Ein tanzendes kleines,
blondes Mädchen im Sonnenlicht. Strahlend von innen und außen. Dazu
ein gefälliger Easy-Listening-Sound. Tanzmusik in ihrem Kopf und als
Film-Soundtrack. Ein Kind in seiner eigenen Welt und gleichzeitig in
Kommunikation mit der Umgebung. Solch eine sich wiederholende Szene
ist die deutlich sichtbare Verbindung zwischen zwei wunderschönen
litauischen Filmen aus der Sowjetzeit des Regisseurs Arūnas
Žebriūnas (1931-2013). Für nur einen kleinen Moment getanzt wird
in dem am Schwarzen Meer spielenden LA JEUNE FILLE A L'ECHO /
PASKUTINĖ ATOSTOGŲ DIENA /
DAS MÄDCHEN UND DAS ECHO (1964). In dem in der Großstadt
angesiedelten LA BELLE / GRAŽUOLĖ (1969, dt.: Die Schöne) hingegen
steht der Tanz im Zentrum der Handlung, bildet sogar den Rahmen. Der
französische Vertrieb Ed Distribution hat diese zwei ästhetisch und
atmosphärisch zusammenhängenden Schwarzweißfilme auf zwei DVDs
herausgebracht. Da die Dialoge einfach und nicht kompliziert sind,
reichen Schulfranzösischkenntnisse völlig aus, um den französischen
Untertiteln folgen zu können.
LA JEUNE FILLE A L'ECHO
LA JEUNE FILLE A L'ECHO
beginnt mit einem Ritual zum Beginn des neuen Tages. Ein Fischerhaus
in den Klippen am Schwarzen Meer. Ein kleines Mädchen mit einem
kurzen, dünnen, flatternden Kleid und in Unterhose, ein Jagdhorn in
der Hand, läuft zum Strand hinaus. Die Sonne taucht gerade am Horizont auf.
Im Vordergrund einer Totalen steht das Mädchen im Wasser und begrüßt, ins Jagdhorn blasend, den Sonnenaufgang. Sie befindet sich als fast ganz
dunkle Silhouette im Gegenlicht, mal im Profil, dann wieder der Sonne
zugewandt, vor der Weite des glitzernden Wassers. Im Hintergrund
sieht man die noch nicht ganz aufgegangene Sonne. Das Mädchen läuft auf dem
steinigen Untergrund im Wasser herum, und einmal sieht es tatsächlich
so aus, als ginge sie auf dem Wasser. Ihrem Herumstreunen folgt die
bewegliche Kamera den Film hindurch in oft langen Einstellungen.
Halb am Strand, halb im
Wasser hängen alte, lecke Fischerboote. Eine langsame
Kamerafahrt an ihnen entlang zeigt, sie heißen alle „Delfin“:
„Sie gehören dem Meer“, erklärt der Großvater. Sie spiegeln
das unverändert gleiche Leben des alten Fischers wieder. Das jetzige
Boot ist sein fünfzehntes. Er fährt hinaus. Aber Vika, so heißt
das von Lina Braknytė verkörperte
Mädchen, muss zurückbleiben und läuft weiter herum. Es ist ihr
allerletzter Ferientag, und im Laufe des Tages soll der Vater kommen,
um sie nach Hause mitzunehmen. Die Poesie aus Licht, Wasser, Leben
entsteht ganz von allein. Es ist nicht so sehr der Film, der sie
ständig sucht, sondern sie wird vor allem erzeugt durch Vika, durch
die visuelle, innerliche Teilhabe an ihrer Welt, als käme die Natur
durch Vika ganz zu sich selbst.
Aber der Strand gehört
ihr nicht allein. Störendes Element ist eine Gruppe von Jungen mit
internen Machtspielchen. Es geht um nichts anderes als die Frage,
wer Chef ist. Und wer möchte das nicht sein, murmelt später einer
von ihnen. Strand, Wasser, Felsen verlieren ihre verzauberte
Qualität, der Vika sich ja voll intuitiven Verständnisses überlässt.
Lustlos trotten sie nur so am Strand entlang, weil sie wohl nichts
anderes zu tun haben und ihnen nichts anderes einfällt. Der Strand
ist ein Ort der Machtdemonstration. Sie repräsentieren die moderne
Welt mit ihrem lauten Transistorradio und ihrer populären Musik, als
wollten sie schon die Möglichkeit der Poesie mit Gewalt bewusst
zerstören. Ein Junge, der am Strand entlang wandert, möchte zur
Gruppe dazugehören, wird aber erst mal außen vor gelassen und bloß
angerempelt. Das wirkt wie ein versteckter Kommentar zum Verhältnis
von Individuum und Kollektiv, subtil verpackt in einen Kinderfilm.
Aber Vika freundet sich
mit diesem Jungen an, und sie vertraut ihm. Höhepunkt des Films ist
ihr Geheimnis: das Echo. Die beiden klettern hinein in das Innere der
hohen Klippen mit Vergangenheit. Der Tod hat hier seine unsichtbaren
Spuren hinterlassen: Auf einem uneinnehmbaren spitzen Felsen, dem
„Teufelsfinger“, saß im Krieg ein Scharfschütze. Vika lässt
laut rufend das erste von mehreren Echos erklingen. Jede Ecke, jede
Echovariation hier kennt sie. Schwenks, Zooms, harte Schnitte,
Totalen, fast streichelnde Detailaufnahmen der steinernen Oberfläche
machen die mächtige, von Abgründen durchzogene, faszinierende
Steinlandschaft lebendig. Es ist ein Tempel, in dem Schweigen
angesagt ist. Die Kamera arbeitet Felsgesichter heraus, als hätten
heidnische Kräfte sie eingemeißelt. Oder als seien es zu Stein
gewordene Riesen aus alter Zeit. Inga weckt sie, bringt die Steine
zum Singen. Dazu sind auf der Tonspur auch elektronische
Soundeffekte. Dann bläst sie das Jagdhorn, Orgelmusik setzt ein, und
alles verbindet sich zu einer großen visuellen und musikalischen,
allumfassenden Natursymphonie, zu der auch das Rauschen des Meeres
gehört. Die Kamera möchte dabei am liebsten überall gleichzeitig
sein, alles einfangen, geht von der Tiefe bis hinauf in den Himmel.
Doch der Junge verrät
Vika später, wirkt mit an ihrer Demütigung durch die Jungengruppe,
als sie wieder einmal nackt badet und ihre Kleidung wie gewohnt
sträflich sorglos im Sand liegen lässt. Nun will dieser Junge
seine Position in der Gruppe festigen und das Geheimnis verraten.
Doch so ganz anders ist diese zweite Klippenszene. Die Gruppe Jungen
klettert hoch. Nebel steigt aus der Tiefe empor. Und egal, wie laut
oder von wo einer ruft, es kommt kein Echo. Die Riesen schweigen. Nur
das Nichts hängt zwischen den auf einmal ausdruckslos und feindlich
wirkenden Felsen. Wie eine Reaktion auf eine Entweihung, wie eine
Strafe für den Verrat, den der Junge beging. Das habe einen
natürlichen Grund, vermutet später Vikas Vater, etwa eine Änderung
der Windrichtung. Aber weder er noch der Junge schaffen es, ein Echo
zu erzeugen. Der Einzige, der außer Vika ein Echo hervorbringt, ist
ein Schäferhund, der sich darüber, äußerst verschreckt,
allerdings nicht begeistern kann.
Was Vika besonders
auszeichnet, ist ein schneller Wechsel der Stimmungen. Jede Stimmung,
jedes Gefühl ist tief und ehrlich. Großaufnahmen des Gesichts
verraten es. Aber gleichzeitig ist bei ihr auch alles sehr flüchtig,
was sie so anpassungsfähig macht. Nach der Demütigung mit der Kleidung und dem Verrat des
Jungen, worauf sie tief gekränkt und verlassen weint, amüsiert sie
sich schnell in einer defekten Telefonzelle, ruft fröhlich lachend
irgendwelche Nummern an. So ist es auch bei der Begrüßung mit dem
Vater. Erst herrscht überschwängliche Freude mit der erwähnten
kurzen Tanzszene. Dann urplötzlich das Umschwenken in Traurigkeit
wegen des Abschieds vom Meer. Bei der Abfahrt dann wieder zeigt sie Freude und
totale Gleichgültigkeit gegenüber dem, was sie hinter sich lässt.
Sie hat eine neue Armbanduhr, und die Sonnenuhr, die sie um einen
länglichen Stein in den Sand gezogen hatte, wurde von ihr sorgfältig
ausgewischt. Anderes Leben, andere Zeit, auch andere, städtisch
gepflegte Kleidung. Ein Schwertransporter nimmt Vater und Tochter
mit. Weitere LKWs brettern hinterher. In einer weiten Totalen sieht
man sie auf der Straße davonfahren. Die Bushaltestelle auf dem Hügel
wirkt wie ein moderner Tempel für die moderne Religion der
Motorisierung: gerade, symmetrisch, funktional durchgeplant, ganz
anders als die wilden, schiefen, einzig und allein von Wind und
Wasser natürlich bearbeiteten Felsen.
LA BELLE
Ein Blick nach oben in
die Bäume, zwischen deren Zweigen die Sonne funkelt. Tanzmusik
erklingt. Die kleine Inga tanzt im Kreis ihrer Freunde in einem
trockenen Flussbett bei einer Parkbrücke und bekommt Komplimente
zugeworfen, die klingen wie Prinzessinnen-Beschreibungen aus einem
Märchen. Das ist das Spiel „Die Schöne“, auch wenn der
Zuschauer diese Bezeichnung erst später erfährt. Spiel und
Wirklichkeit sind eins für Inga. Sie spielt Schönsein und findet
sich schön. Dabei tanzt sie, etwas selbstverliebt, strahlend,
zufrieden, zwischen Natürlichkeit und Imitation erwachsener Gesten. Sie öffnet
die Haare, und sie wendet den Blick in die Kamera. Und die Kamera
bewegt sich mit ihr im Kreis. Diese Kreisbewegung deutet auch die
Bewegung des Films selbst an, der hinterher an diesen Ausgangspunkt
zurückkehren wird, aber in leicht abgewandelter Form.
Die kleine
Hauptdarstellerin heißt Inga Mickytė und LA BELLE ist ihr zweiter
Film. Danach folgte nur noch ein weiterer. Aber ihr Debüt gab sie in
einem ebenfalls von Arūnas Žebriūnas inszenierten TV-Kurzfilm.
MIRTIS IR VYŠNIOS
MEDIS (1968, dt.: Der Tod und der Kirschbaum) spielt vermutlich an
der Ostsee und bildet so eine ganz konkrete filmische Brücke vom
Film am Meer zum Film in der Stadt. Es geht um drei Kinder –
ein Junge und zwei Mädchen – an einem Strand mit
Weltkriegsbunkern, was zum Krieg spielen inspiriert, und wobei vor
allem das tot spielen perfektioniert wird. Nur das kleinere,
etwas jüngere Mädchen, das außen vor bleibt, kann mit all dem
nichts anfangen: Sie will für den Jungen ein imaginäres Essen
machen. In ihrem Kopf sieht sie im Meer einen Kirschbaum stehen,
darunter zwei Stühle und einen Tisch. Doch die Flut löst alles auf,
während die anderen beiden Krieg und Tod spielen. Die destruktiven
Kräfte siegen über die kreativen.
In LA BELLE guckt Inga
nach der munteren Einleitung etwas deprimiert aus dem Fenster. Das
Leuchten im Gesicht ist fort. Sie bewohnt mit ihrer Mutter eine kleine
Hinterhofwohnung. Inga liest „Die drei Musketiere“ und der Tod
einer Figur im Buch und ein wirklicher Tod im Leben machen für sie keinen
Unterschied. Die Mutter steht vor dem Spiegel, kämmt sich, strafft
in routinierter, erwachsener Faltenprüfung Hals und Gesicht. Inga
guckt genau zu, macht es erst geistig, dann praktisch nach. Den
zweifelnden Blick der Mutter hat sie nicht wahrgenommen. Für Inga
ist alles Ausdruck von Schönheit: „Später werde ich auch einmal
so schön wie du.“ Die Mutter, die offensichtlich anders über sich denkt und schon das
Altwerden nahen sieht, guckt sie skeptisch an, sagt aber nichts.
Gleichzeitig fragt sie im Laufe des Films ihre Tochter wiederholt:
„Hat jemand nach mir gefragt?“ Aber auf wen wartet sie? Auf den
Vater der Tochter, auf den imaginären Märchenprinzen?
Der
Treffpunkt der Nachbarschaftskinder ist draußen in einem Hinterhof
mit metallenen Treppen, ein kleines labyrinthisches Reich für sie
ganz allein. Es gibt auch viele Straßenaufnahmen, bei denen die Kinder
völlig ungestört herumlaufen können. Die klassischen Institutionen
wie Eltern und Schule fehlen völlig, abgesehen von Ingas Mutter. Die
Kinder hier sind sich selbst genug. Der Film nimmt zwar die
Perspektive der Kinder, vor allem Ingas, ein, lässt ihnen aber ihr
Geheimnis. Man weiß nicht immer, was sie denken. Man versteht
manchmal nicht, was sie da machen, und so tut sich da ein
geheimnisvoller Realismus auf. Und die Kinderwelt kann grausam sein,
wenn das neue Kind, dem Hunde lieber als Menschen sind, in der
Nachbarschaft über das Spiel „Die Schöne“ lacht und gegenüber Inga später
noch grausamere Dinge über ihr Aussehen sagt, die sie zum Weinen
bringen.
Und Inga entspricht ja
auch nicht dem angesagten Schönheitsideal, das durch ein Foto vom Typ Brigitte Bardots verkörpert wird. Es folgt ein
kurzer Augenblick unendlicher Traurigkeit, der absoluten
Weltverlassenheit. Sie weint bitterlich. Aber ein anderer Junge vom Hof,
offensichtlich etwas verliebt, hilft ihr bei der Suche nach der
Schönheit: Er bringt sie zu einem schicken Friseursalon. In dieser
Szene ist keine Ironie im Spiel. Alles ist ganz authentisch
realistisch und innerlich, wird nur durch die Einstellungswechsel und
das Gesicht Inga Mickytės wiedergegeben: Neugier, unsicheres
Beobachten der Umgebung mit ihren seltsamen Geräten, und dann der
abschließende Schrecken, als die nächste Kundennummer aufleuchtet
und es ungeduldig surrt, als würde da drinnen ein großes Ungeheuer
sie hineinrufen und nicht mehr hinauslassen. Sie rennt davon. Inga
flieht vor dieser furchteinflößenden Geisterbahn der Schönheit, wo
Menschen sich zwecks ästhetischer Optimierung freiwillig
undurchschaubaren Foltergeräten unterwerfen.
Warten, Hoffen, das hat
hier wenig Positives. Es wird mit dem Tod und Zukunftslosigkeit
verbunden. Das treue Warten wird versinnbildlicht durch den
Schäferhund am Fluss, in dem dessen Herrchen drei Monate zuvor
ertrunken ist. Dann ist da ein alter Mann, der hilft, einen Hund vor
der Abrissbirne aus einem Haus zu retten und der jetzt auf einer Parkbank sitzt, genau da, wo
früher sein Zuhause voller Kindheitserinnerungen war. Er wartet auf
gar nichts mehr, höchstens auf den Tod. Und wenn der Film am Ende
wieder zum Flussbett des Anfangs zurückkommt, fragt Inga endlich ihre Mutter, auf wen sie denn eigentlich wartet, aber dann
weiß die Mutter es selbst nicht. Erwachsene sind ernüchterte Kinder
mit Erwachsenenmaske. Sie hoffen, ohne an das Erhoffte zu glauben.
Sie warten und wissen, es kommt niemand. Das ist eine fantomartige
Abhängigkeit von anderen. So wie Inga hinter dem Kind, das grausam
zu ihr war, eine Zeit lang hinterhergelaufen ist wie ein herrenloser
Hund.
Auf die Äußerung der
Mutter, dass sie beide nicht schön seien, reagiert Inga mit dem
Spiel „Die Schöne“. Und sie hört „die Pflanze singen“, die
knospenden Weidenkätzchenzweige, um die im Film so viel gerätselt
wird. Jedenfalls ist sie sich am Ende des Films selbst genug. Der
Kreis schließt sich, aber er hat sich verändert. Der Blick geht
wieder nach oben, in die Bäume, den Himmel, vereinzelte weiße
Wolken, die Sonne. Inga spielt mit sich „die Schöne“, tanzt, die
Kamera kreist mit. Aber diesmal sind da nur ein paar Steine auf
dem Boden, keine Spielkameraden. Sie sagt sich jetzt wohl die
Komplimente einfach selbst, ohne Hilfe von außen. Es kommt ganz aus
ihr selbst. Und vielleicht ein bisschen aus der Pflanze, die sie ja
singen hört.
Weitere Filme von Arūnas Žebriūnas
Von 1959 bis 1977 drehte
Arūnas Žebriūnas fast ausschließlich Filme mit, über und für
Kinder. Zumindest offiziell waren es solche Kinderfilme, aber im Kern
sind es Werke mit allgemeineren, komplexeren, auch subtil subversiven
Ideen unter der sichtbaren Oberfläche. Der weniger beachtete
Kinderfilm gab eine Möglichkeit, unter dem Radar der Aufmerksamkeit
der kommunistischen Partei und ihrer Propagandawünsche und Zensoren zu arbeiten. Folgendes Zitat von ihm ist aus dem Pressedossier von
Ed Distribution: „Ich habe angefangen, Kinderfilme wegen der Zensur
zu machen. Ich habe keine Filme für Kinder, sondern mit Kindern
gemacht. Die Atmosphäre, die in der Kunstwelt der Sowjetunion
herrschte, war abstoßend, ich wollte mich nicht verstrickt in der
Partei wiederfinden. Als ich anfing, Filme mit Kindern zu drehen,
haben sich alle Forderungen der Partei in Luft aufgelöst.“
Innerlichkeit, Fantastik, Spiritualität, das Loblied des
Individuellen statt des Kollektiven, Widersprüche der angeblich so perfekten Gesellschaft, das ließ sich nur in
scheinbaren Kinderfilmen und Märchen unterbringen.
Sein
Regiedebüt gab Žebriūnas in dem Episodenfilm GYVIEJI DIVYRIAI
(1959, dt: Die lebenden Helden) mit dem dritten der vier
Teile, die alle vom Leben von litauischen Kindern in verschiedenen Zeiten
handeln. „Paskutinis šūvis“ spielt 1947, als noch der
Partisanenkrieg zwischen litauischen „Waldbrüder“-Partisanen und
den Kommunisten mit den sowjetischen Besatzungstruppen andauerte. Erzählt wird ein
Ereignis aus dieser Zeit, aber nicht kollektiv-historisch, sondern
mit starker, teilweise dunkler Naturpoesie auf mythisch-symbolische
Art und Weise. So entgeht Žebriūnas der Propaganda. Im Mittelpunkt
steht schon hier ein kleines blondes Mädchen, das unangefochten von
aller Politik und dem sie umgebenden Tod in und mit der Natur lebt.
Zu Beginn entdeckt man sie hinter einem zerbombten Panzer. Sie
flechtet einen Kranz, den sie an Stacheldraht hängt. Man sieht eine
Reihe von Booten voller schwarzer Silhouetten mit Särgen zu einer
Friedhofsinsel rudern, wie der Tod über den Styx. Als sie im Sumpfgebiet auf einen Partisanen stößt, gibt sie ihm Essen, so wie
sie vorher ihre geliebten Schwäne fütterte. Als der Mann aber fast
ausgebrütete Schwaneneier wegen Ungenießbarkeit einfach wegwirft,
revanchiert sie sich und stiehlt seine Munition. Als der Partisan, wie in
einer Racheaktion der Natur, in den Sumpf herabgezogen wird und
ertrinkt, hat er zuletzt eine Vision von dem Mädchen als ein ihn böse
angrinsender Dämon und feuert irgendwie noch einen Schuss ab und
tötet sie. Das letzte Bild des Kurzfilms aber sind zwei fliegende
Schwäne vor dem weiten Himmel, als würden sie ihre Seele an den
vorgesehenen Ort transportieren.
MAŽASIS
PRINCAS (1966, dt.:
Der kleine Prinz) ist eine Verfilmung des modernen Märchens „Der
kleine Prinz“ (1943) von Antoine de Saint-Exupéry, das unter dem
Motto „mit dem Herzen sehen“ vom großen bewusstseinsmäßigen
Verlust beim Erwachsenwerden handelt. Der Film hat nichts
Theaterhaftes und ist visuell ungeheuer spannend, verbindet ohne
Bruch einen realen Schauplatz mit pur abstrahierender
Studiodekoration. Auf der einen Seite blauer Himmel,
unendliche, niemals statische Wüste, sich bewegender, rieselnder
Sand, Wind. Auf der anderen Seite der geordnete Planetenraum, der
ganz einfach stilisiert aus luftballonartigen Kugeln, Draht, Farben,
Lichteffekten besteht, aber eine überzeugend traumhafte Atmosphäre
entstehen lässt.
NAKTIBALDA
/ TOMAS DER TRÄUMER (1973) spiegelt in mancher Hinsicht LA BELLE.
Diesmal aber aus Jungensicht. Drehbuchautor ist wieder Yuriy Yakovlev
(1922-1995). Die einleitende Kreisbewegung von LA BELLE wird in
NAKTIBALDA am Anfang wieder aufgenommen, diesmal mit einem kleinen
Elektroflugzeug an einer Leine, das sich durch ein Missgeschick löst
und frei durch die Luft fliegt. Auch hier ist es wieder ein
unausstehlicher Junge, ein Kollektivanführer, der stört und das Flugzeug mit
einem Armbrustschuss auf den Boden der Tatsachen zurückholt.
Hauptfigur Domas selbst lässt sich aber nicht gerne auf den Boden
der Tatsache zurückholen. Er schläft, wo immer er kann,
sogar vorne an der Tafel, und in den Schulpausen hat er seine festen
Ruheecken. Seine Träume werden wiedergegeben als in Rot getauchte,
surreale Verarbeitungen des Tages. Als er von einem General träumt,
der ihn für eine Heldentat auszeichnet, erzählt er dies überall
herum und wird verspottet. Es gibt viel absurde Komik in NAKTIBALDA,
etwa die Herausforderung einer Lehrerin zum Duell, der er den
Fehdehandschuh hinwirft. Domas' ebenso alltagsuntauglicher Vater, der
am liebsten Klarinette spielt, sorgt für Humor, vor allem als er als
offensichtlicher Problemfall gleich mit zum Schularzt geschickt wird,
wo die beiden Erwachsenen mit einem Kopfstand an der Wand enden. Nur
so wird die Welt wieder gerade. NAKTIBALDA
hat zwar an sich einen konventionelleren Stil als LA BELLE, aber
Träume und Humor gleichen dies wieder aus.
VELNIO
NUOTAKA (1974, dt.: Die Teufelsbraut) ist überhaupt kein Kinderfilm,
aber ein fantastisches, tempo- und ideenreiches Märchenmusical
zwischen Rockoper und Volkstümlichem um den Pakt eines Müllers mit
einem Teufel, einem kleinen Dämon, der bis zur Erfüllung seines
Wunsches auf dem Mühlendachboden haust. Denn er will, wenn sie
erwachsen ist, die Müllerstochter heiraten. Zwischen einem
stattlichen Verehrer und den dämonischen Kräften entsteht ein
erbitterter Kampf, in dem alle zur Verfügung stehenden Waffen der
Hölle aufgewendet werden. Aber am Schluss hilft wirksamer
Gegenzauber. Und ganz am Schluss steht die hübsche Weisheit, dass
Liebe selbst den egoistisch Bösen
retten kann.
SEKLIO
KALIO NUOTYKIAI (1976) ist die Verfilmung von „Meisterdetektiv
Kalle Blomquist“ (1946), dem ersten der drei Kalle-Blomquist-Bücher
von Astrid Lindgren. Das Ganze spielt in der Gegenwart, hat aber
einen nostalgischen Touch durch alte Autos, Ragtime-Musik und die
Kleidung der Gangster, die nach 1930er und 1940er aussehen. Der
Handlungsort ist Schweden, das sieht man sofort an einem Bier-Schild
an einer Hausfassade: „Öl“. Alles spielt in sehr begrenzten,
sparsamen Dekors. Um dennoch kräftig modernes Tempo und Abwechslung hineinzubekommen,
reicherte man die Story mit fast-anarchistischen Knallerbseneffekten
an. Außerdem singt Eva-Lotte immer wieder das Lied „Josefina“
und bringt ihre Umgebung zum Tanzen. Dazu kommen ein mitunter slapstickartiger Humor und ein bisschen kindliche Magie
durch das alte Auto ohne Motor, das nur Kalle wie von Zauberhand
starten kann, was an Pippi Langstrumpfs Radfahren
ohne Reifen
erinnert. Im Ganzen ein sehr sympathischer und gut gelaunter
Film.
RIEŠUTŲ
DUONA (1977, dt.: Nussbrot) handelt nur am Anfang von der Kindheit,
wird dann zum Jugendfilm und erzählt eine durch die melancholische
Erinnerung bittersüß gewordene Liebesgeschichte. Es geht um
das Landleben in der Nachkriegszeit, geschildert auf eine
abwechslungsreich realistische, deftige und absurde Weise. Der dumme
Streit um eine kranke Kuh verfeindet zwei Familien. Die Erwachsenen
werden hier in ihren Spinnereien alt, vor allem die Männer. Hinzu
kommen fantastische Elemente: In der Vorstellung eines Kindes ist Tod
gleichbedeutend mit dem Wegfliegen mit dem Flugzeug. Der tote
Großvater taucht hin und wieder als Geist auf. Alles,
auch die Liebesgeschichte, endet schließlich damit, dass die Welt
sich ändert. Ein Schuster zieht mit seiner Familie in die Stadt, um
in der Fabrik zu arbeiten. RIEŠUTŲ DUONA bildet den Übergang von
Žebriūnas zu Filmen vorwiegend mit Erwachsenen, darunter auch die
Fernsehserie BOGACH, BEDNYAK... (1982) über deutsche Auswanderer
1945-1960 in den USA.