrachte, würde manch anderen Regisseur in solche falschen, weil unergiebigen Richtungen gehen lassen. Hier reichen Andeutungen.

Freitag, 16. April 2021

Arūnas Žebriūnas' LA JEUNE FILLE A L'ECHO + LA BELLE – Geheimnisvolle Kinderwelt

 

Ein tanzendes kleines, blondes Mädchen im Sonnenlicht. Strahlend von innen und außen. Dazu ein gefälliger Easy-Listening-Sound. Tanzmusik in ihrem Kopf und als Film-Soundtrack. Ein Kind in seiner eigenen Welt und gleichzeitig in Kommunikation mit der Umgebung. Solch eine sich wiederholende Szene ist die deutlich sichtbare Verbindung zwischen zwei wunderschönen litauischen Filmen aus der Sowjetzeit des Regisseurs Arūnas Žebriūnas (1931-2013). Für nur einen kleinen Moment getanzt wird in dem am Schwarzen Meer spielenden LA JEUNE FILLE A L'ECHO / PASKUTINĖ ATOSTOGŲ DIENA / DAS MÄDCHEN UND DAS ECHO (1964). In dem in der Großstadt angesiedelten LA BELLE / GRAŽUOLĖ  (1969, dt.: Die Schöne) hingegen steht der Tanz im Zentrum der Handlung, bildet sogar den Rahmen. Der französische Vertrieb Ed Distribution hat diese zwei ästhetisch und atmosphärisch zusammenhängenden Schwarzweißfilme auf zwei DVDs herausgebracht. Da die Dialoge einfach und nicht kompliziert sind, reichen Schulfranzösischkenntnisse völlig aus, um den französischen Untertiteln folgen zu können.

 

LA JEUNE FILLE A L'ECHO

LA JEUNE FILLE A L'ECHO beginnt mit einem Ritual zum Beginn des neuen Tages. Ein Fischerhaus in den Klippen am Schwarzen Meer. Ein kleines Mädchen mit einem kurzen, dünnen, flatternden Kleid und in Unterhose, ein Jagdhorn in der Hand, läuft zum Strand hinaus. Die Sonne taucht gerade am Horizont auf. Im Vordergrund einer Totalen steht das Mädchen im Wasser und begrüßt, ins Jagdhorn blasend, den Sonnenaufgang. Sie befindet sich als fast ganz dunkle Silhouette im Gegenlicht, mal im Profil, dann wieder der Sonne zugewandt, vor der Weite des glitzernden Wassers. Im Hintergrund sieht man die noch nicht ganz aufgegangene Sonne. Das Mädchen läuft auf dem steinigen Untergrund im Wasser herum, und einmal sieht es tatsächlich so aus, als ginge sie auf dem Wasser. Ihrem Herumstreunen folgt die bewegliche Kamera den Film hindurch in oft langen Einstellungen.

Halb am Strand, halb im Wasser hängen alte, lecke Fischerboote. Eine langsame Kamerafahrt an ihnen entlang zeigt, sie heißen alle „Delfin“: „Sie gehören dem Meer“, erklärt der Großvater. Sie spiegeln das unverändert gleiche Leben des alten Fischers wieder. Das jetzige Boot ist sein fünfzehntes. Er fährt hinaus. Aber Vika, so heißt das von Lina Braknytė verkörperte Mädchen, muss zurückbleiben und läuft weiter herum. Es ist ihr allerletzter Ferientag, und im Laufe des Tages soll der Vater kommen, um sie nach Hause mitzunehmen. Die Poesie aus Licht, Wasser, Leben entsteht ganz von allein. Es ist nicht so sehr der Film, der sie ständig sucht, sondern sie wird vor allem erzeugt durch Vika, durch die visuelle, innerliche Teilhabe an ihrer Welt, als käme die Natur durch Vika ganz zu sich selbst.

Aber der Strand gehört ihr nicht allein. Störendes Element ist eine Gruppe von Jungen mit internen Machtspielchen. Es geht um nichts anderes als die Frage, wer Chef ist. Und wer möchte das nicht sein, murmelt später einer von ihnen. Strand, Wasser, Felsen verlieren ihre verzauberte Qualität, der Vika sich ja voll intuitiven Verständnisses überlässt. Lustlos trotten sie nur so am Strand entlang, weil sie wohl nichts anderes zu tun haben und ihnen nichts anderes einfällt. Der Strand ist ein Ort der Machtdemonstration. Sie repräsentieren die moderne Welt mit ihrem lauten Transistorradio und ihrer populären Musik, als wollten sie schon die Möglichkeit der Poesie mit Gewalt bewusst zerstören. Ein Junge, der am Strand entlang wandert, möchte zur Gruppe dazugehören, wird aber erst mal außen vor gelassen und bloß angerempelt. Das wirkt wie ein versteckter Kommentar zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv, subtil verpackt in einen Kinderfilm.

Aber Vika freundet sich mit diesem Jungen an, und sie vertraut ihm. Höhepunkt des Films ist ihr Geheimnis: das Echo. Die beiden klettern hinein in das Innere der hohen Klippen mit Vergangenheit. Der Tod hat hier seine unsichtbaren Spuren hinterlassen: Auf einem uneinnehmbaren spitzen Felsen, dem „Teufelsfinger“, saß im Krieg ein Scharfschütze. Vika lässt laut rufend das erste von mehreren Echos erklingen. Jede Ecke, jede Echovariation hier kennt sie. Schwenks, Zooms, harte Schnitte, Totalen, fast streichelnde Detailaufnahmen der steinernen Oberfläche machen die mächtige, von Abgründen durchzogene, faszinierende Steinlandschaft lebendig. Es ist ein Tempel, in dem Schweigen angesagt ist. Die Kamera arbeitet Felsgesichter heraus, als hätten heidnische Kräfte sie eingemeißelt. Oder als seien es zu Stein gewordene Riesen aus alter Zeit. Inga weckt sie, bringt die Steine zum Singen. Dazu sind auf der Tonspur auch elektronische Soundeffekte. Dann bläst sie das Jagdhorn, Orgelmusik setzt ein, und alles verbindet sich zu einer großen visuellen und musikalischen, allumfassenden Natursymphonie, zu der auch das Rauschen des Meeres gehört. Die Kamera möchte dabei am liebsten überall gleichzeitig sein, alles einfangen, geht von der Tiefe bis hinauf in den Himmel.

Doch der Junge verrät Vika später, wirkt mit an ihrer Demütigung durch die Jungengruppe, als sie wieder einmal nackt badet und ihre Kleidung wie gewohnt sträflich sorglos im Sand liegen lässt. Nun will dieser Junge seine Position in der Gruppe festigen und das Geheimnis verraten. Doch so ganz anders ist diese zweite Klippenszene. Die Gruppe Jungen klettert hoch. Nebel steigt aus der Tiefe empor. Und egal, wie laut oder von wo einer ruft, es kommt kein Echo. Die Riesen schweigen. Nur das Nichts hängt zwischen den auf einmal ausdruckslos und feindlich wirkenden Felsen. Wie eine Reaktion auf eine Entweihung, wie eine Strafe für den Verrat, den der Junge beging. Das habe einen natürlichen Grund, vermutet später Vikas Vater, etwa eine Änderung der Windrichtung. Aber weder er noch der Junge schaffen es, ein Echo zu erzeugen. Der Einzige, der außer Vika ein Echo hervorbringt, ist ein Schäferhund, der sich darüber, äußerst verschreckt, allerdings nicht begeistern kann.

Was Vika besonders auszeichnet, ist ein schneller Wechsel der Stimmungen. Jede Stimmung, jedes Gefühl ist tief und ehrlich. Großaufnahmen des Gesichts verraten es. Aber gleichzeitig ist bei ihr auch alles sehr flüchtig, was sie so anpassungsfähig macht. Nach der Demütigung mit der Kleidung und dem Verrat des Jungen, worauf sie tief gekränkt und verlassen weint, amüsiert sie sich schnell in einer defekten Telefonzelle, ruft fröhlich lachend irgendwelche Nummern an. So ist es auch bei der Begrüßung mit dem Vater. Erst herrscht überschwängliche Freude mit der erwähnten kurzen Tanzszene. Dann urplötzlich das Umschwenken in Traurigkeit wegen des Abschieds vom Meer. Bei der Abfahrt dann wieder zeigt sie Freude und totale Gleichgültigkeit gegenüber dem, was sie hinter sich lässt. Sie hat eine neue Armbanduhr, und die Sonnenuhr, die sie um einen länglichen Stein in den Sand gezogen hatte, wurde von ihr sorgfältig ausgewischt. Anderes Leben, andere Zeit, auch andere, städtisch gepflegte Kleidung. Ein Schwertransporter nimmt Vater und Tochter mit. Weitere LKWs brettern hinterher. In einer weiten Totalen sieht man sie auf der Straße davonfahren. Die Bushaltestelle auf dem Hügel wirkt wie ein moderner Tempel für die moderne Religion der Motorisierung: gerade, symmetrisch, funktional durchgeplant, ganz anders als die wilden, schiefen, einzig und allein von Wind und Wasser natürlich bearbeiteten Felsen.

 

LA BELLE

Ein Blick nach oben in die Bäume, zwischen deren Zweigen die Sonne funkelt. Tanzmusik erklingt. Die kleine Inga tanzt im Kreis ihrer Freunde in einem trockenen Flussbett bei einer Parkbrücke und bekommt Komplimente zugeworfen, die klingen wie Prinzessinnen-Beschreibungen aus einem Märchen. Das ist das Spiel „Die Schöne“, auch wenn der Zuschauer diese Bezeichnung erst später erfährt. Spiel und Wirklichkeit sind eins für Inga. Sie spielt Schönsein und findet sich schön. Dabei tanzt sie, etwas selbstverliebt, strahlend, zufrieden, zwischen Natürlichkeit und Imitation erwachsener Gesten. Sie öffnet die Haare, und sie wendet den Blick in die Kamera. Und die Kamera bewegt sich mit ihr im Kreis. Diese Kreisbewegung deutet auch die Bewegung des Films selbst an, der hinterher an diesen Ausgangspunkt zurückkehren wird, aber in leicht abgewandelter Form.

Die kleine Hauptdarstellerin heißt Inga Mickytė und LA BELLE ist ihr zweiter Film. Danach folgte nur noch ein weiterer. Aber ihr Debüt gab sie in einem ebenfalls von Arūnas Žebriūnas inszenierten TV-Kurzfilm. MIRTIS IR VYŠNIOS MEDIS (1968, dt.: Der Tod und der Kirschbaum) spielt vermutlich an der Ostsee und bildet so eine ganz konkrete filmische Brücke vom Film am Meer zum Film in der Stadt. Es geht um drei Kinder – ein Junge und zwei Mädchen – an einem Strand mit Weltkriegsbunkern, was zum Krieg spielen inspiriert, und wobei vor allem das tot spielen perfektioniert wird. Nur das kleinere, etwas jüngere Mädchen, das außen vor bleibt, kann mit all dem nichts anfangen: Sie will für den Jungen ein imaginäres Essen machen. In ihrem Kopf sieht sie im Meer einen Kirschbaum stehen, darunter zwei Stühle und einen Tisch. Doch die Flut löst alles auf, während die anderen beiden Krieg und Tod spielen. Die destruktiven Kräfte siegen über die kreativen.

In LA BELLE guckt Inga nach der munteren Einleitung etwas deprimiert aus dem Fenster. Das Leuchten im Gesicht ist fort. Sie bewohnt mit ihrer Mutter eine kleine Hinterhofwohnung. Inga liest „Die drei Musketiere“ und der Tod einer Figur im Buch und ein wirklicher Tod im Leben machen für sie keinen Unterschied. Die Mutter steht vor dem Spiegel, kämmt sich, strafft in routinierter, erwachsener Faltenprüfung Hals und Gesicht. Inga guckt genau zu, macht es erst geistig, dann praktisch nach. Den zweifelnden Blick der Mutter hat sie nicht wahrgenommen. Für Inga ist alles Ausdruck von Schönheit: „Später werde ich auch einmal so schön wie du.“ Die Mutter, die offensichtlich anders über sich denkt und schon das Altwerden nahen sieht, guckt sie skeptisch an, sagt aber nichts. Gleichzeitig fragt sie im Laufe des Films ihre Tochter wiederholt: „Hat jemand nach mir gefragt?“ Aber auf wen wartet sie? Auf den Vater der Tochter, auf den imaginären Märchenprinzen?

Der Treffpunkt der Nachbarschaftskinder ist draußen in einem Hinterhof mit metallenen Treppen, ein kleines labyrinthisches Reich für sie ganz allein. Es gibt auch viele Straßenaufnahmen, bei denen die Kinder völlig ungestört herumlaufen können. Die klassischen Institutionen wie Eltern und Schule fehlen völlig, abgesehen von Ingas Mutter. Die Kinder hier sind sich selbst genug. Der Film nimmt zwar die Perspektive der Kinder, vor allem Ingas, ein, lässt ihnen aber ihr Geheimnis. Man weiß nicht immer, was sie denken. Man versteht manchmal nicht, was sie da machen, und so tut sich da ein geheimnisvoller Realismus auf. Und die Kinderwelt kann grausam sein, wenn das neue Kind, dem Hunde lieber als Menschen sind, in der Nachbarschaft über das Spiel „Die Schöne“ lacht und gegenüber Inga später noch grausamere Dinge über ihr Aussehen sagt, die sie zum Weinen bringen.

Und Inga entspricht ja auch nicht dem angesagten Schönheitsideal, das durch ein Foto vom Typ Brigitte Bardots verkörpert wird. Es folgt ein kurzer Augenblick unendlicher Traurigkeit, der absoluten Weltverlassenheit. Sie weint bitterlich. Aber ein anderer Junge vom Hof, offensichtlich etwas verliebt, hilft ihr bei der Suche nach der Schönheit: Er bringt sie zu einem schicken Friseursalon. In dieser Szene ist keine Ironie im Spiel. Alles ist ganz authentisch realistisch und innerlich, wird nur durch die Einstellungswechsel und das Gesicht Inga Mickytės wiedergegeben: Neugier, unsicheres Beobachten der Umgebung mit ihren seltsamen Geräten, und dann der abschließende Schrecken, als die nächste Kundennummer aufleuchtet und es ungeduldig surrt, als würde da drinnen ein großes Ungeheuer sie hineinrufen und nicht mehr hinauslassen. Sie rennt davon. Inga flieht vor dieser furchteinflößenden Geisterbahn der Schönheit, wo Menschen sich zwecks ästhetischer Optimierung freiwillig undurchschaubaren Foltergeräten unterwerfen.

Warten, Hoffen, das hat hier wenig Positives. Es wird mit dem Tod und Zukunftslosigkeit verbunden. Das treue Warten wird versinnbildlicht durch den Schäferhund am Fluss, in dem dessen Herrchen drei Monate zuvor ertrunken ist. Dann ist da ein alter Mann, der hilft, einen Hund vor der Abrissbirne aus einem Haus zu retten und der jetzt auf einer Parkbank sitzt, genau da, wo früher sein Zuhause voller Kindheitserinnerungen war. Er wartet auf gar nichts mehr, höchstens auf den Tod. Und wenn der Film am Ende wieder zum Flussbett des Anfangs zurückkommt, fragt Inga endlich ihre Mutter, auf wen sie denn eigentlich wartet, aber dann weiß die Mutter es selbst nicht. Erwachsene sind ernüchterte Kinder mit Erwachsenenmaske. Sie hoffen, ohne an das Erhoffte zu glauben. Sie warten und wissen, es kommt niemand. Das ist eine fantomartige Abhängigkeit von anderen. So wie Inga hinter dem Kind, das grausam zu ihr war, eine Zeit lang hinterhergelaufen ist wie ein herrenloser Hund.

Auf die Äußerung der Mutter, dass sie beide nicht schön seien, reagiert Inga mit dem Spiel „Die Schöne“. Und sie hört „die Pflanze singen“, die knospenden Weidenkätzchenzweige, um die im Film so viel gerätselt wird. Jedenfalls ist sie sich am Ende des Films selbst genug. Der Kreis schließt sich, aber er hat sich verändert. Der Blick geht wieder nach oben, in die Bäume, den Himmel, vereinzelte weiße Wolken, die Sonne. Inga spielt mit sich „die Schöne“, tanzt, die Kamera kreist mit. Aber diesmal sind da nur ein paar Steine auf dem Boden, keine Spielkameraden. Sie sagt sich jetzt wohl die Komplimente einfach selbst, ohne Hilfe von außen. Es kommt ganz aus ihr selbst. Und vielleicht ein bisschen aus der Pflanze, die sie ja singen hört.

 

Weitere Filme von Arūnas Žebriūnas

Von 1959 bis 1977 drehte Arūnas Žebriūnas fast ausschließlich Filme mit, über und für Kinder. Zumindest offiziell waren es solche Kinderfilme, aber im Kern sind es Werke mit allgemeineren, komplexeren, auch subtil subversiven Ideen unter der sichtbaren Oberfläche. Der weniger beachtete Kinderfilm gab eine Möglichkeit, unter dem Radar der Aufmerksamkeit der kommunistischen Partei und ihrer Propagandawünsche und Zensoren zu arbeiten. Folgendes Zitat von ihm ist aus dem Pressedossier von Ed Distribution: „Ich habe angefangen, Kinderfilme wegen der Zensur zu machen. Ich habe keine Filme für Kinder, sondern mit Kindern gemacht. Die Atmosphäre, die in der Kunstwelt der Sowjetunion herrschte, war abstoßend, ich wollte mich nicht verstrickt in der Partei wiederfinden. Als ich anfing, Filme mit Kindern zu drehen, haben sich alle Forderungen der Partei in Luft aufgelöst.“ Innerlichkeit, Fantastik, Spiritualität, das Loblied des Individuellen statt des Kollektiven, Widersprüche der angeblich so perfekten Gesellschaft, das ließ sich nur in scheinbaren Kinderfilmen und Märchen unterbringen.

Sein Regiedebüt gab Žebriūnas in dem Episodenfilm GYVIEJI DIVYRIAI (1959, dt: Die lebenden Helden) mit dem dritten der vier Teile, die alle vom Leben von litauischen Kindern in verschiedenen Zeiten handeln. „Paskutinis šūvis“ spielt 1947, als noch der Partisanenkrieg zwischen litauischen „Waldbrüder“-Partisanen und den Kommunisten mit den sowjetischen Besatzungstruppen andauerte. Erzählt wird ein Ereignis aus dieser Zeit, aber nicht kollektiv-historisch, sondern mit starker, teilweise dunkler Naturpoesie auf mythisch-symbolische Art und Weise. So entgeht Žebriūnas der Propaganda. Im Mittelpunkt steht schon hier ein kleines blondes Mädchen, das unangefochten von aller Politik und dem sie umgebenden Tod in und mit der Natur lebt. Zu Beginn entdeckt man sie hinter einem zerbombten Panzer. Sie flechtet einen Kranz, den sie an Stacheldraht hängt. Man sieht eine Reihe von Booten voller schwarzer Silhouetten mit Särgen zu einer Friedhofsinsel rudern, wie der Tod über den Styx. Als sie im Sumpfgebiet auf einen Partisanen stößt, gibt sie ihm Essen, so wie sie vorher ihre geliebten Schwäne fütterte. Als der Mann aber fast ausgebrütete Schwaneneier wegen Ungenießbarkeit einfach wegwirft, revanchiert sie sich und stiehlt seine Munition. Als der Partisan, wie in einer Racheaktion der Natur, in den Sumpf herabgezogen wird und ertrinkt, hat er zuletzt eine Vision von dem Mädchen als ein ihn böse angrinsender Dämon und feuert irgendwie noch einen Schuss ab und tötet sie. Das letzte Bild des Kurzfilms aber sind zwei fliegende Schwäne vor dem weiten Himmel, als würden sie ihre Seele an den vorgesehenen Ort transportieren.

MAŽASIS PRINCAS (1966, dt.: Der kleine Prinz) ist eine Verfilmung des modernen Märchens „Der kleine Prinz“ (1943) von Antoine de Saint-Exupéry, das unter dem Motto „mit dem Herzen sehen“ vom großen bewusstseinsmäßigen Verlust beim Erwachsenwerden handelt. Der Film hat nichts Theaterhaftes und ist visuell ungeheuer spannend, verbindet ohne Bruch einen realen Schauplatz mit pur abstrahierender Studiodekoration. Auf der einen Seite blauer Himmel, unendliche, niemals statische Wüste, sich bewegender, rieselnder Sand, Wind. Auf der anderen Seite der geordnete Planetenraum, der ganz einfach stilisiert aus luftballonartigen Kugeln, Draht, Farben, Lichteffekten besteht, aber eine überzeugend traumhafte Atmosphäre entstehen lässt.

NAKTIBALDA / TOMAS DER TRÄUMER (1973) spiegelt in mancher Hinsicht LA BELLE. Diesmal aber aus Jungensicht. Drehbuchautor ist wieder Yuriy Yakovlev (1922-1995). Die einleitende Kreisbewegung von LA BELLE wird in NAKTIBALDA am Anfang wieder aufgenommen, diesmal mit einem kleinen Elektroflugzeug an einer Leine, das sich durch ein Missgeschick löst und frei durch die Luft fliegt. Auch hier ist es wieder ein unausstehlicher Junge, ein Kollektivanführer, der stört und das Flugzeug mit einem Armbrustschuss auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Hauptfigur Domas selbst lässt sich aber nicht gerne auf den Boden der Tatsache zurückholen. Er schläft, wo immer er kann, sogar vorne an der Tafel, und in den Schulpausen hat er seine festen Ruheecken. Seine Träume werden wiedergegeben als in Rot getauchte, surreale Verarbeitungen des Tages. Als er von einem General träumt, der ihn für eine Heldentat auszeichnet, erzählt er dies überall herum und wird verspottet. Es gibt viel absurde Komik in NAKTIBALDA, etwa die Herausforderung einer Lehrerin zum Duell, der er den Fehdehandschuh hinwirft. Domas' ebenso alltagsuntauglicher Vater, der am liebsten Klarinette spielt, sorgt für Humor, vor allem als er als offensichtlicher Problemfall gleich mit zum Schularzt geschickt wird, wo die beiden Erwachsenen mit einem Kopfstand an der Wand enden. Nur so wird die Welt wieder gerade. NAKTIBALDA hat zwar an sich einen konventionelleren Stil als LA BELLE, aber Träume und Humor gleichen dies wieder aus.

VELNIO NUOTAKA (1974, dt.: Die Teufelsbraut) ist überhaupt kein Kinderfilm, aber ein fantastisches, tempo- und ideenreiches Märchenmusical zwischen Rockoper und Volkstümlichem um den Pakt eines Müllers mit einem Teufel, einem kleinen Dämon, der bis zur Erfüllung seines Wunsches auf dem Mühlendachboden haust. Denn er will, wenn sie erwachsen ist, die Müllerstochter heiraten. Zwischen einem stattlichen Verehrer und den dämonischen Kräften entsteht ein erbitterter Kampf, in dem alle zur Verfügung stehenden Waffen der Hölle aufgewendet werden. Aber am Schluss hilft wirksamer Gegenzauber. Und ganz am Schluss steht die hübsche Weisheit, dass Liebe selbst den egoistisch Bösen retten kann.

SEKLIO KALIO NUOTYKIAI (1976) ist die Verfilmung von „Meisterdetektiv Kalle Blomquist“ (1946), dem ersten der drei Kalle-Blomquist-Bücher von Astrid Lindgren. Das Ganze spielt in der Gegenwart, hat aber einen nostalgischen Touch durch alte Autos, Ragtime-Musik und die Kleidung der Gangster, die nach 1930er und 1940er aussehen. Der Handlungsort ist Schweden, das sieht man sofort an einem Bier-Schild an einer Hausfassade: „Öl“. Alles spielt in sehr begrenzten, sparsamen Dekors. Um dennoch kräftig modernes Tempo und Abwechslung hineinzubekommen, reicherte man die Story mit fast-anarchistischen Knallerbseneffekten an. Außerdem singt Eva-Lotte immer wieder das Lied „Josefina“ und bringt ihre Umgebung zum Tanzen. Dazu kommen ein mitunter slapstickartiger Humor und ein bisschen kindliche Magie durch das alte Auto ohne Motor, das nur Kalle wie von Zauberhand starten kann, was an Pippi Langstrumpfs Radfahren ohne Reifen erinnert. Im Ganzen ein sehr sympathischer und gut gelaunter Film.

 


RIEŠUTŲ DUONA (1977, dt.: Nussbrot) handelt nur am Anfang von der Kindheit, wird dann zum Jugendfilm und erzählt eine durch die melancholische Erinnerung bittersüß gewordene Liebesgeschichte. Es geht um das Landleben in der Nachkriegszeit, geschildert auf eine abwechslungsreich realistische, deftige und absurde Weise. Der dumme Streit um eine kranke Kuh verfeindet zwei Familien. Die Erwachsenen werden hier in ihren Spinnereien alt, vor allem die Männer. Hinzu kommen fantastische Elemente: In der Vorstellung eines Kindes ist Tod gleichbedeutend mit dem Wegfliegen mit dem Flugzeug. Der tote Großvater taucht hin und wieder als Geist auf. Alles, auch die Liebesgeschichte, endet schließlich damit, dass die Welt sich ändert. Ein Schuster zieht mit seiner Familie in die Stadt, um in der Fabrik zu arbeiten. RIEŠUTŲ DUONA bildet den Übergang von Žebriūnas zu Filmen vorwiegend mit Erwachsenen, darunter auch die Fernsehserie BOGACH, BEDNYAK... (1982) über deutsche Auswanderer 1945-1960 in den USA.

Samstag, 10. April 2021

TOO OLD TO DIE YOUNG (Staffel 1) – Chromglänzende Leere

Der Beginn der US-Prime-Serie TOO OLD TO DIE YOUNG (2019) des dänischen Filmregisseurs Nicolas Winding Refn, gemeinsam geschrieben mit dem erfolgreichen Comicautor Ed Brubaker, wirkt zunächst eigentlich sehr sympathisch. Es wird gleich durch übergroße Langsamkeit deutlich gemacht, dass Refn sich der unaufhörlich dröhnenden, durchmechanisierten, einförmigen Erzählmaschinierie verweigert, die viel zu viel seelen- und stillosen Serien-Content erzeugt, der die Menschen im digitalen Streaming-Cirkus Maximus oft bis zur Verblödung aufsaugt und auslaugt. Refn setzt dem Ganzen Stil pur entgegen. Leider entpuppt sich Refns Methode auf  Dauer dann doch bloß als ermüdender Ästhetizismus und Formalismus, ausgedehnt auf gute 10 Stunden. In den ersten beiden Folgen macht man als Zuschauer zwar noch bereitwillig mit, weil man durch den dramaturgischen Aufbau denken könnte, dass es sich hier um zwei große lange Prologe handelt. Groooßer Fehler, wie ich feststellen musste, nachdem ich die ganze Serie bis zum Ende durchgehalten hatte. Denn diese erschien mir rückblickend wie ein einziger Prolog. Nur für was? Eigentlich für nichts.

Und so spiegelt das Warten des Anfangs, wo zwei Polizisten bewegungslos an ihrem Auto stehen, die Situation des Zuschauers wieder. Warten. Dahinter, an der Wand, ein Bild der mexikanischen Wüste. Gegenüber eine Cantina, man ist also im südlichen Grenzgebiet. Dass es Los Angeles ist, begreift man erst später. Langsam gleitet die Kamera über den glänzenden Chrom des Autolackes, erfreut sich an den in der künstlichen Beleuchtung glitzernden Farben. Der eine Polizist redet, der andere schweigt. Der erste schimpft über seine kranke Beziehung. Diese Plaudertasche wird bald ermordet werden. Schweigen ist also tatsächlich Gold. Aber vorher gibt es noch sexuelle Belästigung, Nötigung und finanzielle Erpressung bei einer hilflosen Autofahrerin.

Der Schweigsame wird von Miles Teller gespielt. Begrenztes Tempo hat Refn dessen Polizisten auferlegt. Hier wird die unglaubliche Langsamkeit des Gehens zelebriert. Teller ist eine Skulptur gewordene, ungerührte Verzögerung. Gibt man ihm etwas, reagiert er erst nicht, wartet ab, guckt irgendwann unbeteiligt auf den Gegenstand, nimmt ihn dann erst. Das scheint der Versuch einer Ikonisierung zu sein, so wie bei Ryan Gosling in Refns DRIVE (2011). Und eigentlich funktioniert das gut. Teller ist das Beste an der Serie. Er spielt einen Mörder-Polizisten, der endlich sinnvoll morden will. Leute, die es verdient haben und nicht etwa die Ehefrau eines Gangchefs, während die zwei Kinder im Bett schlafen. Einmal sitzt er mit einem anderen Gerechtigkeitsmörder beim Kaffee am Dinertresen. Sie schweigen. Und warten. Und trinken nicht mal Kaffee. Aber da geht einem so was schon auf die Nerven.

Die felsige Mexiko-Wüste, die man im ersten Teil nur auf einem Bild gesehen hat, wird in der zweiten Folge Wirklichkeit. Hier taucht man in eine debile Kartellfamilie hinein. Dass der kranke und ewig monologisierende Kartellboss, dessen auslaufende Scheiße eine zügigere Geschwindigkeit drauf hat als der Film, ständig einschläft beim Reden, gibt Refn die Gelegenheit, beim Tempo auch mal auf Pause zu drücken. Offensichtlich haben Refn und Brubaker ihr Drehbuch nur mit diesem einen Ziel geschrieben: Verzögern und Zeit schinden. Sollte ja eine Serie werden. Wenn zwei Gangster-Cousins miteinander im Bett landen, wird es kitschig mit roten Rosen. Die mexikanische Fiesta ist erstarrt zu bewegungslosen Männern, dazwischen ein paar Zwangs-Nutten. Bei einem Polizistenmord gibt es eine langsame Kamerafahrt nach links und dann, es ist ja noch nicht genug Zeit vergangen, wieder eine Fahrt zurück nach rechts. Und auch hier gibt es eine Rachefigur: die „Hohepriesterin des Todes“, die einmal wie aus dem Nichts aus der Wüste aufgetaucht ist.

Und damit hat man alle Hauptfiguren zusammen. Denn ein wenig Inhalt gibt es ja auch. Ohne jetzt in die Details zu gehen: Der Film ist eine Rachegeschichte. Es geht um ethische Rache, ethischen Mord an Frauen- und Kindesmisshandlern, von mexikanischen Mädchenhändlern bis US-Produzenten von Vergewaltigungspornos. Das Ganze soll irgendwie esoterisch, mythologisch, geheimnisvoll sein. Aber eigentlich ist alles im Kern banal psychologisch. Ein Gangster ist ein Muttersöhnchen, heiratet eine der Mama ähnelnde Frau und hat eben einen Ödipusknall. Bloß dass alles visuell ziemlich brillant aufgemotzt ist von Cinematographer Darius Khondji.

Aber nichts wirkt, nichts berührt. Ein klinisch toter Film, der bloß noch zwischendurch zuckt wie ein Aal in der brutzelnden Bratpfanne. Trotz der vielen Wüstenbilder, gibt es hier keinen weiten Horizont, sondern bloß mitleiderregend engstirniges Denken. Den Schuldigen für alles Böse in den USA hatte Refn ja schon außerfilmisch schnell erkannt. Trump sei eine „Handgranate des Faschismus“. Mit solchen klug einprägsamen Sprüchen, der stalinistischen Reichensozalismusmedien entlehnt, empfiehlt man sich heute an der US-Westküste geschickt als opportunistischer Kollaborateur der dekadenten Hollywood- und Big-Tech-Eliten, als echter Woke Mob Supremacist. Frauenhass und Kindesmissbrauch, ja, das ist für einen wie Refn gleichbedeutend mit Trump und Latzhosen-Hillbillys, die die Bibel lesen. Und Polizisten buchstabieren auf dem Revier laut das Wort „F-a-s-c-i-s-m“. Mann, das ist doch mal supersubversiv. Der Revierleiter spielt Ukulele und singt sehr wortkarg von Jesus und Mary. Ja, das ist Christentumssatire auf höchstem Niveau. So in etwa stelle ich mir einen wodkaberauschten Satireabend im Keller des Moskauer NKWD in den 1930ern und 1940ern vor, eingeschoben zwischen zwei Genickschussrunden. Und so unendlich vieles in TOO OLD TO DIE YOUNG ist einfach nur peinlich, vor allem die verklemmten Sexszenen, die wie so vieles hier infiziert sind von freudianisch inspirierter Populärpsychologie. Zum beispielhaften Fremdschämen ist die Szene, in der die Hohepriesterin des Todes an einer kleinen Pistole penisartig herumspielt. Ja, da durfte Fischers dänisches Fritzchen endlich mal seine frühpubertären Fantasien ausleben.

Montag, 5. April 2021

Björk in THE JUNIPER TREE – Mein Mutter der mich schlacht

Ein Gespräch ist aus dem Off zu hören. Zwei junge Frauenstimmen unterhalten sich. Die eine fragt, die andere antwortet. Es geht um die Mutter, die jetzt nur noch verwehte Asche, von der nichts übrig ist. Dazu ein zunächst verwirrendes erstes Bild von einem Ort ganz woanders, da, wo die beiden Frauen erst kurze Zeit später landen werden: Das Grab einer anderen Mutter, das ein kleiner Junge sorgfältig pflegt, damit sie ihn nicht vergisst. So bekommt der Zuschauer des isländischen, in Englisch gedrehten Films THE JUNIPER TREE / EINITRÉÐ (1990) von US-Regisseurin Nietzchka Keene eine erste Andeutung der den Film prägenden fließenden Uneindeutigkeit von Zeit und Raum.

Die junge Frau und das Mädchen Margit sind auf der Flucht vor den Menschen, die Hexen verbrennen, denn als solche starb die Mutter. Sie brauchen einen Mann als Schutz, allein schon, um nicht aufzufallen. Notfalls gilt es, einen Mann zu verzaubern. Und plötzlich ist einer da. Laut großer Schwester sogar ohne jede Verhexung. Einer mit einem Sohn, Jonas. Die Regisseurin macht in weiten Totalen ausgiebig Gebrauch vom isländischen Drehort. Der Stil des Scharzweiß-Films ist geprägt von breiten Perspektiven der Hügel und Grasebenen, von einer weiten Landschaft mit ihren Grauabstufungen. Die Menschen werden oft klein und weit entfernt gezeigt, ein sich nur langsam bewegender Teil der Landschaft. Die Innenräume des engen traditionellen Bauernhauses hingegen haben tiefe, unheimliche, dunkle Schattenzonen.

THE JUNIPER TREE wurde 1986 mit sehr kleinem Budget gedreht. In der Rolle des Mädchens Margit, der kleinen Schwester, sieht man Sängerin Björk Guðmundsdóttir, die da 21 ist, aber weitaus jünger wirkt. Zu dem Zeitpunkt war Björk auch noch kein internationaler Popstar, wenn auch bekannt in Island und auch durch Dokus über Island-Rock hatte man sie schon im Ausland wahrgenommen. 1986 ist nebenbei auch das Jahr, in dem die Sugarcubes gegründet wurden, deren richtiger Durchbruch 1988 mit „Life's too good“, der ersten von drei LPs, geschah. Dass der Film also ab 1990, als er endlich auf Festivals seine Premiere hatte, keine größere Verbreitung gefunden hat, ist äußerst schade. Im Netz ist nur ein Kinostart 1993 in Island verzeichnet. Vor ein paar Jahren wurde der Film restauriert und lief zumindest in Frankreich noch auf der großen Leinwand. Die Regisseurin Keene ist aber schon 2004 gestorben.

THE JUNIPER TREE beruht auf dem Märchen „Von dem Machandelboom“ der Brüder Grimm, das die Geschichte einer bösen Stiefmutter erzählt, die dem ungeliebten Stiefsohn mit einem schweren Truhendeckel den Kopf abhaut, die Leiche auf einem Stuhl platziert, den Kopf oben drauf setzt und die leibliche Tochter dazu anstiftet, dem Jungen einen kleinen Schlag auf die Wange zu geben, damit der Kopf herunterfällt und das Mädchen denkt, es selbst sei die Schuldige. Zu allem Überfluss wird der Junge auch noch zu Suppe verarbeitet, die der Vater mit Appetit isst. Die Stiefschwester begräbt die Knochen unter dem Wacholderbaum, wo das Grab der Mutter des Jungen ist. Dieser kehrt wieder als Vogel und verbreitet in Versen überall die Untat der bösen Stiefmutter, die am Ende einen verdienten, brutalen Tod stirbt: 

Mein Mutter, der mich schlacht’,

mein Vater, der mich aß,

mein Schwester, der Marlenichen,

sucht alle meine Benichen,

bind’t sie in ein seiden Tuch,

legt’s unter den Machandelbaum.

Kywitt, kywitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!

THE JUNIPER TREE verzichtet auf diesen Horror der Schockmomente und ersetzt ihn durch eine ambivalente Stimmung, durch Abstrahierung und eine unheimliche Sanftheit, sodass aus dem Grimm-Schrecken eine Art Mystery-Grusel wird. Aus dem brutalen Mord der Stiefmutter wird ein psychisch geschicktes Hineintreiben in den Tod. Nicht der ganze Körper von Jonas wird verkocht, sondern nur ein Finger. Und die Stiefmutter-Hexe ist schlau: Ein Zauber macht den Jungen auf ewig stumm. Ein poetisch-morbides Bild zeigt die Leiche am Grund eines Flusses, kleine Fische umschwimmen ihn, stupsen ihn an. Und während bei den Grimms alles innerhalb eines Dorfes stattfindet, handelt es sich hier um eine unheimlich isolierte Welt, abgeschlossen, scheinbar entfernt von allen anderen, ohne feste Bezugspunkte.

Und ist die Zeitangabe für das Märchen „vor 2000 Jahren“, also eine vorchristliche Zeit, ist der Film an der Grenze zwischen altem und neuem Glauben angesiedelt. Die große Schwester kann scheinbar nur bösen Zauber. Was ihr fehlt, sind visionäre Kräfte, die Margit hat, die aber mit all dem Zauber nichts zu tun haben will. Man sieht sie das Vaterunser beten, gefolgt von einem wiederholten Kamerablick durch das Kreuz eines kleinen Fensters mit unklarer Scheibe. Margit sieht zwar Dinge, weiß aber nicht, was sie bedeuten. Sie hat eine Vision von einer Gestalt durch Feuer hindurch, am Horizont, die sie dann als ihre Mutter erkennt. Doch die Toten sprechen nicht.

Statt der bösen Stiefmutter stellt die Geschichte die abwesende Mutter weit in den Vordergrund, sowohl für Jonas als auch für Margit. Jonas wehrt sich gegen die Stiefmutter, weil er den geistigen Kontakt zur Mutter behalten will. Er will glauben, dass sie immer noch da ist und steigert sich im Widerstand gegen die Stiefmutter, die Hexe, immer mehr hinein. Margit hat diese Visionen von ihrer Mutter, die wirkt wie eine Erscheinung aus einer anderen Dimension mit einem schwarzen Loch im Bauch, in das Margit greift, sodass ihre Hand verschwindet. Margit steht zwischen den Welten, jenseits von allem. Sie gehört nirgendwo hin und sieht immer nur das Gute. Wie im Märchen taucht der Vogel auf, aber er bleibt stumm, und selbst wenn es Jonas ist: Wer sollte sich seine Beschuldigungen anhören? Da ist niemand, und der Vater ist rettungslos erotisch verhext und folgt der Mörderin. Am Ende sind der Vogel und Margit am Wacholderbaum einsam und allein. Die Erwachsenen sind mit ihrer Besessenheit beschäftigt.

 

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Von dem Machandelboom. Ein Märchen der Brüder Grimm