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Mittwoch, 5. August 2020

SUICIDE TOURIST – ES GIBT KEIN ENTKOMMEN – Flucht in den Tod


© dcm

Der dänische Film SUICIDE TOURIST – ES GIBT KEIN ENTKOMMEN (2019, Selvmordsturisten) ist Jonas Alexander Arnbys zweiter Spielfilm nach dem erfolgreichen poetischen Horrorfilm WHEN ANIMALS DREAM (2014, Når dyrene drømmer), in dem ein junges, empfindsames Mädchen zum wilden Tier wird. Von der Mutter vererbte Wildheit, die sich als Reaktion auf Unterdrückung sowohl in Form reiner Berserkerwut als auch in Form einfachen, verzweifelten Überlebenskampfes äußert. Das war ein physischer, sehr direkter Film mit Themen wie Metamorphose und dem Tierischen im Menschen. SUICIDE TOURIST, der zunächst verkopfter, abstrakter, distanzierter wirkt, ist in mancher Hinsicht das genaue Gegenteil, und doch gibt es eine tief gehende Gemeinsamkeit.

Ganz im Mittelpunkt des Films steht der von Nikolai Coster-Waldau gespielte Max, ein sehr korrekter Versicherungskaufmann, glücklich verheiratet, aber mit einem unheilbaren bösen Hirntumor, der sich bald physisch und psychisch bemerkbar machen wird. Das Wachsen des Tumors, so gibt ihm der Arzt zu verstehen, heißt Veränderung des Verhaltens, des Denkens, der Sprachfähigkeit. Es geht im Kern also auch hier, wie in WHEN ANIMALS DREAM, um Metamorphose, um Veränderung, allerdings in die entgegengesetzte Richtung, in Richtung Auflösung, Zerfall, Tod.

Unabhängig von der beunruhigenden Aussicht des nahen Todes, ist es vor allem das, was Max Angst macht. Angst vor dem Verlust des Ichs oder dessen, was man dafür hält. So viel Angst, dass er versucht, sich umzubringen, aber er ist ein totaler Selbstmord-Versager, was eine Art unterkühlten Slapstick-Humor in den Film bringt. Jedenfalls stellt Max fest, dass es in Wirklichkeit gar nicht so einfach ist, sich umzubringen. In seiner Panik bucht er ein geheimnisvolles Hotel in den Gebirgen, das auf äußerst luxuriös-harmonische Sterbehilfe spezialisiert ist. Sterben wie verträumtes Einschlafen. Das zumindest ist die Theorie, auch wenn sich nach und nach das Erlebte in einen verwirrten Alptraum verwandelt. SUICIDE TOURIST ist also alles andere als ein propagandistischer Film für solche eine Art von reisender Sterbehilfe, fernab von allem Vertrauten und allen Nahestehenden.

Arnby liefert keine chronologische Erzählung. Ständig wechseln die verschiedene Ebenen der Zeit und des Raumes. Zunächst erscheint das Seltsame einfach wie eine freie Poetisierung und Surrealisierung der Wirklichkeit, doch dann löst sich die innere Logik der Geschichte immer mehr auf. Phantasie, Traum, Wirklichkeit lassen sich nicht mehr unterscheiden. Aber Arnby lässt diese Atmosphäre nicht siegen, denn am Ende geht es hier darum, aus ihr herauszukommen. Ironischerweise bekommt die Erzählung gerade durch die totale Desintegration wieder Boden unter den Füßen. Der Kreis kann sich schließen, und es tauchen wieder Logik und Bedeutung auf.

SUICIDE TOURIST bedeutet vor allem auch einen Triumph des Dekors, der Art Direction. Immerhin war Arnby Art Director etwa bei Lars von Triers DANCER IN THE DARK (2000). Alles strahlt am Anfang Ruhe und Perfektion, aber auch eine gewisse Fremdheit, aus. Spielte WHEN ANIMALS DREAM viel an der frischen Luft und an Originalschauplätzen, ist der neue Film durch und durch künstlich, artifiziell, selbst die Berglandschaft, in der das Sterbehilfe-Hotel liegt, wirkt teilweise überperfekt. Dieses Hotel hat eine scheinbar angemessene Dahinscheiden-Atmosphäre, geeignet für ein Hinübergleiten, ohne dass man es merkt, also gewissermaßen ohne ans Sterben zu denken. So angemessen und perfekt, dass es schon wieder unheimlich erscheint.

Arnby bewegt sich hier auf den Spuren von Lynch oder Winding Refn, aber vor allem von denen von Gore Verbinskys viel zu wenig gewürdigtem Meisterwerk A CURE FOR WELLNESS (2016). Zumindest sollte es mich wundern, wenn dem nicht so ist. Leider hat SUICIDE TOURIST bei allen Qualitäten ein bisschen die Korrektheit und Steifheit der Hauptfigur in sich aufgesogen. Es ist ein Film zum Zugucken, zum Analysieren, zum Rätseln, der den Zuschauer aber etwas unbeteiligt lässt, und ich habe bei mir selbst irgendwann eine gewisse Ungeduld registriert, aus dieser Statik herauszukommen. So gesehen ist der Film in seiner Methode natürlich sehr erfolgreich, denn meine Empfindung spiegelt im Prinzip das Denken und die Emotionen der Hauptfigur gegen Ende des Films wieder.


© dcm

Dienstag, 14. Juli 2020

Gigis' BLOKHAVN – Hurra, hurra, die Schule schließt


Hurra, hurra, die Schule schließt! Was für eine schöne Nachricht im ersten Moment. Und wenn man Schüler ist und ein bisschen blöd, muss einem halt erst mal erklärt werden, dass man dann nicht von der Schulpflicht erlöst ist, sondern dass ganz einfach alle Schüler auf andere Schulen verteilt werden. Geistig entsprechend begeisterte ich mich sehr jung für das Lied ”Hurra, hurra, die Schule brennt” und musste mir erläutern lassen, dass nach einem Brand eben woanders unterrichtet wird, unter Umständen in Containern. Ich bin eben auch ein bisschen blöd. Aber plötzlich hofft man inständig, dass die Schule nicht brennt, dass sie nicht schließt.

So geht es auch den etwa 14-jährigen Schülern einer Ghetto-Volksschule in dem dänischen Anmationsfilm BLOKHAVN (2020), sozusagen Blockhagen, statt Kopenhagen. Die grottenschlechteste Schule der Welt kostet den Staat einfach zu viel, verkündet der Bildungsminister persönlich. Die Schüler sind begrenzt motivierte Kinder, vorwiegend Abkömmlinge von Einwanderern, die hier ein Dänisch sprechen, für das man vorher ein bisschen Sprachunterricht nehmen sollte. 21 Slang-Grundbegriffe werden in einem YouTube-Video der Macher erläutert, ich hätte es vorher gucken sollen. Die Hauptfiguren des Films jedenfalls, eine Gruppe von Freunden, beschließen, das Unmögliche möglich zu machen und ihre schlechteste Schule der Welt zu retten. Damit sie als Freunde zusammenbleiben können. Ihre Versuche gehen erst völlig in die Hose, dann sieht es kurz gut aus, aber am Schluss scheitert es doch an finanziellen Problemen des Staates. Aber jedenfalls haben sie mal den Arsch hoch bekommen und gemeinsam etwas äußerst Konstruktives hingekriegt.

BLOKHAVN ist ein sehr liebevoll in Handarbeit hergestellter Aninmationsfilm von 76 Minuten. Vorherrschend ist aber nicht Betongrau, sondern ein kräftig-schmutziges, manchmal apokalyptisch wirkendes Bunt. Es gibt eine Verbindung aus Authentizität, Radikalität, Übertreibung und Versöhnlichem. Vor allem die kleinen, einzelnen Szenen überzeugen, bleiben in Erinnerung. Die Hauptfiguren sind für das dänische Publikum allerdings nicht neu, denn es gibt sie schon in kleinen Videos, die in den letzten Jahren auf dem YouTube-Kanal der Macher von Gigis hochgeladen wurden.

Gigis ist ein fünfköpfiges, untereinander befreundetes Künstlerkollektiv, das drei Jahre an diesem ersten Langfilm gearbeitet hat. Gemeinsam schufen sie eine stilisiert-realistische, ernst-humorvolle und zart-brutale Wiedergabe der Welt, in der sie aufgewachsen sind. BLOKHAVN bietet den großen geglückten Spagat zwischen den realen Dealer-Versuchungen eines potentiellen Schulabbrechers und einem cartoonartigen besoffenen Rap-Duo, das das Traummädchen eines der Filmhelden von der Bühne aus vollkotzt. Es gibt also eine große Bandbreite des Gezeigten, der Stimmungen. Dabei sind die einzelnen Bilder sehr detailliert gezeichnet. Beim ersten Gucken entgeht einem sicher einiges.

BLOKHAVN hat eine Reihe von einprägsamen Nebenfiguren, wobei der Film interessanterweise ohne wirklichen Bösewicht auskommt, denn der Psycho des Films, der aus reinem Zerstörungswillen für so manche Katastrophe sorgt, ist eigentlich die größte arme Sau der Story. Sein Privatleben steht im Mittelpunkt der ungemütlichsten Szene des Films. Er hat Besuch vom Klassenfeigling, der einmal durch einen absolut verrotteten, furchteinflößenden Flur auf Klo gehen will, aber auf dem Pott sitzt schon eine geisterartige, ausgemergelte, leidend stöhnende Frau, mehr tot als lebendig. An der Wand steht: „Ich kann nicht mehr.“ Dieser Heulsusen-Däne wiederum hat keine Freunde und wird ständig gequält. In einer Szene wird er im Hintergrund an die Wand gedrückt und gewürgt, einfach so. Selbst über Mobbing darf man hier lachen. Angeschwärmte junge Damen sind natürlich auch auf der Schule. Genau so wie Lehrer: Einmal der blasse Lehrer, der heimlich zum Gras-Dealer und zur erotischen Thai-Massage geht. Die Unterrichtsszenen mit ihm sind ein wenig die moderne Steigerung meiner einst so geliebten Serie WELCOME BACK KOTTER (1975-1979). Und dann ist da die sympathische Lehrerin Gertrud, die die Jungen versteht, was für die das Wichtigste ist und auch für Bestätigung und Selbstwertgefühl sorgt. Und besonders in den Szenen, wo einer der Jungen verzweifelt versucht, Gertruds Leben zu retten, gelingen BLOKHAVN echte Emotionen.

Sonntag, 12. Juli 2020

Jesper W. Nielsens UNDTAGELSEN – Bös psychologisch


Man kann sich am Anfang von Jesper W. Nielsens neuem dänischen Film UNDTAGELSEN / THE EXCEPTION (2020) leicht täuschen lassen. Da ist vor allem die bemerkenswert starke Besetzung der vier handlungstragenden Frauen mit Sidse Babett Kndusen, Amanda Collin, Danica Curcic, Lene Maria Christensen. Eine männliche Nebenrolle wird gespielt von Simon Sears, einem Star aus der Pastoren-TV-Serie HERRENS VEJE / DIE WEGE DES HERRN (2017-18). Viele tiefschürfende psychologische Erkenntnisse zum Thema Völkermord, sogar als lesbare Schrifttafeln, werden eingeblendet und aufgesagt. Das sorgt für ehrerbietige Ehrfurcht. Dazu eine ungeheuer gepflegte Atmosphäre, im Einklang mit der Bedeutung suggerierenden Musik – viel gedehntes Cello! Das kann auch den hartgesottensten Zuschauer  einlullen. Und wenn man nicht irgendwann innerlich stopp sagt, beginnt man noch, über die Zusammenhänge von Unzusammenhängendem, von Unsinn nachzudenken. Denn wer nicht per se auf Anhäufung von Prätentiösität allergisch reagiert, wer sich also vom großen, geschickt gedämpften Kunst-Vorschlaghammer betäuben lässt, könnte sich verpflichtet fühlen, dem Ganzen folgen, es verstehen zu wollen, vielleicht noch nach dem Kino darüber nachzudenken. Nur unterschätzte Kardinaltugenden wie Schulterzucken und Gleichgültigkeit bieten einen rettenden Ausweg.

Und wenn ich hier von Unsinn schreibe, müsste das ja nicht grundsätzlich negativ gemeint sein. Denn aus einer gesunden Distanz betrachtet, handelt es sich bei UNDTAGELSEN um puren, reinen, echten Trash. Allerdings Trash, der bloß keiner sein will. Übervoll, verworren, ididotisch, was könnte das für ein irrer B-Film sein, so voll gestopft mit Handlung, Handlungen und Themen. Und dann diese B-Film-artige Weisheit, die einem dieser Film, der in einem Institut zur Erforschung von Völkermord spielt, in unfreiwillig grandioser Dämlichkeit vermittelt: Hüte dich vor Frauen, die an solch einem Ort arbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Die haben allesamt nicht nur einen gut versteckten Dachschaden, die sind auch noch durchweg gemeingefährlich.

Eine Mitarbeiterin war mal in afrikanischer Geiselhaft und konnte sich befreien, erzählte allerdings die Lüge, dass sie sich mit einem Kindersoldaten angefreundet hatte, der sie frei ließ. In Wirklichkeit hat sie ihn erstochen, um dann wegzulaufen. Jetzt ist sie total psychisch gestört und hat ständige Visionen von dem toten schwarzen Jungen. Eine hat in jungen Jahren schon Gicht, damit sie laut Drehbuch gesunde Menschen hassen, ihr Freund ihr weglaufen und man ihre Tabletten vertauschen kann, damit sie so richtig krank wird. Eine hat Depressionen, Entfremdungsgefühle, wird gemobbt und möchte der schlimmsten Kollegin am liebsten mit einem Hocker den Kopf zu Brei schlagen, gespielt übrigens von einer faszinierenden und selten so gesehenen grau wirkenden Sidse Babett Knudsen. Und eine vierte Kollegin ist einem serbischen Kriegsverbrecher hörig und hat von diesem sexuelle Visionen. Die Arbeit in dem Institut macht sie quasi als Buße. Mal ehrlich. Geht's noch bekloppter? Und ja, durch den Film spuken tatsächlich gleich zwei psychopathische Geister. Nur eine krankhafte Berufsbetroffenheit kann das ernst nehmen und es nicht saukomisch finden.

Wobei man bei einem anderen Problem ankommt. Wie viel Ironie ist da nun doch in dem Film? Sehe ich die Ironie, weil ich sie sehen will, oder ist das alles bis ins Letzte total ernst gemeint und damit einfach grottenschlecht. Da ist beispielsweise ein Einbruch in ein Haus, den eine der intellektuellen Frauen in einer Kleidung wie aus einem Nick-Knatterton-Cartoon durchführt. Fehlt nur noch das Schild auf dem Rücken mit der Aufschrift „Einbrecher“. Und am Ende taucht eine Polizistin auf, die perfekt die Theorie der Psychologie beherrscht und auch so verquast spricht, was schrecklich bizarr und unpassend wirkt.

Oder der alte, angegraute, linke, afrikaerfahrene schwedische Journalist, dem die Weiber nicht widerstehen können, ja, für den sie morden könnten. Vielleicht, weil er im Bett eine sexy Predigt hält, dass unsere Nachfahren wegen der Ausbeutung der Restwelt uns mal so betrachten würden wie die Deutschen ihre Nazi-Großeltern. Nun ist erstens das große Interesse der Enkel für ihre während der Nazi-Zeit erwachsenen Großeltern in Deutschland kleiner gewesen, als man im Nachhinein glauben machen möchte. Und zweitens kann sich der Glaube, die weiße westliche Zivilisation sei an allem Elend der Welt Schuld, durchaus mit dem Größenwahn der Imperialisten und Raubkolonialisten messen. Aber vielleicht ist es ja gerade dieser moralistisch anklagende Größenwahn, der ihn so anziehend macht.

Der einzige kleine Teil des Films, der eine Reihe von spannenden und auch intensiven Szenen hervorbringt, ist ganz einfach der um eine Gruppe von Frauen, die ständig über das Böse schreiben, aber selber im Privaten das Böse herauslassen, vor allem durch den grausamen Umgang mit einer Mitarbeiterin, die mächtig gemobbt wird, noch angeheizt durch anonyme Drohmails. Und das bei Menschen, die es doch besser wissen sollten, weil sie alle Theorien kennen. In diesen Szenen geht es um das Böse, das in jedem steckt, das keine Erziehung, keine Pädagogik, keine Psychologie auslöschen kann. Denn es bleibt im Kern eine moralisch-religiöse Frage. Aber dabei belässt es der Film ja nicht. Und zu allem Überfluss versucht der Film am Ende mit einer  Wendung zu einem de-Palma-artigen Thriller über Lüge und Wirklichkeit aus der eigenen Verwurstung herauszukommen und scheitert peinlichst. Was bleibt, ist eine immer mehr ins Leblose abgleitende Filmkonstruktion, die viel zu sehr auf theoretischen Prämissen beruht.

Donnerstag, 25. Juni 2020

Kasper Rune Larsens HOTEL PARADIS – Der Halbbruder-Bruder


Ein schönes Geschenk, das die dänische Filmzeitschrift EKKO einem da gemacht hat, als sie Kasper Rune Larsens kurze Webserie HOTEL PARADIS (2020) als Streaming auf ihre Netzseite stellte. Die Umstände sind allerdings nicht ganz so lustig. Denn diese mit öffentlicher dänischer Filmförderung gedrehte Serie will kein dänischer Fernsehsender kaufen. 2019 war Kasper Rune Larsen damit auf den Berliner Filmfestspielen auf der Suche nach internationalen Käufern. So ein Ärger ist vermutlich die Quittung, wenn man nicht den zur Zeit angesagten formatierten Storytelling-Kram, weswegen ich beispielsweise viel weniger Serien gucke als früher, kopiert, sondern sich auf sehr persönliche Weise von Interessanterem inspirieren lässt: von der britischen Sitcom FAWLTY TOWERS mit John Cleese, von David Lynchs TWIN PEAKS und mit seiner jütländischen Provinzthematik ist HOTEL PARADIS auch ein bisschen verwandt mit Bruno Dumonts Nordfrankreich-Serie P'TIT QUINQUIN (2014). Kann es wirklich sein, dass Fernsehbürokraten sich bei dem Ganzen nicht so gut unterhalten wie ich?

HOTEL PARADIS beginnt mit Asger, der ein junger, für kurze Zeit sehr erfolgreich gewesener Künstler aus Kopenhagen ist, der „am schnellsten verkaufende Künstler Dänemarks“. Der kommt mit seinen finanziellen und großen kreativen Problemen in die Provinz – „in the middle of fucking nowere“ – um der Verlesung des Testaments seines Vaters beizuwohnen, den er nie kennengelernt hat. Da trifft er zum ersten Mal auf seine beiden Brüder, den freundlichen fülligen Koch Jan und den neurotischen Portier Dan, die beide im väterlichen Hotel arbeiten, um das es in dem Testament vorwiegend geht. Nach und nach kommen noch einige eigenwillige Charaktere dazu. Stammgast Bodil ist eine Amateur-Künstlerin mit festem Wohnsitz in dem Hotel. Nachbarstochter Bob, ein echter Hillbilly und Waffennärrin, wie es sie in Europa mehr geben sollte. Schlüsselfigur dieser ersten Staffel ist der ständig besoffene Onkel, der aber als Einziger sagen kann wo das Testament ist, wenn man ihn denn in häuslicher Pflege mal aus dem tiefen Alkohol-Koma bekäme: „Wir gehen doch nicht zum Arzt, wir sind nicht in Kopenhagen.“ 

Larsen denunziert seine Figuren aber nie. Echte böse Satire gibt es nur bei einer Abordnung aus Kopenhagen, als Vertreter der „Kunstauswahl“ in dem Hotel auftauchen und, wie im Leben, sich über alles Provinzielle lustig machen. Das wirkt witzig, ist aber sehr real. Als ihnen von Bob mit Pistole fast der Kopf weggeblasen wird, glauben sie hinterher an eine gelungene Kunstperformance, die sie gleich mit angelernten Floskeln theoretisieren. Was auch immer hier gezeigt ist, die Serie ist auf der Seite der Leute aus Jütland, übrigens auch die Heimat des Regisseurs, der geboren wurde in Vejle.

HOTEL PARADIS ist im Ganzen eine schöne Mischung aus ernst und heiter. Viel Humor entsteht ganz einfach durch die Dialoge, aber nicht nur durch pointierten Inhalt, sondern durch die Art, wie miteinander geredet wird. Da sind Menschen, die sich manchmal um Kopf und Kragen reden, wenn sie denn reden. Und dann wieder herrschen Pausen vor, dann wieder Sprachlosigkeit, Ausflüchte ins Umhergucken, linkische Bewegungen. Und oft besteht Kommunikation bloß aus Befehlen und Monologen. „Du redest nicht mit mir, du redest zu mir.“, beschwert sich Jan bei Dan. Und dann die unnachahmliche Art, wie Dan es aus sich herauspressen muss, dass Asger sein Bruder ist, wie er auf dem Wort Halbbruder besteht, um Distanz zwischen sich und ihn zu legen, und wie Jan auf „Bruder“ besteht, sodass über Dans zusammengepresste Lippen das Wort „Halbbruder-Bruder“ kommt.

Larsen ist immer dicht dran an den Figuren, manchmal schmerzhaft lange. Und trotz der seltsamen Charaktere bedient Larsen nicht die Freunde der nordischen Skurrilität. Denn hier geht es eher seltsam als skurril zu. Unnormales Verhalten ist nicht zum Amüsieren und Lachen, es verschiebt eher den Maßstab der Normalität, um am Ende vielleicht ganz woanders zu landen. Wenn etwa Dan am Bett des besoffenen Onkels sitzt, sich erleichtert die Schuhe und Strümpfe auszieht und sich den linken Fuß einsalbt und dann mit der rechten einen Fransk Hotdog isst, also Würstchen in Weichbrötchen mit Remoulade, dann ist das nicht witzig, sondern perfekter realer Surrealismus. Oder wenn Bob mit ihrer Spielkameradin brutales American Football spielt. Und auch wenn es gerade nicht danach aussieht, wäre es trotz allem schön, falls es mal eine Fortsetzung geben könnte, denn gerade am Schluss deutet sich durch Träume und Dämonisches einiges an. Und irgenwie mag man nicht aufören, diesen Figuren zuzugucken, was auch ein großes Kompliment an die Schauspieler ist, also Jonas Lindegaard Jacobsen als Asger, Bodil Jørgensen als Bodil, Jesper Ole Feit Andersen als Dan, Alexander Leo Christiansen als Jan und Frederikke Dahl Hansen als Bob.

Jeanette Nordahls KØD & BLOD – Familien-Bande


Eine Familiengeschichte mit Elementen des Gangsterfilms, des Mafiafilms und seinen ungeschriebenen Gesetzen der Loyalität und Omertà, erzählt Jeanette Nordahls Spielfilmdebüt KØD & BLOD, dessen internationaler Titel WILDLAND lautet, aber FLESH & BLOOD (1985) ist ja bekanntlich besetzt mit Paul Verhoevens blutigem Mittelalter-Spektakel. In dem dänischen Film geht es nach Nordfünen, in die Provinz, zumindest wurden Teile des Films dort aufgenommen. Im Prinzip wird alles aus Sicht des jungen Mädchens Ida, gespielt von Sandra Guldberg Kampp, erzählt, das nach dem Tod der Mutter in einem Autounfall bei der Tante mit ihren drei Söhnen unterkommt, die unter anderem Geld verleihen und eintreiben. Ida ist die beobachtende Hauptfigur, spiegelt das Geschehen wieder, ist halb aktiv teilnehmend, halb passiv beobachtend beteiligt. Sie will ganz offensichtlich dazugehören, aber dann wird ein kleines Mädchen benutzt, um den Vater zu bedrohen, und es wird in einem Handgemenge jemand erschossen.

Regisseurin Jeanette Nordahl hat in den Jahren zuvor zwei Kurzfilme gedreht. Einmal den englischsprachigen WAITING FOR PHIL (2012), der von einem Bestatter handelt, dessen Frau stirbt und die er selbst einbalsamieren will, während die Tochter vergeblich auf klassische, gesellschaftlich codierte, verständliche Zeichen der Trauer wartet und den Vater in ihrer Hilflosigkeit beschimpft. Und mit der Drehbuchautorin von KØD & BLOD, Ingeborg Topsøe, arbeitete Nordahl schon bei ihrem Kurzfilm NYLON (2015) zusammen. Mit Eltern angereist aus Dänemark zur Geburtstagsfeier des schwedischen Großvaters in dessen Ferienhaus, trifft ein Jugendlicher auf die junge hübsche krebskranke Tante, die ihn in einer Mischung aus Sexualität und Tod fasziniert. Die konsequente Perspektive ist die des Jungen. Wenn er einmal in das Schlafzimmer der Tante schleicht, interessiert er sich nicht für ihre Unterwäsche, sondern für die Medikamentenbatterie auf der Kommode. Am Ende kommt es zu einer Art Missbrauch besonderer Art: Sie macht ihn zum unwissenden Komplizen ihres vermutlichen Selbstmordes. Eines haben alle drei Filme gemeinsam: Es geht um die familiäre Erwartungshaltung in Bezug auf bestimmtes Verhalten. Sei es, bestimmte Gefühle zu zeigen, sei es, sich diszipliniert zu benehmen, selbst bei persönlichen Problemen, sei es nach außen hin über auch illegale Interna zu schweigen. Nordahl hat offensichtlich ein Interesse für das, was unter der Oberfläche existiert in scheinbar durchstrukturierten familiären Verbindungen, wofür sie sich Grenzsituationen wählt.

Weiterentwickelt haben Nordahl und Topsøe im Vergleich zu NYLON das Prinzip der ökonomischen Erzählweise und der Leerstellen, was zunächst einmal auf der rein formalen Ebene die größte Qualität des Films ist. Gleich am Anfang lässt sich das gut sehen, wenn die Vorgeschichte und die Unterbringung des Mädchens bei der Familie der Tante in wenigen Bildern und Sätzen erzählt werden. Man sieht nur das Unfallauto auf dem Dach liegen. Man hört den Sozialarbeiter vom Jugendamt. Da man nicht alles breit vorgesetzt bekommt, entsteht mehr noch als in NYLON eine Atmosphäre der Unsicherheit. Oft wird nicht das ganze Geschehen gezeigt, sondern nur Idas Blick darauf, wobei sie sich selten etwas anmerken lässt und schon gar nichts sagt. Genau genommen ist der Film eine Rückblende, denn aus dem Off leitet Ida alles ein und deutet Tragik an durch die Weisheit, dass es für manche schon vorbei ist, bevor es richtig angefangen hat. Das aber ist eine Drehbuchweisheit, nicht die eines jungen Mädchens. Hätte man weglassen können. Vielleicht sogar besser sollen.

Alles kreist um die von Sidse Babett Knudsen dargestellte Mama. Sie verkörpert Mütterlichkeit, ist die umarmende, erdrückende, im Zweifelsfall ebenso hysterische wie kalte Übermutter, deren Söhne zwar Gauner, aber im Grunde sehr weich sind. Wenn der eine bei ihr auf dem Schoß liegt und sich den Kopf kraulen lässt, ist das weniger inzestuös, als ein Hinweis auf das geistige Alter des Sohnes. Aber dann sitzt sie nachts wie eine ganz normale überbesorgte Mutter da und kann erst schlafen, wenn die ganze Herde wieder im Haus ist. Sie ist eine Provinz-Version der kleinen Reihe von filmischen Gangstermamas mit seltsamen und teilweise mehr oder weniger leicht gestörten Jungs. Da kann man sogar an Ma Dalton aus Lucky Luke denken. Oder an Ma Barker, verewigt von Roger Corman als BLOODY MAMA (1970). Oder etwa an die Mutter des psychopathischen Kriminellen in Raoul Walshs WHITE HEAT / MASCHINENPISTOLEN (1949).

Nach außen ist die Familie Clubbesitzer. Aber die Haupteinnahmequelle ist wohl der Geldverleih. Tagsüber wird eingetrieben. Abends wird bis zum Umkippen Dampf abgelassen im Club. Sie wohnen isoliert in einer ganz bürgerlichen Gegend. Vom Nachbarn kommen aber eher misstrauische Blicke. Gemeinsames Feiern im berühmten dänischen Versammlungshaus wird es hier wohl nicht geben. Die Söhne symbolisieren nach außen hin echte Männlichkeit. Muskeln, Kraftsport, blutigste Shooter-Spiele, Feiern, Trinken. Aber es gibt Risse in der Fassade, Konflikte lodern ständig auf. Der Älteste, der immer fährt, befiehlt, aber nie selbst Gewalt anwendet. Dass mit dem Jüngsten etwas nicht stimmt, wird ziemlich deutlich, als er Ida fragt, ob er ihre Brüste sehen darf, dann würde er ihr auch sein Dings-da zeigen. Der Mittlere, David, hat ein Drogenproblem und möchte sich offensichtlich befreien von dem Irrenhaus, wozu er aber zu schwach ist. Als er nach längerer Abwesenheit wieder auftaucht, setzt es, unter dem Deckmantel der Brüderlichkeit, einen Haufen Ohrfeigen im Auto. Im Laufe des Films blättert der letzte Putz von der Fassade, und man sieht nur noch in einem grauen Horrorleben gefangene Menschen, aus dem man sich zu Lebzeiten nicht befreien kann. Die Atmosphäre der Unsicherheit verwandelt sich in eine der Bedrohung. Und durch die allerletzte Szene, eine Art Epilog, kann man die 90 Minuten davor übrigens auch als versteckten Horrorfilm betrachten.