© Agnese Zeltina
Zumindest einen echten
Vorteil der Online-Ausgabe der Nordischen Filmtage Lübeck 2020 gab
es für mich. Ich hatte von zu Hause aus Ruhe und Gelegenheit, mit
vier schönen und gänzlich verschiedenen Filmen aus Lettland,
Schweden, Norwegen und Dänemark bei den Kinder- und Jugendfilmen
hineinzuschauen, was ich sonst immer versäume, denn irgendetwas
anderes vermeintlich Wichtigeres und Bedeutsameres gibt es ja immer.
Wobei bei Kinderfilmen noch das Problem hinzukommt, dass sie beim normalen
Festivalablauf im Kino deutsch eingesprochen werden und daher von
vornherein ausscheiden. Bei drei der vier hier besprochenen Filme
wäre dies laut Katalog der Fall gewesen.
JELGAVA 94
Der lettische Film JELGAVA '94 (2019) von Jānis Ābele beruht auf einem autobiografischen Roman von Jānis Joņevs
von 2014. Jonevs spaziert zwischendurch selbst durch den Film,
kommuniziert sogar mit seinem jüngeren Ich, wodurch der Akt des
Erinnerns und des kontinuierlichen Dialogs des Erlebten mit dem
Erinnerten sehr direkt und physisch in die Geschichte mit
hineingenommen wird. Aber vermutlich macht es auch Sinn wegen der
Popularität des Autors im Heimatland, wo er für seinen Roman
schließlich einen Literaturpreis bekommen hat.
Im
Mittelpunkt von JELGAVA '94 steht ein 14-jähriger braver Junge und
sehr guter Schüler mit perfektem Seitenscheitel, der sich hartnäckig
und mit Aufbietung seiner ganzen Intelligenz nach unten in die
Metal-Subkultur seines Provinznestes Jelgava arbeitet. Da, wo es
laut, heiter, provokakativ, dreckig und versoffen zugeht. Es ist die zeitlose Geschichte
einer Befreiung, einer individuellen Rebellion für die Ausweitung des
in engen Bahnen gesteuerten Ichs. Hier findet er eine lockere
Gemeinschaft fern ab vom braven Lernen und den sich ständig streitenden
Eltern in der Hochhaussiedlung. Nur mit den Mädchen klappt es immer
noch nicht so, wie er möchte. JELGAVA '94 wirkt
sehr authentisch, direkt, echt, zwischen sozial-nostalgischem
Realismus und humorvoller Coolness.
Es ist
sicher nicht beabsichtigt, aber der Film erschien mir wie eine
postsozialistische Antwort oder Verlängerung des 2019 auf der
Retrospektive der Nordischen Filmtage gezeigten litauischen Films DIE
KINDER VOM HOTEL AMERIKA (1990), wo im Jahre 1972 Vertreter der
US-inspirierten Jugendkultur es ernsthaft mit dem KGB zu tun
bekommen. Die Metal-Kids von 1994 stoßen allenfalls auf moralische
Entrüstung, die sich aber nicht mehr in Repression äußern kann.
Sonst sind die meisten Erwachsenen eigentlich guten Willens. Was den
Helden der Geschichte nicht davon abhält, aus dem vierten Stock zu
springen, um dem Hausarrest zu entgehen. Wie die meisten
Jugend-Subkulturen existiert man auch hier irgendwo zwischen heiliger
Idiotie und heroischem Widerstandsgeist. Der schlimmste Gegner der
Jugendlichen ist die provinzielle Populärkultur-Mangelwirtschaft. Da
trampt man extra in die Hauptstadt, um zu einem Heavy-Metal-Flohmarkt
im Wald zu gelangen, wo man LPs auf Cassette für die nächste Woche
bestellen kann. Metal-Veteranen reden derweil über
die Verhaftungen von früher, als wäre es ein Stück goldener
Erinnerung.
© Agnese Zeltina
SUNE –
BESTER MANN
Jan Holmbergs SUNE –
BESTER MANN / SUNE – BEST MAN (Schweden
2019) ist die Fortsetzung von SUNE VS SUNE (2018), wo es für
einen Viertklässler um die Frage des „wer bin ich eigentlich?“
ging. Das Ganze spielt sich ab in einer Familie mit drei Kindern und
dieser charmante und äußerst sympathische Film, der Humor mit
klassischen Familienwerten paart, lebt vor allem von der ständigen
Spiegelung der Kinder- mit den Elternproblemen, die voneinander gar
nicht so verschieden sind. Dazu kommen die fiktiven
Science-Fiction-Spiele des kleinen Bruders in einer imaginären
Marsumgebung, zu denen sich am Ende sogar der Vater gesellt.
Der Faden, der sich jetzt durch
die Handlung von SUNE – BESTER MANN zieht, ist die
Familienkrankheit, sich nicht entscheiden zu können. Sunes Dilemma
lautet: Pflicht oder Neigung, Familie oder Liebe, weniger tragödienhaft ausgedrückt:
Fährt er zur Hochzeit des Großvaters oder macht er den Schulausflug mit der Angebeteten?
Regisseur Holmberg geht hier nun einen ganzen Schritt weiter und
überträgt das in eine temporeiche Actionkomödie, die äußerst
bewegungsfreudig und witzig ist. Gäbe es bei den Filmtagen einen
sektionsübergreifenden Komödienpreis, dann hätte SUNE –
BESTER MAN ihn bekommen müssen. Die Story ist voll absurden Humors,
amüsant, pointiert und einfallsreich inszeniert. Die Figuren sind
allesamt etwas schräg, vor allem die seltsamen Erwachsenen, aber auf
nette Weise. Der kleine Bruder hat sich zu einem fast unheimlichen
Computer-Nerd-Genie entwickelt, das den manchmal etwas
orientierungslosen Sune durch so manches Labyrinth schleust. Da gibt
es auch zerstreute Polizisten, die wie die Enkel der
Pippi-Langstrumpf-Gendarmen wirken. Und als Belohnung für seine
unermüdlichen Mühen hat Sune am Ende plötzlich wie durch ein
Wunder zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Kiergekaard hatte
eben nicht recht mit seinem Entweder-oder, Sowohl-als-auch ist
durchaus möglich.
© Niklas Maupoix
Johanne
Helgelands FLUCHT ÜBER DIE GRENZE /
FLUKTEN
OVER GRENSEN (
Norwegen 2020) ist ein
Film über die Judenverfolgung im von der deutschen Wehrmacht
besetzten Norwegen. Der Film überzeugt durch die Verbindung von
spannender physischer Verfolgungsjagd, die einen zusätzlichen
ästhetischen und dramatischen Reiz durch die hügeligen tiefen
Schnee- und Waldlandschaften bekommt, und sehr subtile
Charakterisierungen. Denn FLUCHT ÜBER DIE GRENZE macht es sich nicht
leicht und vermeidet die Schwarzweißzeichnung.
Hauptfiguren sind zwei
Mal zwei Geschwister. Einmal Gerda und Otto, mit Eltern im
Widerstand, die verhaftet werden, dann die jüdischen Sarah und Daniel, die sich im
Keller der Familie versteckt halten. Gerda lebt ganz in ihrer
abenteuerreichen Fiktion, der Bruder ist klug und realistisch und hat
etwas zu viel antisemitische Propaganda der Jugendorganisation der
„Nationalen Sammlung“ im Kopf. Auf der anderen Seite der
misstrauische ältere Daniel mit Sarah.
Nach und nach raufen die vier sich zusammen, um die beiden Juden über die sichere Grenze nach Schweden hinüber zu bringen. So wird aus ihnen am
Schluss eine verschworene Musketier-Truppe. Das ist dann der Sieg der
sympathischen, heldenhaften Fiktion der Brüderlichkeit über eine menschenfeindliche,
totalitär-rassistische Konstruktion der Welt. Ganz besonders
unheimlich ist das moderne, eine geldgierige Spitzelin und
Kollaborateurin beherbergende, Hexenhaus mit unnatürlich viel Essen und einem
Bild Hitlers, statt eines Bildes von Satan, in einem Nebenzimmer. Von
konkreter Politik abstrahierend geht es so ganz einfach um das Böse
an sich.
LUCIA
UND DER WEIHNACHTSMANN 2
Bei Christian Dyekjærs
Fortsetzungsfilm LUCIA UND DER WEIHNACHTSMANN 2 /
JULEMANDENS DATTER 2 –
JAGTEN PÅ KONG VINTERS KRYSTAL
(Dänemark
2019), stellt sich zunächst einmal wieder
die rhetorische Verleihfrage nach dem deutschen Titel: Wieso kann es
nicht einfach wie im Original ”Die Tochter des Weihnachtsmanns”
heißen? Denn darum geht es hier: die Generationenfolge. Weihnachten ist hier nicht zuletzt ein bürokratischer Akt, der gelernt sein
will. Und da Kinder ja nicht erst seit Harry
Potter, sondern schon seit Hanni & Nanni oder den
Schreckenstein-Büchern Internate ganz toll finden, gibt es hier eine
magische Weihnachtsschule.
Und stand im ersten Teil
noch die gute, aber doch etwas spannungsbremsende
Gleichberechtigungsfrage in der Weihnachtsmannschule im Mittelpunkt,
darf hier jetzt die Story die Oberhand haben. Und auch wenn es hier
erneut nach Viborg geht, wenn auch nicht ganz so ausführlich, ist dieser Film visuell etwas künstlicher und damit
auch einfallsreicher. Das Prinzip, die fantastisch-magischen
Geschichten in realer Atmosphäre zu erzählen, behält man zwar zu
einem großen Teil bei, aber zum einen sieht der Zuschauer viel mehr
von der Weihnachtsmannwelt und zum anderen hat man ein surreales Universum des ewigen Eises entworfen. Und ein weiterer skurriler Höhepunkt
sind die Nachforschungen in dem Geschäft und dem Keller einer
Uhrmacherfamilie. Der Charme des Films liegt also zu einem großen
Teil diesmal im Theaterartigen der Dekors, wobei man auf die oft so
hässliche digitale Überfülle verzichtet. Das ergibt eine
niedliche, intime Atmosphäre mit vielen hübschen Einfällen.
Und war es im ersten Teil
eine verirrte Einzeltäterin, die relativ leicht zu besiegen war,
geht es jetzt gegen bedrohliche, lebensfeindliche, gut organisierte und grau gekleidete Kräfte des
Bösen, die Weihnachten und die Lebensfreude zerstören wollen. Dass
die Feinde von Weihnachten in Kellern und Höhlen unter einer Kirche, dem Dom zu Viborg,
hausen und mönchsartig herumlaufen, hat zwar etwas Merkwürdiges,
passt aber zu einem Film, der sich sowieso nicht für die wahren
Hintergründe eines christlichen Festes interessiert. Die bösen Asketen
haben aber lustige Prinzipien, denn vom Essen muss man kotzen müssen. Und
wie bei den meisten Moralpredigern lebt hier die Heuchelei, denn der
Anführer isst statt Brechbrei lieber Hähnchenkeulen. Mit
Wissenschaft und Magie schneit es am Ende sogar, wo es doch aber
sofort schmilzt auf dem Boden. Eigentlich bräuchte man ja
zusätzlich eine Kaltmach-Maschine. Aber vielleicht gibt es die ja im
dritten Teil.
Nachbemerkung: Die
Zwischenexistenz von Jugendfilmen
2019 gab es auf deutschen
Festivals, auch auf den Filmtagen Lübeck, den norwegischen Film
PSYCHOBITCH (2019) von Martin Lund zu sehen, der vorwiegend in Jugendfilm-Sektionen
gezeigt wurde und dann Ende des Jahres den Preis des online
stattfindenden ArteKino-Wettbewerbs gewann. Das veranlasste den
damaligen Chefredakteur der französischen Filmzeitschrift Cahiers du
Cinéma, Stéphane Delorme, dazu, eine grundsätzliche Kritik an der
problematischen Zwischenexistenz von Jugendfilmen zu formulieren. Der
folgende Absatz beinhaltet diesen interessanten Teil seiner Rezension
in deutscher Übersetzung, auch wenn es natürlich eine vorwiegend
französische Perspektive ist.
„Dass der Film, mit
Erfolg also, auf ArteKino gezeigt wurde, offenbart zwei Dinge. Zum
einen das schlechte Los, dass Jugendfilmen oft auf Festivals
reserviert ist. Der Film wurde zum ersten Mal anlässlich der
Berlinale 2019 präsentiert (bevor er seine französische Premiere
auf dem Festival von La Roche-sur-Yon hatte), aber nur in der Sektion
Generation (für ein junges Publikum), wo man übrigens ebenso Eine
Kolonie der Quebecerin Geneviève Dulude-De Celles finden konnte,
als wenn Filme „über die Teens“ keinen Zugang zum großen Becken
des Berliner Wettbewerbs oder des Forums hätten. Dieses Konzept des
„jungen Publikums“ ist schädlich: das war dasselbe Problem mit
Königin von Niendorf , den
wir bei seinem Start 2018 verteidigt haben, der aber nur in Hamburg
gezeigt wurde und nicht über den Verleihweg „Junges Publikum“
bei Les Films du préau herauskam. Wenn nun Filme über die
Jugendzeit auf dieses Verleih-Netzwerk beschränkt sind, ist man dazu
verurteilt, nur amerikanische Teen Movies zu
sehen und nichts darüber zu verstehen, was in den Köpfen der jungen
Leute auf der ganzen Welt ausgeheckt wird.“ (Cahiers du Cinéma 2/2020)
P.S.:
Gerechterweise sollte Folgendes angemerkt werden: Auf dem Filmfest
Hamburg 2019 war PSYCHOBITCH ebenfalls im Programm. Dort war er zwar
in der jungen Sektion „Michel“ zu sehen, aber eben auch
gleichzeitig bei „Eurovisuell“. Er war nominiert sowohl für den
„Michel Filmpreis“ als auch für den breiteren „Commerzbank
Publikumspreis“. Ein Beispiel also für eine angemessene doppelte
Kategorisierung.