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Sonntag, 12. Juli 2020

Jesper W. Nielsens UNDTAGELSEN – Bös psychologisch


Man kann sich am Anfang von Jesper W. Nielsens neuem dänischen Film UNDTAGELSEN / THE EXCEPTION (2020) leicht täuschen lassen. Da ist vor allem die bemerkenswert starke Besetzung der vier handlungstragenden Frauen mit Sidse Babett Kndusen, Amanda Collin, Danica Curcic, Lene Maria Christensen. Eine männliche Nebenrolle wird gespielt von Simon Sears, einem Star aus der Pastoren-TV-Serie HERRENS VEJE / DIE WEGE DES HERRN (2017-18). Viele tiefschürfende psychologische Erkenntnisse zum Thema Völkermord, sogar als lesbare Schrifttafeln, werden eingeblendet und aufgesagt. Das sorgt für ehrerbietige Ehrfurcht. Dazu eine ungeheuer gepflegte Atmosphäre, im Einklang mit der Bedeutung suggerierenden Musik – viel gedehntes Cello! Das kann auch den hartgesottensten Zuschauer  einlullen. Und wenn man nicht irgendwann innerlich stopp sagt, beginnt man noch, über die Zusammenhänge von Unzusammenhängendem, von Unsinn nachzudenken. Denn wer nicht per se auf Anhäufung von Prätentiösität allergisch reagiert, wer sich also vom großen, geschickt gedämpften Kunst-Vorschlaghammer betäuben lässt, könnte sich verpflichtet fühlen, dem Ganzen folgen, es verstehen zu wollen, vielleicht noch nach dem Kino darüber nachzudenken. Nur unterschätzte Kardinaltugenden wie Schulterzucken und Gleichgültigkeit bieten einen rettenden Ausweg.

Und wenn ich hier von Unsinn schreibe, müsste das ja nicht grundsätzlich negativ gemeint sein. Denn aus einer gesunden Distanz betrachtet, handelt es sich bei UNDTAGELSEN um puren, reinen, echten Trash. Allerdings Trash, der bloß keiner sein will. Übervoll, verworren, ididotisch, was könnte das für ein irrer B-Film sein, so voll gestopft mit Handlung, Handlungen und Themen. Und dann diese B-Film-artige Weisheit, die einem dieser Film, der in einem Institut zur Erforschung von Völkermord spielt, in unfreiwillig grandioser Dämlichkeit vermittelt: Hüte dich vor Frauen, die an solch einem Ort arbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Die haben allesamt nicht nur einen gut versteckten Dachschaden, die sind auch noch durchweg gemeingefährlich.

Eine Mitarbeiterin war mal in afrikanischer Geiselhaft und konnte sich befreien, erzählte allerdings die Lüge, dass sie sich mit einem Kindersoldaten angefreundet hatte, der sie frei ließ. In Wirklichkeit hat sie ihn erstochen, um dann wegzulaufen. Jetzt ist sie total psychisch gestört und hat ständige Visionen von dem toten schwarzen Jungen. Eine hat in jungen Jahren schon Gicht, damit sie laut Drehbuch gesunde Menschen hassen, ihr Freund ihr weglaufen und man ihre Tabletten vertauschen kann, damit sie so richtig krank wird. Eine hat Depressionen, Entfremdungsgefühle, wird gemobbt und möchte der schlimmsten Kollegin am liebsten mit einem Hocker den Kopf zu Brei schlagen, gespielt übrigens von einer faszinierenden und selten so gesehenen grau wirkenden Sidse Babett Knudsen. Und eine vierte Kollegin ist einem serbischen Kriegsverbrecher hörig und hat von diesem sexuelle Visionen. Die Arbeit in dem Institut macht sie quasi als Buße. Mal ehrlich. Geht's noch bekloppter? Und ja, durch den Film spuken tatsächlich gleich zwei psychopathische Geister. Nur eine krankhafte Berufsbetroffenheit kann das ernst nehmen und es nicht saukomisch finden.

Wobei man bei einem anderen Problem ankommt. Wie viel Ironie ist da nun doch in dem Film? Sehe ich die Ironie, weil ich sie sehen will, oder ist das alles bis ins Letzte total ernst gemeint und damit einfach grottenschlecht. Da ist beispielsweise ein Einbruch in ein Haus, den eine der intellektuellen Frauen in einer Kleidung wie aus einem Nick-Knatterton-Cartoon durchführt. Fehlt nur noch das Schild auf dem Rücken mit der Aufschrift „Einbrecher“. Und am Ende taucht eine Polizistin auf, die perfekt die Theorie der Psychologie beherrscht und auch so verquast spricht, was schrecklich bizarr und unpassend wirkt.

Oder der alte, angegraute, linke, afrikaerfahrene schwedische Journalist, dem die Weiber nicht widerstehen können, ja, für den sie morden könnten. Vielleicht, weil er im Bett eine sexy Predigt hält, dass unsere Nachfahren wegen der Ausbeutung der Restwelt uns mal so betrachten würden wie die Deutschen ihre Nazi-Großeltern. Nun ist erstens das große Interesse der Enkel für ihre während der Nazi-Zeit erwachsenen Großeltern in Deutschland kleiner gewesen, als man im Nachhinein glauben machen möchte. Und zweitens kann sich der Glaube, die weiße westliche Zivilisation sei an allem Elend der Welt Schuld, durchaus mit dem Größenwahn der Imperialisten und Raubkolonialisten messen. Aber vielleicht ist es ja gerade dieser moralistisch anklagende Größenwahn, der ihn so anziehend macht.

Der einzige kleine Teil des Films, der eine Reihe von spannenden und auch intensiven Szenen hervorbringt, ist ganz einfach der um eine Gruppe von Frauen, die ständig über das Böse schreiben, aber selber im Privaten das Böse herauslassen, vor allem durch den grausamen Umgang mit einer Mitarbeiterin, die mächtig gemobbt wird, noch angeheizt durch anonyme Drohmails. Und das bei Menschen, die es doch besser wissen sollten, weil sie alle Theorien kennen. In diesen Szenen geht es um das Böse, das in jedem steckt, das keine Erziehung, keine Pädagogik, keine Psychologie auslöschen kann. Denn es bleibt im Kern eine moralisch-religiöse Frage. Aber dabei belässt es der Film ja nicht. Und zu allem Überfluss versucht der Film am Ende mit einer  Wendung zu einem de-Palma-artigen Thriller über Lüge und Wirklichkeit aus der eigenen Verwurstung herauszukommen und scheitert peinlichst. Was bleibt, ist eine immer mehr ins Leblose abgleitende Filmkonstruktion, die viel zu sehr auf theoretischen Prämissen beruht.

Donnerstag, 25. Juni 2020

Kasper Rune Larsens HOTEL PARADIS – Der Halbbruder-Bruder


Ein schönes Geschenk, das die dänische Filmzeitschrift EKKO einem da gemacht hat, als sie Kasper Rune Larsens kurze Webserie HOTEL PARADIS (2020) als Streaming auf ihre Netzseite stellte. Die Umstände sind allerdings nicht ganz so lustig. Denn diese mit öffentlicher dänischer Filmförderung gedrehte Serie will kein dänischer Fernsehsender kaufen. 2019 war Kasper Rune Larsen damit auf den Berliner Filmfestspielen auf der Suche nach internationalen Käufern. So ein Ärger ist vermutlich die Quittung, wenn man nicht den zur Zeit angesagten formatierten Storytelling-Kram, weswegen ich beispielsweise viel weniger Serien gucke als früher, kopiert, sondern sich auf sehr persönliche Weise von Interessanterem inspirieren lässt: von der britischen Sitcom FAWLTY TOWERS mit John Cleese, von David Lynchs TWIN PEAKS und mit seiner jütländischen Provinzthematik ist HOTEL PARADIS auch ein bisschen verwandt mit Bruno Dumonts Nordfrankreich-Serie P'TIT QUINQUIN (2014). Kann es wirklich sein, dass Fernsehbürokraten sich bei dem Ganzen nicht so gut unterhalten wie ich?

HOTEL PARADIS beginnt mit Asger, der ein junger, für kurze Zeit sehr erfolgreich gewesener Künstler aus Kopenhagen ist, der „am schnellsten verkaufende Künstler Dänemarks“. Der kommt mit seinen finanziellen und großen kreativen Problemen in die Provinz – „in the middle of fucking nowere“ – um der Verlesung des Testaments seines Vaters beizuwohnen, den er nie kennengelernt hat. Da trifft er zum ersten Mal auf seine beiden Brüder, den freundlichen fülligen Koch Jan und den neurotischen Portier Dan, die beide im väterlichen Hotel arbeiten, um das es in dem Testament vorwiegend geht. Nach und nach kommen noch einige eigenwillige Charaktere dazu. Stammgast Bodil ist eine Amateur-Künstlerin mit festem Wohnsitz in dem Hotel. Nachbarstochter Bob, ein echter Hillbilly und Waffennärrin, wie es sie in Europa mehr geben sollte. Schlüsselfigur dieser ersten Staffel ist der ständig besoffene Onkel, der aber als Einziger sagen kann wo das Testament ist, wenn man ihn denn in häuslicher Pflege mal aus dem tiefen Alkohol-Koma bekäme: „Wir gehen doch nicht zum Arzt, wir sind nicht in Kopenhagen.“ 

Larsen denunziert seine Figuren aber nie. Echte böse Satire gibt es nur bei einer Abordnung aus Kopenhagen, als Vertreter der „Kunstauswahl“ in dem Hotel auftauchen und, wie im Leben, sich über alles Provinzielle lustig machen. Das wirkt witzig, ist aber sehr real. Als ihnen von Bob mit Pistole fast der Kopf weggeblasen wird, glauben sie hinterher an eine gelungene Kunstperformance, die sie gleich mit angelernten Floskeln theoretisieren. Was auch immer hier gezeigt ist, die Serie ist auf der Seite der Leute aus Jütland, übrigens auch die Heimat des Regisseurs, der geboren wurde in Vejle.

HOTEL PARADIS ist im Ganzen eine schöne Mischung aus ernst und heiter. Viel Humor entsteht ganz einfach durch die Dialoge, aber nicht nur durch pointierten Inhalt, sondern durch die Art, wie miteinander geredet wird. Da sind Menschen, die sich manchmal um Kopf und Kragen reden, wenn sie denn reden. Und dann wieder herrschen Pausen vor, dann wieder Sprachlosigkeit, Ausflüchte ins Umhergucken, linkische Bewegungen. Und oft besteht Kommunikation bloß aus Befehlen und Monologen. „Du redest nicht mit mir, du redest zu mir.“, beschwert sich Jan bei Dan. Und dann die unnachahmliche Art, wie Dan es aus sich herauspressen muss, dass Asger sein Bruder ist, wie er auf dem Wort Halbbruder besteht, um Distanz zwischen sich und ihn zu legen, und wie Jan auf „Bruder“ besteht, sodass über Dans zusammengepresste Lippen das Wort „Halbbruder-Bruder“ kommt.

Larsen ist immer dicht dran an den Figuren, manchmal schmerzhaft lange. Und trotz der seltsamen Charaktere bedient Larsen nicht die Freunde der nordischen Skurrilität. Denn hier geht es eher seltsam als skurril zu. Unnormales Verhalten ist nicht zum Amüsieren und Lachen, es verschiebt eher den Maßstab der Normalität, um am Ende vielleicht ganz woanders zu landen. Wenn etwa Dan am Bett des besoffenen Onkels sitzt, sich erleichtert die Schuhe und Strümpfe auszieht und sich den linken Fuß einsalbt und dann mit der rechten einen Fransk Hotdog isst, also Würstchen in Weichbrötchen mit Remoulade, dann ist das nicht witzig, sondern perfekter realer Surrealismus. Oder wenn Bob mit ihrer Spielkameradin brutales American Football spielt. Und auch wenn es gerade nicht danach aussieht, wäre es trotz allem schön, falls es mal eine Fortsetzung geben könnte, denn gerade am Schluss deutet sich durch Träume und Dämonisches einiges an. Und irgenwie mag man nicht aufören, diesen Figuren zuzugucken, was auch ein großes Kompliment an die Schauspieler ist, also Jonas Lindegaard Jacobsen als Asger, Bodil Jørgensen als Bodil, Jesper Ole Feit Andersen als Dan, Alexander Leo Christiansen als Jan und Frederikke Dahl Hansen als Bob.

Jeanette Nordahls KØD & BLOD – Familien-Bande


Eine Familiengeschichte mit Elementen des Gangsterfilms, des Mafiafilms und seinen ungeschriebenen Gesetzen der Loyalität und Omertà, erzählt Jeanette Nordahls Spielfilmdebüt KØD & BLOD, dessen internationaler Titel WILDLAND lautet, aber FLESH & BLOOD (1985) ist ja bekanntlich besetzt mit Paul Verhoevens blutigem Mittelalter-Spektakel. In dem dänischen Film geht es nach Nordfünen, in die Provinz, zumindest wurden Teile des Films dort aufgenommen. Im Prinzip wird alles aus Sicht des jungen Mädchens Ida, gespielt von Sandra Guldberg Kampp, erzählt, das nach dem Tod der Mutter in einem Autounfall bei der Tante mit ihren drei Söhnen unterkommt, die unter anderem Geld verleihen und eintreiben. Ida ist die beobachtende Hauptfigur, spiegelt das Geschehen wieder, ist halb aktiv teilnehmend, halb passiv beobachtend beteiligt. Sie will ganz offensichtlich dazugehören, aber dann wird ein kleines Mädchen benutzt, um den Vater zu bedrohen, und es wird in einem Handgemenge jemand erschossen.

Regisseurin Jeanette Nordahl hat in den Jahren zuvor zwei Kurzfilme gedreht. Einmal den englischsprachigen WAITING FOR PHIL (2012), der von einem Bestatter handelt, dessen Frau stirbt und die er selbst einbalsamieren will, während die Tochter vergeblich auf klassische, gesellschaftlich codierte, verständliche Zeichen der Trauer wartet und den Vater in ihrer Hilflosigkeit beschimpft. Und mit der Drehbuchautorin von KØD & BLOD, Ingeborg Topsøe, arbeitete Nordahl schon bei ihrem Kurzfilm NYLON (2015) zusammen. Mit Eltern angereist aus Dänemark zur Geburtstagsfeier des schwedischen Großvaters in dessen Ferienhaus, trifft ein Jugendlicher auf die junge hübsche krebskranke Tante, die ihn in einer Mischung aus Sexualität und Tod fasziniert. Die konsequente Perspektive ist die des Jungen. Wenn er einmal in das Schlafzimmer der Tante schleicht, interessiert er sich nicht für ihre Unterwäsche, sondern für die Medikamentenbatterie auf der Kommode. Am Ende kommt es zu einer Art Missbrauch besonderer Art: Sie macht ihn zum unwissenden Komplizen ihres vermutlichen Selbstmordes. Eines haben alle drei Filme gemeinsam: Es geht um die familiäre Erwartungshaltung in Bezug auf bestimmtes Verhalten. Sei es, bestimmte Gefühle zu zeigen, sei es, sich diszipliniert zu benehmen, selbst bei persönlichen Problemen, sei es nach außen hin über auch illegale Interna zu schweigen. Nordahl hat offensichtlich ein Interesse für das, was unter der Oberfläche existiert in scheinbar durchstrukturierten familiären Verbindungen, wofür sie sich Grenzsituationen wählt.

Weiterentwickelt haben Nordahl und Topsøe im Vergleich zu NYLON das Prinzip der ökonomischen Erzählweise und der Leerstellen, was zunächst einmal auf der rein formalen Ebene die größte Qualität des Films ist. Gleich am Anfang lässt sich das gut sehen, wenn die Vorgeschichte und die Unterbringung des Mädchens bei der Familie der Tante in wenigen Bildern und Sätzen erzählt werden. Man sieht nur das Unfallauto auf dem Dach liegen. Man hört den Sozialarbeiter vom Jugendamt. Da man nicht alles breit vorgesetzt bekommt, entsteht mehr noch als in NYLON eine Atmosphäre der Unsicherheit. Oft wird nicht das ganze Geschehen gezeigt, sondern nur Idas Blick darauf, wobei sie sich selten etwas anmerken lässt und schon gar nichts sagt. Genau genommen ist der Film eine Rückblende, denn aus dem Off leitet Ida alles ein und deutet Tragik an durch die Weisheit, dass es für manche schon vorbei ist, bevor es richtig angefangen hat. Das aber ist eine Drehbuchweisheit, nicht die eines jungen Mädchens. Hätte man weglassen können. Vielleicht sogar besser sollen.

Alles kreist um die von Sidse Babett Knudsen dargestellte Mama. Sie verkörpert Mütterlichkeit, ist die umarmende, erdrückende, im Zweifelsfall ebenso hysterische wie kalte Übermutter, deren Söhne zwar Gauner, aber im Grunde sehr weich sind. Wenn der eine bei ihr auf dem Schoß liegt und sich den Kopf kraulen lässt, ist das weniger inzestuös, als ein Hinweis auf das geistige Alter des Sohnes. Aber dann sitzt sie nachts wie eine ganz normale überbesorgte Mutter da und kann erst schlafen, wenn die ganze Herde wieder im Haus ist. Sie ist eine Provinz-Version der kleinen Reihe von filmischen Gangstermamas mit seltsamen und teilweise mehr oder weniger leicht gestörten Jungs. Da kann man sogar an Ma Dalton aus Lucky Luke denken. Oder an Ma Barker, verewigt von Roger Corman als BLOODY MAMA (1970). Oder etwa an die Mutter des psychopathischen Kriminellen in Raoul Walshs WHITE HEAT / MASCHINENPISTOLEN (1949).

Nach außen ist die Familie Clubbesitzer. Aber die Haupteinnahmequelle ist wohl der Geldverleih. Tagsüber wird eingetrieben. Abends wird bis zum Umkippen Dampf abgelassen im Club. Sie wohnen isoliert in einer ganz bürgerlichen Gegend. Vom Nachbarn kommen aber eher misstrauische Blicke. Gemeinsames Feiern im berühmten dänischen Versammlungshaus wird es hier wohl nicht geben. Die Söhne symbolisieren nach außen hin echte Männlichkeit. Muskeln, Kraftsport, blutigste Shooter-Spiele, Feiern, Trinken. Aber es gibt Risse in der Fassade, Konflikte lodern ständig auf. Der Älteste, der immer fährt, befiehlt, aber nie selbst Gewalt anwendet. Dass mit dem Jüngsten etwas nicht stimmt, wird ziemlich deutlich, als er Ida fragt, ob er ihre Brüste sehen darf, dann würde er ihr auch sein Dings-da zeigen. Der Mittlere, David, hat ein Drogenproblem und möchte sich offensichtlich befreien von dem Irrenhaus, wozu er aber zu schwach ist. Als er nach längerer Abwesenheit wieder auftaucht, setzt es, unter dem Deckmantel der Brüderlichkeit, einen Haufen Ohrfeigen im Auto. Im Laufe des Films blättert der letzte Putz von der Fassade, und man sieht nur noch in einem grauen Horrorleben gefangene Menschen, aus dem man sich zu Lebzeiten nicht befreien kann. Die Atmosphäre der Unsicherheit verwandelt sich in eine der Bedrohung. Und durch die allerletzte Szene, eine Art Epilog, kann man die 90 Minuten davor übrigens auch als versteckten Horrorfilm betrachten.

Sonntag, 24. Mai 2020

MINA UND DIE TRAUMZAUBERER – Die Welt hinter dem Traum



MINA UND DIE TRAUMZAUBERER (2020) ist ein dänischer computeranimierter Familienfilm über Traum und Wirklichkeit und den gegenseitigen Einfluss zwischen beidem. Gefährlich wird es in diesem auch für Erwachsene unterhaltsamen und amüsanten Kinderfilm, wenn die Grenzen zerfließen. Die Animation ist ansprechend bunt, übersichtlich, aber hat an den richtigen Stellen einen spannenden Sinn fürs das Kleine, fürs Detail.

Grundlage ist eine einfache Story um eine Patchwork-Familie, die sich zusammenraufen muss, aber es zunächst nicht schafft. Vater mit Tochter, Hauptfigur Mina, ziehen zusammen mit Mutter und Tochter, Zwangs-Schwester Jenny. Jenny ist auf den ersten Blick ein typisches überkandideltes Smartphone-Instagram-Mädchen, das auf Follower scharf ist und auf der Bühne von der Masse bejubelt werden möchte. Sehr schnell hassen die beiden sich, und als Mina mitbekommt, dass Jenny über sie und ihren schön-hässlichen Pullover öffentlich im Netz spottet, geht sie zum Gegenangriff über. Da Mina unzufrieden ist mit der Wirklichkeit, will sie ein neu entdecktes Instrument nutzen, um diese zu ändern.

Eine erste Traum-Sequenz gleich am Anfang ließ schon ahnen, dass das kein einfacher Familienfilm wird. Man ist in einem Traum Minnas, der eine Ahnung dessen ist, was kommen wird. Eine geordnete, harmonische Welt gerät in Unordnung, in Auflösung. Mina spielt auf einer Art Schachbrettwolke mit ihrem Vater Schach, als plötzlich alles in einem Unwetter auseinanderbricht und der Vater davonfliegt. Eine surreale Traumwelt, die die Unsicherheit des Lebens widerspiegelt. Bei einer zweiten Traumsequenz bleibt der Traum aber plötzlich stehen, und sie sie kann die Wand zur dahinter liegenden Welt durchbrechen, wo die Träume nicht erdacht, aber gemacht werden. Die surreale Welt bekommt auf einmal eine ganz mechanische Logik als schöpferische Grundlage.

Der deutsche Titel TRAUMZAUBERER ist leider wieder einmal daneben, denn der Witz an diesem Film ist doch, dass es hier nicht um Zauberei geht, sondern tatsächlich um das Erbauen, was der dänische Originaltitel DRØMMEBYGGERE ausdrücklich zu verstehen gibt. Um das Erbauen von Kulissen, von Dekors, um das Verkleiden von Schauspielern. All das lässt den Träumer sein Erlebnis real empfinden wie eine Filmfigur die Filmwelt. Denn im Grunde ist es eine große Traumfabrik. MINA ist auch ein Film über das Filmemachen, eine für Kinder verständliche Variation über das Thema Film als Traum. Und sowohl im Film als auch hier beim Träumemachen wiederholt sich ja das, was an sich im Großen stattfindet. Nach Paramahansa Yogananda ist „das ganze Universum Gottes kosmischer Film“.

Dieses riesige, sich in der Dunkelheit unendlich fortsetzende Studiouniversum ist das sehr einfallsreiche, aber nicht übervolle visuelle Schatzkästchen des Films. An langen Seilen hängen die Bühnen, die Drehorte in der Luft. Verbunden sind sie durch achterbahnartige Wagen und Schienen. Und alles ist analog, mechanisch-elektrisch, da werden noch klassische Hebel umgelegt. Die Bühnenarbeiter sind niedliche kleine Helferlein. Der Regisseur trägt in einer Art Mischung aus Feuerwehrmann und Astronaut seltsame mechanische Gerätschaft an sich. Einen Studioboss gibt es auch. Der mag es gar nicht, wenn das Drehbuch geändert wird, was aber auch wirklich katastrophale Folgen haben kann. Allerdings erfährt man nicht, wo, wie und warum die Drehbücher verfasst werden. Aber genau da setzt Mina ein. Sie verändert die Drehbücher für Jennys Träume, um deren Persönlichkeit zu ändern. Allerdings neigt das Opfer plötzlich zu abrupten Stimmungsumschwüngen. Aber es kommt noch schlimmer.

Regisseur Kim Hagen Jensen, die letzten 14 Jahre als Storyboard-Künstler tätig, legt mit MINA UND DIE TRAUMZAUBERER, nach einem Drehbuch von Søren Grinderslev Hansen, seinen ersten Langfilm vor. Vorher schuf er den Kurzfilm WILL-BOT IN ”FRIEND OR FOE?” (2013), eine WALL-E-Variation, dem beliebten Pixar-Roboter, der die verwüstete Erde aufräumt. Hier ist es ein misstrauischer Wachroboter, der mit einem auf den ersten Blick äußerst unheimlich wirkenden Riesenroboter am Ende freundschaftlich Metalldonuts knabbert. Was auffällt, ist die Vorliebe für weite, einsame Räume, hier das Sternenuniversum, dort die große dunkle Weite der Hintertraumwelt. Auch in MINA verarbeitet Jensen fremde populäre Einflüsse, aber auf eine originelle und persönliche Weise. Dass MINA mit seiner Thematik wie ein INCEPTION für Kinder wirkt, die Erkenntnis kann man auch in anderen Kritiken finden. Aber man spürt auch den Einfluss des großartigen Mexiko-Animationsfilms COCO (2017), wo ein Junge das Reich des Todes auf der Suche nach seinem Vater durchstreift, aber sich aufzulösen droht, als er zu lange dort bleibt. Die Mariachi-Musik in MINA scheint mir also kein Zufall zu sein.

Dienstag, 19. Mai 2020

Alice O'Fredericks' DET GÆLDER OS ALLE – Familienfilm mit Kriegskind


Der dänische Film DET GÆLDER OS ALLE (1949, dt.: Das betrifft uns alle) beginnt ganz authentisch, fast halbdokumentarisch. Im zerstörten Wien kümmern sich Mitarbeiter des Dänischen Roten Kreuzes um Kriegskinder. Eines der Kinder, ein Mädchen, bricht zusammen und eine Krankenschwester sorgt und kümmert sich ganz besonders um sie, denn sie kennt sie aus dem KZ, erzählt dem von Poul Reichhardt gespielten Arzt, wie die Kleine ihr einmal unter großer Gefahr das Leben gerettet hat, was in einer Rückblende gezeigt wird. Der Arzt sorgt für eine Pflegekind-Unterbringung bei seinem Onkel und seiner Tante in Dänemark, wo es den Menschen gut geht. Leidende Kinder, Krieg, Konzentrationslager, böse nationalsozialistische KZ-Weiber. Das hört sich zunächst nach grauem, düsterem Realismus der End-1940er an, der hier dennoch allenfalls eine weit entfernte Inspiration für den Ausgangspunkt des Films, für die Wahl des Themas gewesen ist.

Denn die Regisseurin ist Alice O'Fredericks, die Meisterin des populären Films, die in den 50ern mit ihren Familienfilmen zum erfolgreichsten Regisseur Dänemarks überhaupt aufstieg. Besonders die Reihen um FAR TIL FIRE, über einen alleinerziehenden Mittelklassevater von vier Kindern, und die Heimatfilme nach dem populären Autor Morten Korch waren immense Kassenschlager. Begonnen hatte sie ihre Regiekarriere in den 30ern, nachdem sie Assistentin von Lau Lauritzen sr. gewesen war, dessen Fy & Bi-Filme, Pat und Patachon, weltbekannt sind. Gemeinsam mit dessen Sohn Lau Lauritzen jr. amerikanisierte sie die dänische Komödie mit neuen Themen und mit Tempo.

An DET GÆLDER OS ALLE kann man sehen, dass sie aber durchaus einen Blick für und einen künstlerischen Hang zur sozialen Wirklichkeit hatte. Bei allen kritischen Maßstäben, die man an den Film anlegen kann, merkt man, dass das Thema ihr ernsthaft am Herzen lag. Aber sie wollte keinen Filmpreis gewinnen, sondern damit wirklich das dänische Volk erreichen. Also wurde daraus ein im Endeffekt typisch dänischer Familienfilm mit typischen Zutaten. Poul Reichhardt und Lisbeth Movin sind das Liebespaar. Ib Schønberg zieht als Vater seine Show ab in einer Rolle, die ihn nicht viel Mühe kostet. Und alles ist durch und durch vorhersehbar, denn es ist ein funktionaler Film, der sich sogar nebenbei einsetzt auch für die Unterbringung von deutschen Pflegekindern, wogegen es in der Bevölkerung, aber auch in den verantwortlichen Institutionen Widerstand gab.

Red Barnet (Rettet das Kind) hieß die wichtige Institution, die sich um ausländische Pflegekinder kümmerte und die eng mit dem Roten Kreuz zusammenarbeitete. Eigentlich eine schwedische Organisation, bekam sie 1945 auch eine dänische Abteilung, wo man sogleich mit der Hilfe begann, mit französischen und holländischen unterernährten Kindern. Aber es wurde eben auch heftig diskutiert, ob man deutschen Kindern helfen sollte. Und obgleich bei Kindern theoretisch keine Unterschiede gemacht werden sollten, war man zunächst der Ansicht, dass man mit den deutschen Flüchtlingen, die man am 4. Mai von der Besatzungsmacht übernehmen musste, genug für Deutschland unternahm. Solch eine Aussage tat die Vorsitzende Valborg Hammerich 1946, gab dann aber wenig versteckt ihre unideologische Position zu erkennen, indem sie von dringender Hilfe nicht nur für polnische, sondern auch für ungarische und österreichische Kinder sprach. Ungarn war eine Achsenmacht und Österreich war sieben Jahre gleichbedeutend mit Deutschland gewesen.

Im Entstehungsjahr des Films war die antideutsche Haltung langsam am Nachlassen. Südschleswigsche Kinder kamen nach Dänemark. 1950 empfing Red Barnet noch einmal 500 deutsche Kinder. Aber eigentlich ist DET GÆLDER OS ALLE kein wirkliches Portrait eines Flüchtlingskinds, anders als Leopold Lindtbergs schöner Film MARIE-LOUISE (1944) über die Zeit der Schweizer Hilfe für Flüchtlingskinder während des Krieges, die dann ausgesetzt wurde. O'Fredericks Film ist, wie der Titel es andeutet, eher ein Appell und eine Ermahnung an die Landsleute. Viele ihrer puren Unterhaltungswerke sind zwar rein filmisch besser, aber dieser Film hat konkrete, tagespolitische Bedeutung.

Und so wird den dänischen Zuschauern eine verbreitete Selbstgenügsamkeit, Selbstzufriedenheit vorgeführt, die sich nicht um das Elend im Rest der Welt kümmern will. Auch das österreichische Mädchen wird natürlich als Deutsche wahrgenommen und stößt auf teils hasserfüllte Ablehnung. Und man sieht, wie viel Mühe sich der Film macht, sie auch für den Zuschauer sympathisch zu machen. Dazu bedarf es, sozusagen, einer doppelten Konzentrationslagerglaubwürdigkeit: nicht nur sie selbst war im KZ, hat wie erwähnt einer Dänin geholfen; der Vater war als Regimegegegner auch im KZ und sein bahnbrechendes Weg gegen die nationalsozialistische Ideologie steht in der dänischen Übersetzung im Bücherregal einer Nachbarstochter. Eine ganze Menge, was Autor Svend Rindom hier auffahren musste, um das Mädchen mit Sicherheit akzeptabel zu gestalten. Gleichzeitig werden mögliche psychische Schäden der KZ-Zeit vernachlässigt, denn im Kern ist sie der reinste Sonnenschein, der die Familie bereichert. Sie hält den Dänen den beschämenden Spiegel vor, indem sie ihnen klarmacht, wie gut es ihnen tatsächlich geht.

Selbstverständlich braucht ein solcher Film eine Art Happy End, und wenn es auch im vom Krieg zerstörten Polen ist, wohin der von Reichhardt gespielte Rot-Kreuz-Arzt beordert wird. Also wird Lisbeth Movin, ursprünglich heftige Gegnerin des internationalen Engagements ihres Arzt-Verlobten, Schwester des Dänischen Roten Kreuzes und folgt ihm nach Polen. Wenn der Arzt nicht bei der Verlobten bleibt, muss die Verlobte eben zum Arzt kommen.